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b e g u i l e
februar 2014
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Allison || Harry umklammert meine Hand so fest, als wäre ich seine Rettungsleine. Doch das kann ich nicht sein, nicht heute, während alles in mir schreit, einfach wegzurennen und nicht mehr zurückzuschauen. Als ich jedoch zu meinem Freund herüberblinzele, wird mir bewusst, dass mir nichts anderes übrigbleibt.
„Wie kann ich euch helfen?", fragt die Frau an der Haustür mit einem kleinen Lächeln, während ihre wilde Mähne durch die Luft gewirbelt wird. „Normalerweise nehme ich keine Notfallpatienten an."
„Notfallpatienten?", meine ich schließlich, als mir klar wird, dass Harry nichts sagen wird.
Mein Freund sieht aus, als hätte ihn jemand geschlagen und ich würde alles tun, um diesen Ausdruck aus seinem Gesicht zu wischen.
Beruhigend streiche ich ihm mit dem Daumen über den Handrücken, lasse ihn mit meinen Fingern spielen, was ihn meistens zu beruhigen scheint.
Braune Augen werden ein wenig kleiner, als die Frau uns mustert. „Für die Paartherapie."
Sie nickt in Richtung eines Plastikschildes, das behelfsmäßig über dem Klingelschild ,Styles' fixiert wurde. Es ist nicht besonders auffallend, aber dennoch groß genug, sodass ich die Worte nun leicht entziffern kann, als wir darauf aufmerksam gemacht wurden.
Bethany Reynolds – Praxis für Paartherapie, Konfliktberatung und Coaching.
„Ich glaube, das ist ein Missverständnis", sage ich langsam. „Wir sind nicht hier, weil wir eine Paartherapie laufen. Unsere Beziehung läuft eigentlich. Wir –"
„Ich bin Harry", unterbricht mein Freund mich und zögert dann kurz, nicht sicher, was er noch sagen soll. „Des' Sohn."
Endlich macht sich Verständnis auf Bethanys Gesichtszügen breit. „Aber natürlich doch. Kommt doch rein", erwidert sie mit einem breiten Lächeln und reißt dann die Haustür weiter auf, damit wir eintreten können. „Weiß Des, dass ihr vorbeischaut?"
Ich sehe unsicher zu Harry herüber, der hörbar schluckt. „Dad hat uns eingeladen. Hat er das denn nicht erzählt?"
„Natürlich hat er das", erwidert Bethany so eilig, dass ich mir nicht sicher bin, ob es nicht eine Lüge ist. „Ich hatte es einfach vergessen, aber natürlich hat er das. Lasst uns doch schon einmal ins Wohnzimmer gehen. Des kommt sicherlich jede Sekunde."
Während wir durch den durchaus großen Hausflur wandern, der sich unendlich weit erstrecken zu scheint, mustere ich unauffällig meine Umgebung. Doch während unser Flur zuhause von Bilder überseht ist und in jeder Ecke Leben ausstrahlt, kommt mir dieser so unpersönlich vor wie eine Arztpraxis. Er ist in sterilem Weiß gehalten und kein einziger persönlicher Gegenstand ist zu sehen. Man könnte ihn direkt für eine Zeitschriftenwerbung ablichten, wäre da nicht eine bunte Handtasche auf der glänzenden Kommode.
„Wirklich schön haben Sie es hier", sage ich pflichtbewusst zu Bethany, weil ich die Stille nicht mehr ertragen kann.
Als sie sich zu mir umdreht, funkeln ihre Augen amüsiert. „Es ist schrecklich, aber ich habe Des bisher noch nicht überzeugen können, hier irgendwas zu ändern."
Ich nicke bloß, weil ich nicht weiß, was ich sagen kann, ohne niemanden vor den Kopf zu stoßen.
„Dad steht nicht so auf Fotos. Er findet, dass sie zu viel verraten", erklärt Harry, während wir in das Wohnzimmer herübergehen, das fast so groß ist wie das in dem Haus meines Freundes. Auch hier wirken die Möbel überaus modern, aber irgendwie total unpersönlich.
„Was Schwachsinn ist, wenn ihr mich fragt", kommentiert Bethany und bedeutet dann uns lächelnd, dass wir uns doch setzen sollen. „Was wollt ihr beiden denn trinken?"
„Ein Wasser wäre gut", entgegnet Harry mit einem Lächeln.
Stirnrunzelnd sehe ich ihn an, sobald Bethany in Richtung Küche verschwunden ist. „Warum hast du mir nicht erzählt, dass dein Vater eine Freundin hat?"
„Weil ich es nicht wusste. Er hat mir nicht von ihr erzählt", flüstert er zurück und sieht vollkommen verloren aus, mit herabgesunkenen Schultern und leerem Blick. Dann räuspert er sich. „Aber er wechselt Freundinnen sowieso am laufenden Band. Also gewöhne dich lieber nicht zu sehr an sie."
Ich nicke, weil ich nicht wirklich weiß, ob es das besser macht. Aber Harry scheint es so zu sehen, weswegen ich ihm meine Gedanken nicht mitteile.
Bethany kommt mit leichten Schritten wieder ins Wohnzimmer geflogen und verteilt Wassergläser zwischen uns. Das vierte Glas auf dem Couchtisch macht umso deutlicher, dass Harrys Vater immer noch nicht aufgetaucht ist.
„Ich habe euch ein wenig Zitrone mit reingetan. Das ist gut für die Haut. Ich hoffe, dass ist okay?"
„Super", versichert Harry eilig, auch wenn er Zitrone überhaupt nicht abkann.
Ich nicke zustimmend und nippe pflichtbewusst an meinem Glas, deren Inhalt zugegebenermaßen wirklich gut schmeckt.
„Das ist übrigens Ally, meine Freundin", stellt Harry mich vor, als ihm bewusst zu werden scheint, dass wir die Vorstellung noch nicht getan haben. „Al, das Bethany?"
Die Frau lächelt, als würde ihr das Fragezeichen am Ende nicht auffallen und schüttelt uns beiden die Hand. „Ich bin Des Freundin. Aber ihr könnt mich ruhig Betty nennen."
„Betty", wiederholt Harry langsam, lässt die Buchstaben über seine Zunge tanzen, als müsste er sich erst noch darüber klar werden, ob sie ihm schmecken. „Wie lange bist du denn schon mit meinem Vater zusammen?"
„Alles noch ganz frisch. Aber wir sind ja nicht mehr die jüngsten, weswegen wir direkt zusammengezogen sind. War einfacher auf diese Art." Betty zwinkert Harry zu. „Auch wenn dein Vater manchmal nicht ganz einfach ist, hat er doch eine sehr liebenswürdige Art."
Harry nickt und wechselt einige Belanglosigkeiten mit der neuen Freundin seines Vaters, während ich meinen Blick durch das Wohnzimmer wandern lasse. Der Knoten in meinem Bauch löst sich ein wenig auf, als ich einige Fotos auf dem Karminsims stehen sehe. Es sind nicht viele, aber jedes von ihnen zeigt Kinderfotos von Harry und Gemma. Mal gemeinsam, mal alleine, mal gemeinsam mit ihrem Vater zusammen. Meist sind sie verkleidet oder sitzen am Esstisch, doch immer haben sie ein breites Lächeln im Gesicht.
Selbst von hier kann ich durch einige Fotos erkennen, dass Harry seinem Vater wirklich ähnlich sieht. Auf den ersten Blick hat er mehr Gemeinsamkeiten mit seiner Mutter, doch jetzt fällt mir auf, dass mein Freund mit seinem Vater ebenfalls einiges teilt. Die Lachfältchen um die Augen herum sind eindeutig dieselben und auch seine Haare hat Harry von Des geerbt.
„Wie war denn euer Karibikurlaub? Dad hat gesagt, dass Weihnachten dort wirklich schön gefeiert wird?", erkundigt sich mein Freund derweil höflich bei Bethany.
Ein dunkler Schatten huscht über die Augen der Frau. „Nein, das war ich nicht. Da war er mit jemand anderem."
Harry und ich schweigen, weil wir absolut keine Ahnung haben, was wir sagen sollen. Die Stille frisst mich auf, doch als ich zu ihm herüberschiele, sehe ich, dass er auch keine Worte hat. Stumm schiebt er seine Finger in meine und drückt sie leicht.
„Dass du Sänger bist, hat dein Dad mir schon erzählt, Harry", durchbricht Bethany schließlich die Stille, in dem Versuch, wieder in unverfängliches Gebiet zu kommen. Mein Freund zuckt zusammen, weil er nun Fragen zu seinem Leben erwartet, doch sie überrascht uns beide, als sie ihm nur ein Lächeln schenkt und stattdessen mich ansieht. „Was machst du denn so, Ally?"
„Ich studiere an der Uni Westminster", entgegne ich.
„Da wollte ich vor Jahren auch mal studieren, aber dann hat es mich doch nach Oxford verschlagen"; meint Bethany und sieht mich aufmerksam an. „Was genau studierst du denn?"
„Literaturwissenschaften."
Ich sinke unmerklich auf dem Sofa zusammen, denn ich habe in den letzten Monaten die Erfahrung gemacht, dass viele mein Studienfach belächeln oder mich direkt grundheraus fragen, ob ich denn weiß, dass ich damit wahrscheinlich arbeitslos auf der Straße landen werde.
Bethany jedoch sieht mich einfach nur neugierig an und erkundigt sich nach meinem bisherigen Lieblingsmodul. Ich erzähle ein wenig, bringe aber nicht allzu viele Wörter über die Lippen, weil mich Small Talk immer schon gelähmt hat. Harry drückt beruhigend meine Hand und stellt dann glücklicherweise die nächste Frage, die von mir ablenkt.
„Da ist Des ja schon", sagt Bethany eine halbe Stunde später erleichtert, als sich endlich ein Schlüssel im Schloss dreht.
Stumm hören wir dabei zu, wie Harrys Vater seine Schuhe auszieht und diese dann verstaut, bevor er ins Wohnzimmer herübergeht.
Sobald er uns auf dem Sofa sitzen sitzt, bleibt er überrascht stehen. Eine Hand fährt durch die grauen Haare, doch während sein Sohn dies meistens tut, wenn er nervös ist, wirkt Des vielmehr überfordert mit der Situation, während er uns mustert. „Harry? Was machst du denn hier?"
Mein Freund zuckt kurz zusammen und ich drücke beruhigend seine Hand, an die er sich klammert, als wäre ich seine Rettung.
„Du hast mich eingeladen", murmelt Harry, ein wenig leiser als gewöhnlich. Einzig daran erkenne ich ihn, wie sehr ihn die Frage trifft, denn äußerlich wirkt er vollkommen selbstsicher. Doch ich habe mittlerweile gelernt, dass vieles bei ihm einfach eine Fassade ist, die er sich zugelegt hat, um in der Öffentlichkeit überleben zu können. Nie hätte ich jedoch gedacht, dass er diese auch bei seinem Vater würde aufsetzen müssen.
„Ach ja, natürlich", entgegnet Des lächelnd, woraufhin mein Freund neben mir fast unhörbar ausatmet. Die Anspannung entweicht seinen Schultern.
„Entschuldige, ich hatte diese Woche so viel Stress, dass ich es einfach vergessen habe. Weißt du, wir haben da dieses riesige Projekt in Aussicht, dass ist so erfolgsversprechend, das bringt Millionen ein."
„Das hört sich toll an, Dad", meint Harry.
„Ich erzähle dir beim Essen mehr dazu, ja? Ich bestelle uns einfach eine Pizza. Irgendwelche Wünsche? Betty? Harry?" Er stockt, als er mich ansieht.
„Ally. Ich bin Harrys Freundin", kläre ich ihn leise auf und schüttele ihm die ausgestreckte Hand, wobei ich hoffe, dass er nicht spüren kann, wie sehr ich schwitze.
„Ally also." Des nickt mir zu und hört sich dann unsere Wünsche an, während ich mich wieder aufs Sofa fallen lasse.
Sobald ich wieder sitze, legt Harry mir beruhigend einen Arm über die Schulter und ich lehne mich kurz an ihn, um ihm zu zeigen, dass ich ihm dafür wirklich dankbar bin.
Sein Vater gibt unsere Bestellungen lautstark an die Pizzeria weiter und klappt dann sein Handy wieder zu.
„Die Pizza sollte in zwanzig Minuten hier ankommen", meint Des schließlich, als wir alle einen Augenblick von einem unangenehmen Schweigen überwältigt wurden.
„Das hört sich toll an." Bethany klingt eindeutig begeisterter als nötig wäre über diese Mitteilung, aber ich bin ihr dankbar dafür, dass sie die Stille auslöscht. „Wie war denn dein Arbeitstag?"
Des lässt sich seufzend neben seiner Freundin auf das Sofa fallen. „Furchtbar anstrengend. Ich schwöre, manche Menschen wissen einfach nicht, was wirklich arbeiten bedeutet und meinen dann, dass man alles nur halbwegs erledigen kann."
„Das hasse ich auch immer", bestätigt Harry euphorisch, woraufhin ich ihn stirnrunzelnd mustere, weil er mir erst neulich noch erzählt hat, dass er sich ein eindeutig besseres Life-Work-Balance-Verhältnis wünscht.
Er bemerkt meinen Blick jedoch nicht einmal, sondern erkundigt sich stattdessen nach dem neuesten Arbeitsprojekt seines Vaters.
„Das ist ein ganz neuer Meilenstein, das sage ich euch", erzählt Des mit funkelnden Augen. „Mit sehr viel umweltbewusstem Material, was sich ganz sicher gut in der Presse macht. Es gibt da diesen einen Sandstein, der im Bauhandel momentan richtig gut ist. Und die Rendite, die das Projekt abwirft, ist wirklich einiges."
Ich versuche wirklich zuzuhören, als Harrys Vater von seinem neuesten Immobilienpark berichtet, aber ich muss ehrlicherweise zugeben, dass ich nur die Hälfte verstehe. Und der Teil, den ich verstehe, weckt mein Interesse nur bedingt. Dennoch tue ich so, als wäre ich total im Thema und hoffe einfach, dass es nicht auffällt. Harry wirft immer mal wieder etwas ein, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass er ebenfalls keine große Ahnung hat.
Bethany hingegen verdreht nach einer Zeit lang bloß die Augen und sieht Des mit einem Lächeln an. „Das hört sich wirklich alles toll an, Schatz. Aber meinst du nicht, dass wir deine Arbeit mal links liegen lassen sollten?"
Des wirkt kurz irritiert, nickt dann aber und lässt seinen Blick musternd über mich wandern. Ich muss mich zwingen, um nicht zusammenzusinken, denn ich hasse nichts mehr, als Musterungen unterzogen zu werden.
„Also Ally, du bist also Harrys neue Freundin?"
„Ja, Sir."
„Wir sind bereits seit einem Jahr zusammen, Dad", wirft Harry ein. „Und kennen uns schon länger. So ganz neu ist das also nicht. Ich habe dir doch bereits von Ally erzählt."
„Natürlich", meint Des mit einem kleinen Lächeln. „Jetzt erinnere ich mich wieder. Wie habt ihr euch denn kennengelernt?"
„In einem Club."
Zwei Falten bilden sich auf Des' Stirn, die Harrys Grübelfalten so sehr ähneln, dass ich am liebsten lächeln würden, wenn er mich nicht so merkwürdig mustern würde.
„Findest du nicht, dass vernünftige Mädchen nichts in einem Club zu suchen haben, Ally?", fragt er schließlich.
Ich räuspere mich mit roten Wangen. „Ich habe ihn dort nur abgeholt", murmele ich leise.
„Außerdem wäre auch nichts Falsches daran, wenn Al im Club gewesen wäre." Harry legt seine Hand auf meinen Oberschenkel. „Da sind auch normale Frauen, Dad."
Des nippt an seinem Wasserglas. „Also gehst du in Clubs, wenn Harry auf Tour ist, Ally?"
Hektisch versuche ich, eine Antwort zu finden, die genügt. Doch meine Gedanken wirbeln und ich weiß einfach nicht, was ich überhaupt sagen soll. Die ganze Situation und Aufmerksamkeit überfordert mich total.
„Meistens nicht", sage ich schließlich und versuche möglichst unauffällig meine schwitzenden Hände am Sofa abzuwischen. Leider ist es aus Leder, was das Unterfangen sehr viel schwieriger macht. „Ich bin nicht so der Partygänger."
„Und selbst wenn, wäre da ja auch absolut nichts Falsches dran", wirft Bethany ein und schenkt mir ein Lächeln, das ich unsicher erwidere.
Des nickt gnädig. „Vielleicht hat sich die Clubszene seit meiner Zeit auch einfach geändert."
„So alt bist du doch auch noch nicht, Dad", grinst Harry. „Außerdem hast du Mum damals auch im Club kennengelernt."
Des schnaubt. „Und genau das war wahrscheinlich das Problem."
Innerlich schreie ich und erwarte, dass Harry etwas sagt, um seine Mutter zu verteidigen. Doch er sitzt nur stumm neben mir.
„Wie wäre es, wenn wir schon einmal den Esstisch decken?", schlägt Bethany eilig vor.
Harry und ich helfen ihr dabei, die Teller zu verteilen, während Des eine Flasche Wein aus dem Keller holt. Als wir dann schließlich auch das Besteck auf dem riesigen Esstisch hinlegen, klingelt der Pizzabote. Des öffnet ihm und bezahlt, bevor Bethany dann die Pizzen herumreicht.
Die ersten Minuten ist es merkwürdig still, während alle essen, was mich nur noch nervöser werden lässt. Harry jedoch wirkt völlig entspannt, weswegen ich glaube, dass es nur daran liegt, dass bei uns Zuhause am Esstisch grundsätzlich wild durcheinandergeredet wird. Wahrscheinlich ist das also einfach nur eine Eigenart meiner Familie und diese Situation hier gerade gar nicht so merkwürdig. Dennoch bringt es mein Herz dazu, vor Unsicherheit noch schneller zu schlagen.
„Als was arbeitest du denn, Ally?", erkundigt sich Des schließlich bei mir, nachdem wir alle unsere Pizzen vernichtet haben. Einzig Harry knabbert an meinem übriggebliebenen Stück, was er mir mit einem Grinsen geklaut hat.
„Ich arbeite nicht, Sir", entgegne ich, nachdem ich hastig das Wasser heruntergeschluckt habe, was ich eigentlich gerade trinken wollte. „Ich studiere."
Des nickt mir anerkennend zu. „Das ist gut. Bessere Zukunftschancen, das habe ich meinen Kindern auch immer gesagt. Immerhin hat zumindest Gemma auf mich gehört."
Ich werfe einen Seitenblick zu Harry, doch abgesehen von seinen abgespannten Schultern wirkt er wie die Ruhe selbst. Dennoch kommt kein Wort über seine Lippen. Während ich noch debattiere, ob ich mich traue, etwas zu sagen, übernimmt Bethany das bereits für mich.
„Ich glaube nicht, dass Harry sich um seine Zukunft Sorgen machen muss", meint sie schlichtend.
Des winkt mit seinem Weinglas so hektisch durch die Luft, dass ich Angst habe, dass sich der Rotwein auf dem hölzernen Esstisch verewigt. „Jetzt noch nicht, aber was ist wenn seine Musik irgendwann nicht mehr einschlägt? Die Welt ändert sich und das Musikbusiness ist alles andere als sicher."
Harry fährt sich durch die Haare. „Es läuft momentan wirklich gut, Dad."
„Das weiß ich", entgegnet dieser mit einem anerkennenden Lächeln. „Und das freut mich auch."
Mein Freund atmet erleichtert aus.
„Was genau studierst du denn, Ally?" Fragend sieht Des mich an, das Weinglas immer noch zwischen seinen Händen kreisend.
„Literaturwissenschaften."
Harrys Vater mustert mich und ich weiß genau, was dieser Blick bedeutet. Er muss es nicht aussprechen, die Gedanken stehen ihm offen ins Gesicht geschrieben.
„Das ist wirklich kein –"
„Will vielleicht irgendwer Nachtisch?", unterbricht Bethany ihren Freund eilig.
Ich sehe auf meinen leeren Teller herunter. „Nein Danke."
„Und dein Vater?", fragt Des mich, als ich beinahe die Hoffnung hatte, dass er die Aufmerksamkeit von mir abwendet. „Als was arbeitet der?"
„Mein Vater ist Reisefotograf."
„Ein wirklich guter", wirft Harry ein und ich schenke ihm ein kleines Lächeln.
„Reisefotograf", murmelt Des und zuckt dann mit den Achseln, bevor er zu meinem Freund herübersieht. „Wie läuft es denn so mit deiner Musik, H?"
Diesen Spitznamen über seine Lippen fliegen zu hören, ist zunächst merkwürdig in meinen Ohren. Ich bin es gewöhnt, ihn liebevoll aus dem Mund von Anne kommen zu hören.
„Dienstag fliegen wir nach Los Angeles, um an dem neuen Album zu arbeiten", erzählt Harry.
Ich muss über die Begeisterung in seiner Stimme lächeln, denn immer, wenn er von seiner Arbeit erzählt, merkt man, wie sehr er die Musik wirklich liebt.
„Habt ihr schon ein paar Songs geschrieben?", erkundigt sich Bethany mit sanfter Stimme.
Harry schenkt ihr ein Lächeln. „Ein paar Versuche gibt es bereits, aber noch nichts Ernsthaftes. Wir Jungs hatten bisher noch keine Zeit."
„Also schreibt jemand anderes für euch?", stellt Des stirnrunzelnd fest.
Mein Freund sinkt ein wenig weiter auf seinem Stuhl zusammen. „Nicht nur, Dad."
Ich hasse es, Harry so zu sehen. Es ist, als könnte ein einziges Wort seines Vaters ihn direkt zerstören, so sehr wünscht er sich dessen Anerkennung.
„Weißt du, es ist wichtig, dass man auch mal was alleine auf die Reihe kriegt", entgegnet Des überzeugt. „Das hat deine Mutter nie verstanden, aber vielleicht ist bei dir ja noch nicht alle Hoffnung verloren."
„Ich werde was alleine schreiben", meint Harry eilig.
„Das ist gut. Man muss auch alleine mal was erreichen." Des nippt genüsslich an seinem Weinglas und schenkt sich dann erneut ein, bevor er uns fragend ansieht. „Will noch jemand ein wenig Wein?"
„Nein Danke", meinen Harry und Bethany zeitgleich. Ich schüttele bloß stumm den Kopf und wünsche mir einfach, dass dieses Essen endlich ein Ende findet.
Als Bethany anfängt, abzuräumen, springe ich eilig auf, um ihr zu helfen. Zum einen, weil ich sie nicht alles alleine machen lassen will, zum anderen weil ich einfach froh bin, eine Weile zu entkommen. Sie ist eine eindeutig nettere Zeitgenossin als Des Styles, dem Harry wie an den Lippen hängt, während er von seinem letzten Urlaub schwärmt.
„Hast du Geschwister, Ally?", erkundigt sich Bethany beiläufig, während wir die Spülmaschine einräumen.
„Zwei Brüder, einen älteren und einen jüngeren."
„Das ist manchmal eine echte Strafe, oder? Ich habe gleich drei und manchmal ist das wirklich nicht so einfach", lacht sie.
Mit einem kleinen Lächeln stimme ich ihr zu und bin froh, dass sie daraufhin den Großteil der Konversation übernimmt, während sie Geschichten aus ihrer Kindheit erzählt. Sie ist wirklich liebenswürdig und ich frage mich, wie sie gerade mit Des zusammen sein kann. Aber vielleicht tue ich Harrys Vater auch unrecht und er hat einfach einen stressigen Tag gehabt. Vielleicht ist er normalerweise ganz anders drauf.
Nachdem wir aufgeräumt haben, machen Bethany und ich es uns mit einer Schachtel Schokolade in der Küche gemütlich, weil sie schwört, dass eine Nachspeise zu jedem Abendessen dazugehört.
„Je schokoladiger, desto besser", meint sie und streckt mir grinsend ein Stück entgegen.
„Eindeutig", stimme ich zu.
Dann erzählt sie ein wenig von ihrem frühren Psychologie-Studium, was wirklich interessant ist. Als Harry jedoch schließlich zu uns in die Küche kommt, bin ich dennoch erleichtert, weil ich genügend Small Talk für die nächsten vier Monate geführt habe.
„Alles okay, Al?", fragt er mich leise.
„Ja klar", entgegne ich. Kurz will ich mich zu einem Lächeln zwingen, aber es würde ohnehin verrutschen. „Ich bin einfach nur müde."
Mein Freund verschränkt die Arme um meinen Hals und drückt mir einen Kuss auf die Haare. „Dann lass uns gehen, okay?"
Wir verabschieden uns von Bethany, die uns in eine herzliche Umarmung zieht, und Des, der für Harry einen Schulterklopfer und mich einen kurzen Händedruck übrig hat. Dann legt Harry mir seine Arme über die Schulter und führt mich zum Auto herüber. Als wir losfahren, winkt Bethany uns zu. Harrys Vater ist bereits wieder im Inneren verschwunden und ich sehe, wie Harrys Lächeln kaum merklich verrutscht.
Ich hasse es, diesen leeren Ausdruck in seinen Augen zu sehen und verschränke unsere Finger miteinander, auch wenn ich weiß, dass das nicht viel helfen wird. Er wirft mir dennoch ein dankbares Lächeln zu.
„Ich verstehe jetzt, warum du mich nicht eher zu deinem Vater mitgenommen hast", durchbreche ich schließlich die angenehme Stille zwischen uns, in dem wir uns auf die Lieder konzentriert haben, die durch das Auto schallen. Ich liebe die Stereoanlage in Harrys Auto, weswegen ich ihn schon mehr als einmal dazu gebracht habe, noch eine extra Runde zu drehen, damit ich einen Song noch zu Ende hören kann. Daraufhin lacht er jedes Mal, macht es aber dennoch immer.
„Dein Vater ist –"
„Nicht einfach?", schlägt Harry vor, als ich nichts sage.
Das wären nicht die Worte, die ich als erstes verwendet hätte, aber weil ich ihn nicht verletzen will, nicke ich bloß. Harry bewundert seinen Vater aus irgendeinem Grund, den ich noch nicht ganz herausgefunden habe. Ich glaube, es liegt daran, dass er sich einfach nach einer Vaterfigur sehnt und will, dass dieser stolz auf ihn ist.
Dass sein Vater sich dabei alles andere als nett verhält, ignoriert er vollkommen. Die Vermutung habe ich bereits gehabt, als mir aufgefallen ist, wie sehr er Harrys Anrufen immer ausweicht und seine Geburtstage vergisst. Aber jetzt bin ich mir ziemlich sicher, dass Harry einen besseren Vater verdient hätte.
„Nicht einfach", wiederhole ich also bloß leise.
Dann wechsele ich das Lied und lächele, als mein Freund es extra völlig schief mitsingt. Irgendwann stimme ich ebenfalls mit ein und die nächsten Minuten sind mit unseren Stimmen erfüllt, die sich einen Kampf liefern.
„Zu mir oder zu dir?", erkundigt sich Harry schließlich, während er den Wagen über die Straße in Richtung Innenstadt steuert.
Es ist bereits später Abend, dennoch können wir uns in bestimmten Gegenden kaum schneller als mit Schrittgeschwindigkeit bewegen.
„Dein Bett ist doppelt so groß wie meines, Hazza. Also ist das doch keine wirkliche Frage."
„Ich mag es, wenn du dich nachts an mich quetschst", entgegnet er lachend.
Augenverdrehend stupse ich ihn an. „Lass uns trotzdem zu dir gehen."
„Louis ist aber da."
„Und Helen ist bei mir."
Harry wirft mir einen Blick zu. „Weißt du, wie sehr ich mich darauf freue, wenn wir meine Wohnung endlich für uns alleine haben, sobald Lou ausgezogen ist?"
„Ich ziehe nicht bei dir ein", erinnere ich ihn mit sanfter Stimme.
„Das meine ich doch auch gar nicht. Aber einfach ein paar Tage nur wir beide alleine in einem Haus hören sich doch verlockend an, oder?"
Lächelnd nicke ich. „Ja, das tut es wirklich."
„Sobald Louis ausgezogen ist, verbringen wir beide ein Wochenende ganz alleine bei mir ohne das Haus zu verlassen", grinst Harry.
„Versprochen?"
Er lächelt. „Versprochen."
Ich wünschte, dass ich ihm glauben könnte, aber er hat in letzter Zeit mehr Versprechen gebrochen, als ich zählen kann. Dennoch klammere ich mich an den Funken Hoffnung, dass es dieses Mal anders ist.
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Hallo ihr Lieben,
Ich weiß, dass momentan viele von euch Ferien haben, aber es würde mich doch echt freuen, wenn sich mehr als 2 Leute zu den Kapiteln melden.
Wenn ihr nicht kommentiert, weil euch was stört, könnt ihr mir das ebenso sagen. Ich kann mit Kritik umgehen.
Umso mehr Dank deswegen an die Leute, die sich letztes Mal gemeldet haben!
Was haltet ihr von Harrys Dad?
Denkt ihr, dass Harry sich seinem Vater gegenüber richtig verhält?
Bis zum nächsten Mal.
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