29 | resplendent

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r e s p l e n d e n t

november 2013

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Allison || Harry verteilt federleichte Küsse auf meiner Haut und ich muss zugeben, dass es keine schönere Art gibt, geweckt zu werden. Dennoch weigere ich mich, die Augen aufzuschlagen, denn frühe Morgen sind noch nie meine Lieblinge gewesen, selbst wenn Harrys Lippen zaubern können.

„Aufwachen, Al", lacht mein Freund und zieht mich in seine Arme, bis ich ihn schließlich doch ansehe.

Grüne Augen treffen auf meine, verschlafene Ringe um sie herum, leichte Bartstoppeln befinden sich an seinem Kinn und seine Haare sind vollkommen durcheinander. Ich habe noch nie etwas Wunderschöneres gesehen.

„Bisschen." Ein Kuss auf meine Wange. „Bessere." Ein weiterer Kuss, dieses Mal auf meine Stirn. „Laune, bitte", flüstert Harry, bevor er seine Lippen auf meinen Mund legt.

Sofort muss ich lächeln, was ein zufriedenes Grinsen in sein Gesicht zaubert. „So gefällst du mir direkt viel besser, Al."

„Ach ja?", murmele ich leise, weil ich die Stille des Tages noch nicht zerstören will. Noch leben wir in unserer Traumblase, fernab von all der Hektik und den Realitäten der Großstadt. In einem Leben, in dem es nur wir beide gibt und das schon bald auf schmerzhafteste Weise wieder explodieren wird.

„Weißt du, wie du mir noch besser gefallen wirst?"

„Wie?", murmele ich.

Harrys Fingerspitzen fahren über meine Oberschenkel, während er bewusst unschuldig schaut. Vor ein paar Monaten wäre ich noch darauf hereingefallen, heute jedoch kenne ich ihn gut genug, um genau zu wissen, was er vorhat.

„Ganz nackt in meinem Bett", meint er mit einem frechen Grinsen.

Lachend drücke ich ihm gegen den Oberkörper, um ein wenig Abstand zwischen uns zu bringen. „Du bist manchmal so ein Idiot, Hazza."

Er verschränkt unsere Hände miteinander, was mir eine Gänsehaut beschert und ich könnte in diesem Augenblick für eine Ewigkeit leben. Doch irgendwann grummelt mein Magen, was uns beide zum Lachen bringt.

„Zieh dich an. Ich bestelle uns Frühstück", murmelt mir Harry ins Ohr und springt dann geradezu aus dem Bett, um in das Wohnzimmer der Suite herunterzugehen. Ich schaue ihm nach und genieße den durchaus ansehnlichen Anblick seines nackten Hinterteils, bevor ich mich deutlich weniger begeistert aus den warmen Laken quäle.

Sofort umweht mich die kalte Luft des Zimmers, die wieder einmal viel zu kühl ist, obwohl Harry mir gestern Nacht versprochen hat, die Klimaanlage nicht anzustellen. Natürlich hat er es dennoch gemacht und es sollte mich wahrscheinlich nicht einmal mehr überraschen, wie mühelos die gelogenen Versprechen über seine Lippen gleiten.

Harry Styles ist der Meister der Versprechen und noch besser darin, sie zu brechen.

Und ich lasse mich immer wieder darauf ein, weil er mein ganzes Herz in den Händen hält. Ich gebe ihm freiwillig die Pistole, lege seinen Finger an den Abzug und alles, was ich tun kann, ist zu hoffen, dass er niemals abdrücken wird.

Seufzend lasse ich meine Arme in den Ärmeln des T-Shirts verschwinden, das ich Harry geklaut habe und tapse dann ins Badezimmer herüber, um mich schnell zu waschen, bevor ich im Schlafzimmer meinen Koffer nach Kleidung durchwühle. Kurz streift mein Blick das Kleid, das ich extra mitgenommen habe, weil es Harry gefällt, auch wenn er mir immer versichert, dass ich in allem hübsch aussehe und lasse es dann doch liegen, weil es dafür viel zu kalt ist. Stattdessen schlüpfe ich in einen warmen Wollpullover und Jeans, um der Winterkälte trotzen zu können.

Dann schicke ich sowohl Helen als auch Jillian ein kurzes Update über die Ereignisse des letzten Abends. Meine beste Freundin schickt mir ein begeistertes Quietschen über meine Erzählung der Liebeserklärung, während meine Mitbewohnerin bloß mit hunderten von Smileys antwortet. Bei einigen von ihnen steigt mir die Röte ins Gesicht und ich sperre schnell den Chat wieder.

Mit einem Lächeln auf den Lippen gehe ich ins Wohnzimmer herüber, weil ich endlich wieder einmal mit meiner besten Freundin Jillian geredet habe, wenn auch nur per Privater Nachricht. Leider wird unser Kontakt immer weniger, seitdem sie nach Los Angeles gezogen ist und es tut weh, daran denken zu müssen, dass ich das Gefühl habe, meine beste Freundin zu verlieren. Doch heute bin ich zu glücklich, um weiter darüber nachzudenken.

„Vielleicht solltest du auch wenigstens eine Hose anziehen, bevor der Zimmerservice einen Herzinfarkt kriegt", schlage ich Harry vor, als ich sehe, dass er immer noch völlig nackt auf dem Sofa sitzt.

Grinsend stemmt er eine Hand in die Hüfte und zwinkert mir zu. „Ich wette, dass der Anblick nicht schlecht ist."

„Ganz und gar nicht. Gerade deswegen könnte es zu einem Herzstillstand kommen", entgegne ich trocken. „Also zieh dir lieber etwas an."

Harry gibt mir einen Kuss auf die Wange, als er an mir vorbeigeht und dann höre ich, wie sein Koffer lauthals gegen den Sessel im Schlafzimmer stößt, weil er nichts im Leben leise erledigen kann.

Ein weiterer Knall ertönt, auf den ich mit einem wissenden Grinsen bereits gewartet habe und dann ist mein Freund wieder auf dem Weg ins Wohnzimmer. Obwohl der ganze Raum mit Teppich ausgestattet ist, kann ich ihn doch bloß an seinen Schritten erkennen. Es ist ein wenig wie Zuhause, wo ich alle Familienmitglieder auch alleine an ihrer Gangart auseinanderhalten kann.

Harry lässt sich neben mir auf das riesige Sofa fallen, seine Füße übereinander geschränkt und das Handy zwischen den Fingern, das er jedoch nach einem kurzen Blick direkt wieder weglegt.

„Kannst du eigentlich einmal im Leben dein Hemd richtig knöpfen?" Seufzend ziehe ich ihn zu mir herüber und schließe die oberen Knöpfe.

Er lässt mich geduldig machen, nur um sie dann sofort wieder zu öffnen und mit dem halboffenen Oberteil wie ein Pirat zu wirken. „Das ist modisch, Al."

„Es sieht bescheuert aus", ziehe ich ihn auf, was ihn jedoch nicht im Geringsten zu kümmern scheint.

Seelenruhig zieht er mich bloß auf seinen Schoß und hält meine Hände fest, damit ich mich nicht wieder an den Knöpfen zu schaffen machen kann.

Der Gedanke daran verschwindet allerdings ohnehin im nächsten Moment, weil Harry beginnt, an meiner Unterlippe zu knabbern, bevor er mich in einen wirklichen Kuss verwickelt. Lächelnd fahre ich ihm durch die Haare, während seine Hände über meinen Rücken streichen. Immer wieder neckt er mich mit seinen Küssen, bis ich schließlich mit meiner Zunge über seine Lippen fahre, was ihm einen Seufzer entlockt.

„Du bist gefährlich, Allison Baker", flüstert er.

Ich habe keine Zeit zu antworten, denn seine Lippen nehmen mich bereits erneut gefangen und ich schließe genüsslich die Augen. Mit sanften Bewegungen streiche ich über seinen Oberkörper, wandere immer tiefer, bis meine Hände sich schließlich einen Weg in seine Hose bahnen. Harry stöhnt leicht, als ich einmal an ihm entlangstreiche und sieht mich dann mit fiebrigem Blick an, der mich brennen lässt.

In den nächsten Momenten reden wir nicht viel, einzig unsere Lippen kommunizieren miteinander, bis ich ihn schließlich über den Abgrund stoße. Anstatt Abstand zwischen uns zu bringen, zieht Harry mich danach nur noch näher an sich heran und ich vergrabe mein Gesicht in seiner Halsbeuge, während er mir federleichte Küsse auf die Haare gibt.

Den ganzen Morgen hätte ich so sitzen bleiben können, ihn eine Ewigkeit lang küssen können, doch irgendwann klopft es an der Zimmertür.

„Ich gehe schon", murmelt Harry, während ich immer noch versuche, wieder zu Atem zu kommen und schiebt mich sanft von seinem Schoß. Bevor er zur Tür herübergeht, zieht er sich die Hose wieder hoch und versteckt damit den verräterischen Fleck in seiner Boxershorts.

Hastig richte ich ebenfalls meine Haare und im nächsten Augenblick schiebt auch schon eine Angestellte des Hotels das Frühstück in den Raum.

„Guten Morgen, Miss."

„Wünsche ich auch", lächele ich mit roten Wangen und hoffe, dass sie mir nicht ansehen kann, dass sich meine Hände noch vor wenigen Augenblicken in Harrys Hose befunden haben.

Geübt präsentiert sie uns die vielen Gerichte, die mein Freund geordert hat. Aus irgendeinem Grund sind alle von ihnen unter silbernen Hauben versteckt und ich würde sie am liebsten einfach selbst hochheben, doch Harry nimmt meine Hand in seine und wir warten geduldig, bis die Angestellte es erledigt hat. Vollkommen schwachsinnig, wenn man mich fragt, aber mich fragt nun einmal nie jemand. Vielleicht muss ich mich auch einfach so langsam an den Gedanken gewöhnen, dass Harrys Leben eindeutig anders abläuft als meines.

„Vielen Dank", lächelt er, als schließlich jede Speise präsentiert wurde. Geübt unterschreibt er die Rechnung und gibt ein ordentliches Trinkgeld, bevor die Angestellte uns noch einen schönen Tag wünscht und dann wieder verschwindet.

„Vielleicht sollte ich kurz meine Hose wechseln, bevor wir essen", schlägt Harry vor und sieht mich dann mit einem frechen Grinsen an. „Es sei denn, du hast vor, das Ganze zu wiederholen?"

Mit roten Wangen schüttele ich den Kopf. „Heute Abend vielleicht, wenn du dich heute benimmst."

„Erst einmal kriegst du eine Revanche", meint er augenzwinkernd.

Ich bewerfe ihn mit einer Serviette, bleibe jedoch stumm, weil ich seinen Vorschlag ehrlich gesagt durchaus ansprechend finde.

Lachend verschwindet Harry im Schlafzimmer und während er sich umzieht, fülle ich beiden von uns die Frühstücksteller auf. Ich überlasse ihm den krossen Schinken, weil ich weiß, wie sehr er diesen mag und nehme mir stattdessen alle Weintrauben, die er aus welchem Grund auch immer nicht isst.

Als er zurückkommt, setzt er sich neben mich aufs Sofa und zieht meine Beine auf seinen Schoß, bevor er sich seinen Teller nimmt.

„Machst du das oft?", frage ich ihn schließlich, nachdem wir bereits einiges der Speisen probiert haben.

„Frühstück im Hotelzimmer?"

„Ja", nicke ich. „Ich könnte mich nämlich daran gewöhnen."

„Ehrlich gesagt kaum." Nachdenklich beißt er von seinem French Toast ab und kaut einen Augenblick, bevor er weiterredet. „Alleine macht das keinen Spaß. Meistens essen wir alle im Frühstückssaal."

Den Rest des Essens verbringen wir in einem einvernehmlichen Schweigen und danach warte ich ungeduldig, bis Harry endlich ebenfalls fertig ist, damit wir zu meinem Bruder aufbrechen können.

Ich weiß, dass Harry es ablehnen wird, mit der Bahn zu fahren, weswegen ich den Vorschlag erst gar nicht bringe und ihm einfach in die Lobby bis hin zu dem privaten Fahrer folge, der uns herumkutschieren wird. Wir folgen dem älteren Herrn, der uns lächelnd begrüßt hat, durch eine Hintertür zu dem schwarzen Rolls Royce und ich komme mir vor wie in einem Gangsterfilm, als schließlich eine schwarze Trennscheibe zwischen dem Fahrer und uns hochfährt.        

Stirnrunzelnd sehe ich zu Harry herüber, der bloß mit den Achseln zuckt, als wäre er das gewöhnt. Doch ich frage mich, in welchem Leben man so etwas je als selbstverständlich ansehen kann.

„Wo soll es denn hingehen?", fragt uns der Fahrer über eine Sprechanlage, die seine Stimme leicht knistern lässt.

Ich gebe ihm die Adresse von Seths Tanzstudio durch, die meine Mutter vor einigen Tagen aus ihm herausgekitzelt hat. Ich hätte es selbst versucht, aber auf mich wäre mein Bruder niemals hereingefallen und ich habe beschlossen, ihn überraschen zu wollen.

„Louis und seine Terrorschwestern sind bereits im Disneyland angekommen", erzählt mir Harry, nachdem er ein Blick auf sein Handy geworfen hat.

„Ich weiß. Eleanor hat mir vorhin ein Bild geschickt und am liebsten würde ich ihren Mantel klauen, denn der sieht fantastisch aus."

„Welcher Mantel?", fragt er neugierig und bereitwillig reiche ich ihm das Foto, auf dem Eleanor einen wunderschönen Trenchcoat trägt.

„Wenn du willst, können wir den morgen auch kaufen gehen", schlägt Harry vor. „Ich weiß, welcher das ist."

Kopfschüttelnd nehme ich mein Handy wieder an mich. „Ich habe alles Geld, was ich hatte, für den Flug ausgegeben, Hazza. Außerdem bin ich mir ziemlich sicher, dass es sich um einen Designermantel handelt, den ich ohnehin nie im Leben bezahlen kann."

„Ich habe dir gesagt, dass ich das Flugticket zahlen werde", entgegnet er. „Warum hast du nicht einfach meine Kreditkarte genommen?"

Ich seufze. „Weil ich das nicht will."

„Das ist wirklich keine große Sache, Al. Mir würde es nicht einmal auffallen, dass das Geld fehlt."

„Darum geht es nicht."

Stirnrunzelnd sieht er mich an. „Worum geht es dann?"

„Ich will nicht von dir abhängig sein", erwidere ich leise.

„Du bist nicht abhängig von mir, nur weil ich dir was kaufe."

Er streckt die Hand nach mir aus, doch ich weiche ihm aus.

„Ich will es einfach nicht, okay?", murmele ich unwirsch, weil wir nicht zum ersten Mal über sein Geld diskutieren. „Warum kannst du das nicht einfach mal verstehen?"

Mit verschränkten Armen sieht er mich an. „Weil du total unlogisch bist. Ich habe viel zu viel Geld und will meiner Freundin einfach eine Freude machen."

„Das will ich aber nicht", murmele ich tonlos und lasse mich in den Sitz zurücksinken, froh darüber, dass der Fahrer nichts von unserem Gespräch mitbekommt. „Du musst mich nicht kaufen."

Er fährt sich durch die Haare, während er mir einen verletzten Blick zuwirft. „Das ist doch Schwachsinn, Al. Ich bezahle dich doch nicht, damit du meine Freundin bist."

„So fühlt es sich für mich aber an", murmele ich mit sanfter Stimme. „Lass das Thema einfach sein lassen, okay?"

Einen Augenblick sieht er mich an, dann seufzt er leise. „Okay."

Als Harry dieses Mal nach meiner Hand greift, verschränke ich unsere Finger miteinander und wir lächeln unsicher, bevor ich mein Kopf an seine Schulter lehne. In diesen Momenten der Stille ist alles wieder in Ordnung, bis dann der nächste Knall folgt. Doch daran will ich nicht denken, sondern einfach all die schönen Augenblicke mit meinem Freund genießen, die ohnehin auf die nächsten Tage begrenzt sind. Dann geht es für ihn wieder auf die Bühne und mich tausend Kilometer zurück nach England, wo ich mich mit der Uni herumschlagen darf.

Zwei Leben, so unterschiedlich, von denen ich aber dennoch hoffe, dass sie irgendwie miteinander harmonieren können. Es wird nicht einfach, aber es ist auch nicht unmöglich und manchmal ist ein kleiner Hoffnungsschimmer alles, was ein Herz weiterschlagen lässt.

Während der Fahrt streicht Harry immer wieder mit dem Daumen über meinen Handrücken und ansonsten schweigen wir, bis der Wagen schließlich  vor den Proberäumen der New Yorker Royal Ballet Academy hält. So viele Jahre habe ich Seth ehrfürchtig davon erzählen hören, dass ich nun selbst ziemlich aufgeregt bin, als wir vor dem Gebäude stehen.

Als ich den Blick auf den bewachten Eingang werfe, muss ich schlucken, denn damit sind meine Pläne zunichtegemacht, meinen Bruder drinnen zu überraschen.

„Ich könnte versuchen uns hereinzubringen", schlägt Harry vor und scrollt nachdenklich in seinem Handy, bis sein Finger an einem seiner Freunde hängen bleibt. „Ich weiß nicht genau, wie weit Jeffs Kontakte reichen, aber einen Versuch ist es wert."

„Nein, ich will dich nicht dafür ausnutzen", lehne ich ab.

Harry zieht sich die Mütze tiefer ins Gesicht und versteckt sich im Windschatten der Tür, als einige der Schüler nach draußen strömen.

„Du nutzt mich nicht aus, nur weil ich meine Kontakte nutze, Al."

Ich lehne mich gegen die Mauer des Gebäudes, das trotz seines Alters immer noch sauber und herrschaftlich wirkt. „Lass uns Seth einfach hier draußen überraschen. In die Proberäume kommen wir wahrscheinlich ohnehin nicht rein und er könnte gar nicht zu uns, wenn er uns sieht. Warten wir einfach hier draußen dort hinten in dem Park. Dort verbringt er meistens seine Mittagspause."

Mit sanftem Händedruck manövriere ich Harry zu der Grünfläche, die mir durch Seth täglichen Bildspam mehr als bekannt verkommt. Dadurch dass Seth und mich so viele Kilometer trennen, sehen wir uns sehr selten, aber dennoch bleiben wir ständig in Kontakt und die Telefonate sowie Schnappschüsse sind unser Versuch, den anderen über unsere Leben in Kenntnis zu setzen. Drake ist ebenfalls Teil unserer Whatsappgruppe, aber mein jüngerer Bruder nutzt diese eher dazu, uns Witze zu schicken oder von seinen neuesten Streichen zu erzählen.

„Komm, wir setzen uns auf die Bank dort", schlägt Harry vor. „Es bringt doch auch nichts, wenn du hier so zappelig herumstehst."

Er schenkt mir ein sanftes Lächeln und zieht mich dann auf seinen Schoß, als ich vor Ungeduld beginne, Kreise in den Boden zu malen.

„Danke", murmele ich und lehne meinen Kopf nach hinten.

Harry gibt mir einen leichten Kuss auf die Wange. „Bitte."

„Kannst du mich vielleicht irgendwie ablenken?"

„Ich wüsste da schon einige Möglichkeiten", flüstert er mir ins Ohr, bevor er meinen Hals mit Küssen übersät.

Lachend schüttele ich den Kopf. „Das ist nicht die Art Ablenkung, an die ich gedacht habe, Hazza."

„Aber die Art von Ablenkung, die mir besonders gut gefällt", grinst er.

Amüsiert fahre ich ihm durch die Haare, woraufhin er die Augen schließt und leise seufzt. „Wie genau hältst du deine ständige Sucht nach Nähe eigentlich aus, wenn ich nicht bei dir bin?"

„Ich bin mir nicht sicher, ob du das wirklich wissen willst", meint er.

Grinsend stupse ich ihn an. „Ich bin mir sehr sicher, dass ich das wissen will."

„Weißt du, ich habe eine rechte Hand", murmelt er mit roten Wangen. „Und den Rest kannst du dir denken."

„Du bist süß, wenn du verlegen bist", flüstere ich grinsend und küsse ihn sanft.

Lachend sieht er mich an. „Ich glaube, du bist die einzige, die mich je süß genannt hat, nachdem ich ihm erzählt habe, dass ich mir einen runterhole."

Jetzt bin ich diejenige mit den brennenden Wangen und ich sehe eilig wieder nach vorne, um seinem Blick ausweichen zu können. Der Wind weht unerbittlich, fast so frostig wie letzte Nacht und dennoch fühle ich mich warm, solange Harry weiterhin seine Arme um mich geschlungen hat.

Zum ersten Mal seit unserer Ankunft bin ich nun auch wieder genug ich selbst und werde nicht von meiner Aufregung überwältigt, dass ich mir unsere Umgebung näher ansehen kann. Vor uns breitet sich ein erstaunlich grünes Stück zwischen all den Wolkenkratzern aus und auf dem Rasen sind trotz der kalten Jahreszeit viele Klappstühle aufgebaut. Viele von ihnen werden bereits besetzt, denn es ist Mittagszeit, und ich finde es interessant zu sehen, dass wirkliche so viele unterschiedliche Menschen hier gemeinsam sitzen. Von Geschäftsmännern in steifen Anzügen bis hin zu Müttern mit Kinderwagen und einem Mann in Clownkostüm ist wirklich alles zu sehen und ich vertreibe mir die restliche Zeit damit, all die Leute zu beobachten.

„Kleiner Stalker", flüstert mir Harry ins Ohr.

„Bin ich gar nicht", schwindele ich grinsend.

„Bist du –"

Das Ende seines Satzes bekomme ich nicht mehr mit, weil ich meinen Bruder einige Meter von uns entfernt entdecke und quietschend in seine Richtung renne.

„Sethie!"

Einen kurzen Augenblick lang sieht mein Bruder panisch aus, dann verwirrt und endlich breitet sich das weiteste Lächeln auf seinen Lippen auf, während er mir mit ausgestreckten Armen entgegenläuft. Ich werfe mich in seine Umarmung und lache, als er mich durch die Luft wirbelt.

„Was machst du denn hier, Schnecke?", flüstert er mit tränenerstickter Stimme, als wir schließlich still stehen und uns aneinanderklammern, beide noch nicht ganz sicher, dass das hier wirklich die wunderschöne Realität ist.

Wenn ich die Augen schließe, dann mischt sich unter den Geruch von Subwaybrötchen und chinesischen Nudeln der einzigartige Duft meines großen Bruders, der mich mein Leben lang begleitet hat. Ein wenig nach Sonnenblumen, Kiefernholz und etwas Außergewöhnlichem, das sich nicht übersetzen lässt.

Schon immer hat er mich gehalten wie heute und ich weiß, dass er es auch jeden weiteren Tag unserer gemeinsamen Reise tun wird.

Als ich die Augen wieder öffne, sehe ich Harry, der neben uns steht und mir ein liebevolles Lächeln schenkt.

„Siehst du? Es fühlt sich alles genau an wie früher", formt mein Freund mit den Lippen in meine Richtung. „Du hast völlig umsonst Angst gehabt."

Ich lächele, weil er Recht hat und drücke meinen Bruder noch ein wenig fester an sich.

„Nicht weinen, Sethie", flüstere ich, als ich seine nassen Tränen an meiner Wange bemerke.

Langsam löst er die Umarmung und hält mich einen Arm breit von sich weg, um mich besser ansehen zu können.

„Einer von uns beiden muss es ja tun", grinst er. „Es kann ja keiner was dafür, dass du ein gefühlskaltes Monster bist, Schnecke."

Lachend schlage ich ihm gegen die Schulter. „Bin ich überhaupt nicht."

„Ich weiß, aber du weinst auch so gut wie nie", zieht er mich auf, das dicke Grinsen immer noch in seinem Gesicht, das so schnell wahrscheinlich auch nicht verschwinden wird.

Neugierig sieht Harry zu uns herüber. „Stimmt das?"

Erst jetzt bemerkt Seth die Anwesenheit meines Freundes und klatscht ihn zur Begrüßung ab, bevor sie sich ein männliches Schulterklopfen geben, das mich die Augen verdrehen lässt. „Stimmt. Ally ist die Meisterin darin, die Tränen nicht kommen zu lassen. Oder hast du sie schon einmal weinen sehen, Harry?"

Nein, habe ich nicht." Er runzelt die Stirn, während er überlegt und schüttelt dann schließlich den Kopf. „Warum nicht, Al?"

Seufzend sehe ich ihn an. „Ich weine schon. Aber nur, wenn es wirklich schlimm ist. Ansonsten trauere ich eher im Inneren."

„Das hört sich an wie eine schlechte Soapoper", kommentiert Seth trocken. „Ich weine die Tränen, aber nur im Inneren, damit sie mich reinwaschen."

Lachend strecke ich ihm die Zunge heraus. „Hör auf, dich über mich lustig zu machen oder ich verschwinde wieder, Sethie."

„Nein, bloß nicht", sagt er hastig. Dann sieht er mich mit ungläubigem Blick an. „Du bist wirklich hier, Schnecke."

Ich lächele. „Ich bin wirklich hier."

„Warum hast du nichts gesagt?", fragt er mich.

„Ich wollte dich überraschen."

„Du hasst Überraschungen", meint er.
Augenverdrehend sehe ich ihn an. „Aber du liebst sie."

„Stimmt", kommentiert Seth grinsend und winkt zu seiner Rechten. „Komm, lass mich dich meiner Tanzpartnerin Lucia vorstellen."

Erst jetzt nehme ich das Mädchen neben ihm bewusst wahr. Sie ist kaum größer als 1,50 Meter und hat dennoch einen so intensiven Blick, sodass sie direkt größer wirkt. Die hellblonden Haare stehen ihr wirr im Kopf, weil ihre weiten Locken sich einen Weg in die Freiheit suchen. Am Beeindrucktesten sind jedoch ihre tiefblauen Augen, mit denen die Augenfarbe meiner Familie nicht im Mindesten mithalten kann.

„Lucia, das sind meine Schwester Ally und ihr Freund Harry", stellt Seth vor. „Schnecke und Fakestar, das ist meine Tanzpartnerin Lucia. Sie kommt aus Italien und hat den besten Akzent überhaupt."

Harry lacht leise über Seths Spitzname, während ich Lucia nur anstarren kann.

„Sind Italiener nicht eigentlich alle braunhaarig?", meine ich perplex und bereue die Frage schon im Nächsten Moment, weil ich nicht unhöflich sein will.

Lucia scheint es mir jedoch nicht übel zu nehmen, denn sie schüttelt bloß lachend den Kopf. „Nur ein Vorurteil. Außerdem bestätigen Ausnahmen die Regel."

„Sollen wir uns setzen?", schlägt Seth vor und nickt in Richtung von vier Stühlen, die noch frei sind. „Ich muss nämlich dringend mein Sandwich verspeisen, sonst sterbe ich noch vor Hunger."

Sofort laufen mein Bruder und Lucia los, doch Harry hält mich am Arm zurück.

„Verrätst du mir, wann du das letzte Mal geweint hast, Al?"

Ich weiche seinem Blick aus. „Weiß ich nicht mehr."

„Komm schon. Du hast gerade gesagt, dass du fast nie weinst", meint er. „Das weißt du doch sicherlich noch."

Meine Finger trommeln gegen meinen Oberschenkel, während ich die Worten über die Lippen presse und seinem Blick ausweiche. „Das letzte Mal geweint habe ich, als ich all die Kommentare über mich nackt im Automaten lesen musste", murmele ich dann.

„Oh." Harry beißt sich auf die Unterlippe und sieht so verloren aus, dass ich direkt weiß, warum ich ihm die Antwort erst gar nicht geben wollte.

Ich verflechte unsere Finger miteinander.

„Schon gut, Hazza", flüstere ich. „Lass uns einfach den Tag heute genießen, okay?"

Dann küsse ich ihn, bis wir beide keine Luft mehr bekommen.

„Ihr beiden seid so verliebt, dass es fast in den Augen wehtut", kommentiert Seth trocken, als wir uns schließlich zu ihm und Lucia setzen.

Meine Wangen brennen, als mir einfällt, dass Harry und ich ihnen gerade eine Wahnsinnsshow geboten haben.

„Stört es dich?", murmele ich leise in Seths Richtung, als Lucia anbietet, mir und Harry ebenfalls noch ein Sandwich an dem Stand am anderen Ende des Parks zu kaufen.

„Nein, ehrlich nicht. Ich bin einfach nur froh, dass du glücklich bist, Schnecke." Mein Bruder lächelt. „Und Harry macht dich glücklich, oder?"
Mit hochgezogenem Mundwinkel sehe ich zu meinem Freund herüber, der Lucia ein paar Geldscheine für unsere Sandwichs in die Hand drückt.

„Ja, er macht mich verdammt glücklich", flüstere ich.

Seth schlingt mir lächelnd den Arm über die Schulter. „Dann halte an ihm fest, denn man kann nie genug Glück im Leben haben."

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