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e f f e r v e s c e n t

august 2013

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Allison || Wilde, schwarze Locken sind im ersten Augenblick alles, was ich sehe, sobald ich aus der Bahn steige.

Ich werde in eine euphorische Umarmung gezogen, die mich im ersten Moment panisch werden lässt, bis mir auffällt, dass das dunkelhäutige Mädchen meine zukünftige Mitbewohnerin ist. Sie begrüßt mich, als würden wir uns schon ein Leben lang kennen.

„Ich habe dich von den Fotos wiedererkannt, Ally", lächelt sie strahlend und hakt sich dann bei mir unter. „Ich hoffe, deine Zugfahrt war gut?"

Etwas überwältigt starre ich sie an, während ich versuche mit ihrer Selbstverständlichkeit klar zu kommen.

„Wollten wir uns nicht eigentlich in der Wohnung treffen?", frage ich zögerlich, während sie mich mit strammen Schritten Richtung Underground der Euston Station zieht. „Oder habe ich das falsch verstanden."

Helens Afrolocken wippen im Takt, während sie sich grinsend zu mir umdreht. „Ich dachte, dass es doch viel cooler wäre, wenn wir das erste Mal gemeinsam in unsere Wohnung reingehen werden. Also habe ich auf dich gewartet."

Sofort bekomme ich ein schlechtes Gewissen, dass das Mädchen, das ich bisher nur flüchtig über Skype kennengelernt habe, extra wegen mir so viele Umstände ertragen musste.

„Du hast hoffentlich nicht zu lange gewartet?", murmele ich leise. „Tut mir leid, wenn ich das gewusst hätte, hätte ich einen früheren Zug genommen."

Schokoladenbraune Augen, die grundsätzlich freudig aussehen zu scheinen, funkeln mich vergnügt an, während wir gemeinsam mit gefühlt tausend anderen Leuten die Rolltreppe zu unserem Gleis herunterfahren. „Ach was, Ally. Das ist doch überhaupt gar kein Problem."

Helen erzählt mir aufgeregt von ihren ersten Tagen in London, in denen sie anscheinend ohne Probleme bereits zehn Freundschaften in ihrem Job als Kellnerin geschlossen hat und ich nicke, während ich ihr zuhöre. Ich bin froh darüber, dass ich nicht direkt reden muss und erst einmal bloß vorsichtig austesten kann, wie genau wir miteinander zurechtkommen.

Als die Tube schließlich röchelnd einläuft und alle die ‚Mind your Gap'-Anweisung gekonnt befolgen, bin ich mir jedoch ziemlich sicher, dass Helen und ich zumindest keine Feinde werden. Das erleichtert mich unheimlich, denn während ich nicht erwarte, dass wir beste Freunde werden, so ist es doch ganz schön, wenn ich mich mit meiner Mitbewohnerin zumindest zivilisiert unterhalten kann.

„Ihr Engländer seid so höflich", kommentiert Helen amüsiert, während sie kopfschüttelnd dabei zusieht, wie erst alle aus dem Wagon aussteigen.

„Ihr Amerikaner nicht?", erkundige ich mich interessiert, denn fremde Kulturen haben mich immer schon fasziniert. Ich bin die Höflichkeit der Manchester gewohnt und ehrlich gesagt eher negativ geschockt, dass die Londoner viel weniger Rücksicht nehmen als in meiner Heimat.

Es ist Rushhour, was es nicht einfacher macht, meinen Koffer durch das Gedränge in die Tube zu schieben. Ich bin froh darüber, dass ich mich erst einmal auf ein Gepäckstück beschränkt habe und meine Eltern am Wochenende alles weitere von Manchester hierherfahren werden, wenn sie mich das erste Mal in meinem neuen Leben besuchen kommen.

„Nein, in Saint Paul hätten wir uns alle schon zehn Mal die Ellbogen hineingebohrt, um den besten Platz u erwischen", lacht Helen.

„Saint Paul ist die Hauptstadt Minnesotas", erklärt sie mir, als sie meinen verwirrten Blick bemerkt.

Ich bin froh über ihre Erklärung, weil ich zu höflich bin, nachzuhaken und es mich dennoch brennend interessiert, mehr über ihr Leben zu erfahren.

„Ist es schön dort?" Ich muss die Frage wiederholen, weil meine Stimme im lauten Berufsverkehr kaum zu verstehen ist.

Helen lehnt sich ein wenig über meinen Koffer, um mich besser verstehen zu können und zuckt dann grinsend mit den Achseln. „Ich weiß nicht, Ally. Ich habe immer das Gefühl, dass man über seine Heimatstadt nicht wirklich ein Urteil abgeben kann", erklärt sie mir. „Ich meine, ich kenne die Stadt auf eine Weise, wie andere sie nie kennenlernen werden und ich habe so viele schöne Erinnerungen an Saint Paul, das ich gar sagen könnte, dass die Stadt schlecht ist, weil sie doch irgendwie immer in meinem Herzen wohnt." Sie winkt ab. „Das hört sich jetzt wahrscheinlich total bescheuert an."

„Nein, gar nicht bescheuert", entgegne ich lächelnd. „Ich kann es verstehen, denn genauso geht es mir mit Manchester auch. Es ist eine Stadt, die man erlebt haben muss und nicht als Tourist, weil man dann den ganzen Charme verpasst. Das sagt mein Freund auch immer."

„Nun, wir beide werden nun unser gemeinsames Abenteuer London starten und ich habe so das Gefühl, dass es wunderbar werden wird", lächelt Helen.

Sie umarmt mich selbstverständlich über den Koffer hinweg, was mich zunächst überrascht, aber einen Augenblick später erwidere ich die Umarmung. „Ich freue mich auf das Abenteuer", entgegne ich, was nicht ganz die Wahrheit ist, aber es ist nicht an der Zeit, direkt damit anzufangen, dass das Risiko und ich in diesem Leben noch nie Freunde geworden sind. Außerdem habe ich vor, das Beste aus meiner Zeit in Englands Hauptstadt zu machen.

Ich habe mich für London entschieden, für eine Prise Abenteuer, also werde ich jetzt nicht kneifen, sondern mich zumindest darauf einlassen. Während der Zugfahrt hätte ich aufgrund des neuen Lebensabschnitts am liebsten geweint, aber Helen ist gerade die hervorragende Medizin gegen Heimweh.

„Also, erzähl doch mal, Ally. Hast du schon Pläne für unsere Wohnung?" Meine neue Mitbewohnerin sieht mich mit neugierigem Blick an.

„Nein, noch nicht wirklich", gebe ich zu. „Ich habe vor, mir die Wohnung erst einmal in echt anzusehen, bevor ich überlege, was man daraus machen kann. Ich brauche die Gewissheit."

„Hast du was dagegen, wenn ich ein wenig den Pinsel schwinge?"

Überrascht sehe ich sie an. „Du bist also Künstlerin, Helen?"

„Du kannst ruhig Hel sagen. Das machen alle meine Freunde", verbessert sie mich lächelnd. „Und jep, ich kritzele andauernd überall rum, aber wenn dich das stört, mache ich das natürlich nicht."

„Nein, kein Problem", versichere ich ihr ehrlich. „Ein bisschen Farbe kann ja nicht schaden."

Helen schenkt mir ein weiteres Lächeln und mir fällt auf, das sie eine der Personen ist, die andauernd gute Laune versprudeln. „Ich glaube, wir werden uns wirklich super verstehen, Ally."

„Das hoffe ich doch", murmele ich und bete innerlich, dass sie mit ihrer Vermutung recht behalten wird. Es wäre hilfreich, zumindest schon einmal eine Person in meinem neuen Leben zu kennen, die ich gerne mag.

„Wir müssen raus", kommentiert Helen schließlich, während sie gleichzeitig drei Sätze begonnen und nie einen beendet hat.

Jemand bohrt mir aus Versehen einen Ellbogen in die Seite, als wir in Shoreditch die Tube verlassen, aber ich habe es im nächsten Moment auch schon wieder vergessen, zu aufgeregt, weil ich mich nun zum ersten Mal in dem Stadtviertel aufhalte, wo ich, wenn alles glatt läuft, mindestens die nächsten drei Jahre verbringen werde.

Ich habe Harry bereits in die Wohnung geschickt, damit er sich für mich umsieht und die Gegend auskundschaftet. Außerdem habe ich tausend Stunden im Internet verbracht, um alles an Informationen über mein neues Viertel aufzusaugen, aber sich nun wirklich in Shoreditch zu befinden, ist noch einmal etwas ganz anderes.

An vielen Wänden haben sich Graffitiartisten mit ihren bunten Werken verewigt und die meisten davon sehen wirklich toll aus, weswegen ich aus dem Staunen nicht mehr herauskomme. Besonders beeindruckend finde ich das Werk eines Mannes, dessen Blick einen zu verfolgen scheint, während man ihn passiert.

„Das scheint das Künstlerviertel Londons zu sein", strahlt Helen und sprudelt über vor Begeisterung.

Überrascht sehe ich sie an. „Wusstest du das nicht?"

„Nein, woher denn auch?"

„Das Internet?", frage ich vorsichtig, weil ich sie nicht vor den Kopf stoßen will.

Doch Helen nimmt mir die Worte nicht übel, sondern schüttelt bloß lachend den Kopf. „Ach was, da hätte ich mir doch den Überraschungseffekt versaut. Es gibt doch nichts Tolleres, als ein Abenteuer. So kann ich jetzt alles ganz spontan und in dem Moment erleben."

„Ich habe mich eingelesen", gebe ich leise zu. „Ist das ein Problem für dich, Hel?"

„Natürlich nicht, Ally. Dann bist du einfach meine Touristenführerin, wenn wir in den nächsten Tagen die Umgebung erkundigen. Natürlich nur, wenn du Lust darauf hast?"

Ich nicke eilig, denn ich habe ohnehin vorgehabt, das Viertel zu erkundigen und zu zweit macht es sicherlich viel mehr Spaß. „Das klingt toll."

Mein Koffer rattert laut, als wir über einen gepflasterten Gehweg gehen und dann abbiegen in eine Straße, die laut der Navigationsapp meines Handys am Ende unser Haus beherbergen sollte.

Kurz bevor wir allerdings unser Ziel erreichen, bleibt Helen plötzlich stehen und hüpft begeistert auf der Stelle. „Die müssen wir mitnehmen, Ally. Die sind mega cool!"
Ich brauche eine Sekunde, bis ich merke, dass sie über vier alte Holzstühle spricht, die ihr Zuhause am Straßenrand gefunden haben.

„Ich glaube, die sind für den Müll gedacht."

„Ach was, daraus können wir was richtig cooles machen, Ally! Komm schon, die würden sich doch super in der Küche machen, oder? Wir müssen sie nur anstreichen und dann sind die richtig hipp. Bitte, bitte, bitte, Allylein."

Lachend nicke ich. „Okay, dann lass uns die Stühle mitnehmen."

Als wir zwanzig Minuten später keuchend endlich vor dem Haus auflaufen, das zukünftig unser Zuhause sein wird, weiß ich wieder einmal, warum ich Spontanität und Risiken hasse. Denn nun sind meine Hände durch das Tragen eines der Stühle total voller Abdrücke und schmerzen, während sich ein Stuhlbein auch noch bei jedem meiner Schritte in mein Bein gebohrt hat. Doch ich musste einen der Stühle auch noch behelfsmäßig über meinen Koffer stellen, wofür meine Mitbewohnerin mir die Reisetasche abgenommen hat, die bis dahin gemütlich über dem Griff des Koffers gebaumelt hatte.

Helen hat mit den anderen zwei Stühlen nicht weniger zu kämpfen gehabt, doch sie wirkt vollkommen unbekümmert, als wir endlich angekommen sind. Es liegt bloß ein breites Grinsen im Gesicht, während sie sich einmal mit ausgebreiteten Händen im Kreis dreht. „Das ist unsere neue Heimat, Allylein! Ich glaube, ich bin jetzt schon verliebt."

Ich kann zumindest ihre Begeisterung über das Haus teilen, denn es wirkt wirklich süß, wie es sich zwischen zwei anderen Bauten bequem macht. Es ist nicht groß, trotz der zwei Stockwerke, denn es ist wahnsinnig schmal geschnitten. Ein wenig abgewrackt wirkt es auch, aber man sieht, dass die vorherigen Mieter es voller Liebe gepflegt haben. Harry hat nicht gelogen, als er mir versichert hat, dass er von allen Angeboten wirklich das schönste ausgesucht hat.

Außerdem liegt die Miete dieses Hauses eindeutig in meinem Budgetbereich, weswegen ich gerade wirklich glücklich bin.

„Dein Freund hat ein Händchen für gute Immobilien", strahlt Helen mich an. „Ich glaube, wir sollten ihn öfter auf Wohnungssuche schicken. Hat er mal überlegt, in der Branche anzufangen?"

Ich lache leicht. „Ich glaube, das macht Harry nicht mit. Dafür ist sein Zeitplan viel zu straff. Ich bin schon glücklich gewesen, dass er die Aufgabe überhaupt für mich übernommen hat."

„Ach was, Ally, versprich ihm einfach einen guten Blowjob und dann macht er das schon für dich. Jungs haben wirklich keine hohen Ansprüche", kommentiert Helen beiläufig und schließt dann einfach die Haustür auf, während ich sie einen Augenblick nur anstarren kann.

„Es sei denn, Harry steht nicht so auf Blowjobs? Dann fällt dir sicherlich was anderes ein."

„Äh, doch schon", murmele ich mit brennenden Wangen und trete dann eilig in das Gebäude, um diesem Gespräch aus dem Weg gehen zu können.

Helen folgt mir ins Haus und dann sehen wir uns begeistert in dem kleinen Flur um. Der Boden hat eindeutig schon bessere Zeiten gesehen und befindet sich sicherlich schon seit einigen Jahren hier, wenn man den Kratzern Glauben schenkt. Er ist nicht mehr der Neuste, aber noch funktionsfähig und vor allem in Holz gehalten, was mich direkt an Zuhause erinnert.

„Hier fühlt man sich direkt heimisch", kommentiert Helen begeistert, als könnte sie meine Gedanken lesen und beginnt dann neugierig die anderen Räume des Hauses abzugehen.

Ich folge ihr, ebenso aufgeregt, allerdings mit eindeutig bedachteren Schritten. Eine der Dielen i Flur knatscht leicht, was uns erst zusammenzucken und dann in Gelächter ausbrechen lässt.

Die gesamten beiden Etagen sind nicht wirklich groß, in der oberen befindet sich eigentlich genau genommen bloß ein Dachboden und ein kleines Badezimmer, doch ich könnte mir kein schöneres Zuhause für die nächsten Jahre vorstellen.

„Welches Zimmer möchtest du?", fragt Helen mich schließlich, nachdem wir im letzten Zimmer angelangt sind und uns auf den Fußboden setzen, während wir verarbeiten, dass dieses Haus nun tatsächlich uns gehört.

„Ich kann ruhig dieses hier nehmen", entgegne ich.

Helen sieht mich nachdenklich an. „Bist du sicher? Das hier ist kleiner als das andere?"

„Ja, ich bin mir sicher", erwidere ich, während ich meinen Blick lächelnd durch den Raum schweifen lasse. Das Fenster ist lichtdurchflutet und am meisten begeistert mich die Sitznische vor dem Glas, die sich hervorragend als Leseecke eignen wird.

„Du sagst mir aber wirklich, wenn du auch lieber das größere Zimmer willst, Ally?"

„Ich bin wirklich hiermit total zufrieden. Wirklich, du tust mir einen Gefallen, wenn du das größere Zimmer nimmst", überzeuge ich Helen und deute dann begeistert auf die Sitznische. „Diese Ecke hat es mir total angetan und ich würde alles darauf verwetten, dass das mein neuer Lieblingsplatz im Haus wird."
Lachend umarmt meine neue Mitbewohnerin mich. „Ich schätze, dann haben wir das Wichtigste schon geklärt."

Wir beschließen, meinen Koffer auszuräumen, was in einem einfachen Auskippen endet, weil wir uns beide nicht die Mühe machen wollen, geduldig alles zu verstauen und nehmen dann das Gepäckstück mit, um im nächstgelegenen Supermarkt die wichtigsten Essentials zu kaufen.

Neben den Lebensmitteln wandern vor allem Gebrauchsgegenstände auf das Kassenband und ich bin froh darüber, dass ich mir bereits vorher eine Einkaufsliste geschrieben habe, denn ansonsten hätten wir wahrscheinlich die Hälfte vergessen. Wir teilen uns den Preis der Einkäufe, ohne das wir überhaupt darüber reden müssen.

Zurück in unserer Wohnung angekommen, räumen wir alles an den richtigen Platz und nehmen uns dann vor, in den nächsten Tagen ebenfalls gemeinsam zu Ikea zu gehen, um ein wenig Dekoartikel zu kaufen.

„Wo genau ist eigentlich dein Gepäck?", frage ich Helen, während wir beide schließlich auf dem Küchenboden auf einer Plane knien und die geretteten Stühle um uns herum aufgestellt haben.

„Noch in dem Hostel, wo ich letzte Nacht gepennt habe. Das hole ich morgen ab", kommentiert Helen. „Was genau studierst du noch gleich, Ally?"

„Literaturwissenschaft", antworte ich.

Mein Pinsel verschwindet in dem roten Farbtopf und ich quietsche leicht auf, als die Farbe auch auf meine Kleidung spritzt. Glücklicherweise habe ich auf meine Mitbewohnerin gehört, als sie mir empfohlen hat, für das Anstreichen doch lieber meine ältesten Sachen anzuziehen.

„Weißt du was, Ally? Ich glaube, ich studiere doch und lasse den Caféjob sausen."

Schockiert starre ich sie an und kann gerade noch verhindern, dass mir der Pinsel aus der Hand rutscht. „Das ist doch keine Sekundenentscheidung, die man mal eben so trifft."

„Das Leben ist ein Abenteuer und man muss es einfach so nehmen, wie es kommt", kommentiert Helen achselzuckend und lässt den Pinsel in ihrer Hand geübt über den Stuhl fahren, der ihr am nächsten steht.

„Was willst du denn studieren?" Fragend sehe ich sie an.

„Irgendetwas künstlerisches wäre cool", meint Helen lächelnd. „Vielleicht auch in Richtung Film. Ich suche morgen einfach mal, ob es noch irgendwo offene Plätze gibt und nehme dann das, was kommt."

„Du weißt aber schon, dass Studieren teuer ist?", merke ich vorsichtig an, weil ich immer noch nicht ganz glauben kann, dass man sein Leben von einem Moment auf den anderen so grundlegend ohne weitere Überlegung ändert. Eigentlich hat Helen mir erzählt, dass sie nach ihrer Weltreise im letzten Jahr erst einmal ein wenig Jobben wollte, um Leute kennenzulernen und die Kultur Englands in sich aufzusaugen.

„Ich suche mir einfach einen Nebenjob", kommentiert sie unbekümmert. „Außerdem ist das Studium hier verglichen mit Amerika spottbillig."

So würde ich es nicht unbedingt nennen, denn meine Eltern drehen jetzt bereits verzweifelt jeden Cent um, um es mir möglich zu machen, in London studieren zu können. Wenn ich an die ganzen Stunden denke, die ich ebenfalls Arbeiten muss, um genügend Geld zu verdienen, bekomme ich jetzt schon einen Kloß im Magen.

„Was genau machen deine Eltern denn?"

Helen lässt ihren Pinsel schwungvoll über ein Stuhlbein gleiten, das nun schon eindeutig farbenfroher aussieht. „Mein Vater ist bei der Navy und meine Mutter leitet ihr eigenes Technologie-Imperium. Nicht so groß wie Google, aber es ist schon nicht schlecht."

Beeindruckt sehe ich zu ihr herüber. „Deine Mum klingt cool."

„Ist sie auch", lacht Helen. „So richtig badass. Mit ihrem wandelnden Einmeterfünfzig erwartet das nie jemand, vor allem, weil sie ja auch noch schwarz ist. Dumme Vorurteile, wie immer. Aber meine Mum weiß sich zu wehren und es wagt keiner, sich zweimal mit ihr anzulegen."

Das Klingeln unterbricht unser Gespräch und bevor ich überhaupt Anstalten machen kann, aufzustehen, ist Helen bereits aufgesprungen. Sie rutscht auf Socken über den Holzboden Richtung Hausflur und kommt dann minutenspäter auf dieselbe Weise wieder in die Küche zurück, wobei sie beinahe in den Farbtopf fällt.

„Hups", lacht sie und wedelt dann begeistert mit einem Blumenstrauß in meine Richtung. „Die hat gerade ein Florist vorbeigebracht."

Ich lächele, weil ich weiß, dass die Calla-Lillien nur von Harry sein können. Er hat mir seitdem wir zusammengekommen sind, nicht mehr jede Woche einen Strauß geschickt, weil ich ihm gesagt habe, dass das wirklich nicht nötig ist. Aber er besteht darauf, mir zumindest zu besonderen Anlässen noch Blumen zu schicken.

„Für Ally und Helen. Herzlichen Glückwunsch zu eurer Wohnung. Harry", liest Helen den Zettel vor, nachdem sie ihn vorsichtig zwischen den Blüten hervorgezupft hat. „Ich mag deinen Freund, Ally."

„Du kennst ihn doch nicht einmal", grinse ich.

Helen wedelt mit dem Blumenstrauß durch die Gegend. „Blumen zeugen eindeutig von Stil. Ich kann mich nicht daran erinnern, wann mir das letzte Mal einer Blumen geschickt hat."

„Harry macht das andauernd", erzähle ich mit roten Wangen. „Bevor wir zusammengekommen sind, hat er mir jede Woche einen Strauß geschickt und bisher konnte ich ihn noch nicht davon abhalten, mir auch weiterhin immer mal wieder Blumen zu schicken."

Schwungvoll füllt Helen das Waschbecken mit Wasser, weil wir bisher noch keine Blumenvase besitzen und stellt die Calla-Lilien dann vorsichtig dort ab. „Behalt Harry bloß. Das ist nämlich wirklich süß."

„Ja, ich schätze, das ist es", lächele ich.

Während der nächsten Stunden unterhalten wir uns über alles Mögliche, während wir den Stühlen einen neuen Anstrich verpassen und ich merke erleichtert, dass es mir mit jeder Minute einfacher fällt, mich mit Helen zu unterhalten.

Als es bereits längst dunkel geworden ist, setzen wir den letzten Pinselstrich und entspannen uns dann geschafft, aber glücklich, während wir unser Werk betrachten.

„Das sind die besten WG-Stühle aller Zeiten", kommentiert Helen und zieht mich begeistert auf die Füße. „Wie sieht es aus, Allison Baker? Was hältst du von einem richtigen Filmabend zum Abschluss des Tages?"

„Helen Thompson, das klingt nach einem wunderbaren Plan", lache ich.

Ich schnappe mir eine Tüte Chips und dann lassen wir uns auf die kleine Couch fallen, die im Wohnzimmer steht. Einen Fernseher besitzen wir bisher noch nicht, weswegen wir meinen Laptop vor uns auf dem Tisch aufstellen.

„Was wollen wir denn schauen?" Fragend sieht Helen mich an.

„Mir egal. Such du doch ruhig was aus", entgegne ich etwas überfordert, weil ich es gewohnt bin, dass eigentlich immer meine beste Freundin Jill die Filme für uns aussucht. Die Filmliebhaberin ist allerdings nun ein Teil eines anderen Lebens, ihres findet nun auf der anderen Seite der Welt in Los Angeles statt und in diesem Augenblick vermisse ich sie schrecklich.

Als würde Helen mein Heimweh spüren, legt sie mir einen Arm um die Schulter und ich lasse dankbar meinen Kopf fallen, bis wir kuschelnd auf dem Sofa sitzen.

„Wie wäre es mit The Last Song?", schlägt meine Mitbewohnerin vor.

Ich nicke stumm, während sie die Netflixbibliothek nach dem Film durchsucht und schließlich auf Play drückt.

In den folgenden zwei Stunden sind nur Miley Cyrus und Liam Hemsworth zu hören, die ihr Abenteuer auf dem Bildschirm erleben, einzig unterbrochen durch Helens herzzerreißendes Schluchzen am Ende des Films.

„Sorry, ich muss bei Liebesschnulzen immer heulen", meint Helen schließlich grinsend. „Wieso weinst du nicht? Alleine weinen ist langweilig."
Ich zucke mit den Schultern. „Das echte Leben ist einfach nicht wie ein Film."

„Sondern besser", kommentiert Helen völlig überzeugt.

„Vielleicht", murmele ich mit einem kleinen Lächeln, während ich an Harry denke.

Das ich ihm in den nächsten Jahren wegen meines Umzugs näher sein kann, hilft, nicht in meinen Sorgen zu ertrinken. Daran klammere ich mich bereits seit Tagen, denn ich brauchte etwas, auf das ich mich freuen konnte, um nicht einfach in Manchester zu bleiben und meinen Mut unter meinen Ängsten zu begraben.

„Du siehst so verträumt aus gerade, das ist total süß", meint Helen lächelnd.

Mit roten Wangen schüttele ich den Kopf. „Tue ich überhaupt nicht."

„Tust du wohl, aber freue dich darüber, denn mein Liebesleben ist wirklich das totale Desaster", seufzt sie. „Meine letzte Freundin ist total daneben gewesen und –" Sie bricht ab und sieht mich unsicher an. „Also ich meine eine feste Freundin, damit es da keine Missverständnisse gibt."

„Du stehst also auf Frauen, Hel?"

„Und auf Männer. Mehr Auswahl", scherzt sie. „Das ist nötig, denn ich habe so schon genug Pech in der Liebe."
Ich lache über ihre Worte und frage mich, wie das überhaupt sein kann, denn Helen scheint der Hauptgewinn für jeden als Partner zu sein.

„Ich hoffe, dass ist okay für dich? Also das ich auf Frauen stehe und sicherlich manchmal auch mal eine mit in unsere Wohnung bringen werde?" Das erste Mal heute verwandelt sich das sonst so selbstsichere Mädchen in eines, das deutlich verletzlicher wirkt.

„Klar, damit habe ich überhaupt kein Problem. Mein Bruder Seth sieht das ganz ähnlich wie du." Ich schenke ihr ein ehrliches Lächeln und drücke sie einmal an mich. „Erzählst du mir von dem Drama deiner letzten Freundin?"

Sie sieht mich erleichtert an. „Wenn du mir dafür von deinem Freund erzählst?"

„Deal." Grinsend schlagen wir ein.

Helen schiebt sich eine Chipsscheibe in den Mund, auf der sie nachdenklich kaut. „Eigentlich gibt es über mich und Clarissa gar nicht so viel zu erzählen. Wir haben uns auf meiner Weltreise in Chile kennengelernt, wo sie gewohnt hat. Dort hatten wir zwei tolle Monate, dann ist mein Visum ausgelaufen und wir haben beschlossen, dass eine Fernbeziehung keinen Sinn macht. Das sie parallel mit ihrer Nachbarin geschlafen hat, hat irgendwie wohl auch dazu beigetragen, dass ich kein Interesse daran hatte, was ernsthaftes aus unserer Beziehung zu machen", erzählt sie mir und zwinkert mir dann zu. „Und jetzt will ich deine Geschichte mit Harry Styles hören, denn anscheinend hast du weniger Pech in der Liebe als ich."
Überrascht starre ich sie an. „Woher weißt du, dass ich mit Harry Styles zusammen bin?"

„Ich bitte doch, Ally. Das weiß wahrscheinlich halb London. Man muss nur einfach ab und an einen Blick in die Zeitungen werfen", klärt sie mich auf.

Ich weiche ein Stück weit zur Seite und sehe auf meine Oberschenkel, um sie nicht direkt ansehen zu müssen. „Bist du deswegen mit mir zusammengezogen?", flüstere ich. „Weil ich Harry Styles' Freundin bin?"

„Nein, garantiert nicht", lacht Helen und ich bin froh darüber, dass sie sich ehrlich anhört. „Nimm es mir nicht übel, aber ich stehe nicht so auf Boybands."

„Das ist gut", erwidere ich erleichtert.

Seitdem Harrys und meine Beziehung an die Öffentlichkeit gekommen ist, haben plötzlich unzählige Leute aus meiner Schule versucht, meine beste Freundin zu werden, weswegen sie zuvor sicherlich nicht einmal meinen Namen kannten. Es ist mir furchtbar unangenehm und ich bin viel vorsichtiger geworden, wem ich was erzähle.

Deswegen bin ich nun wirklich froh, dass das meiner neuen Mitbewohnerin egal zu sein scheint.

„Lass das bloß nicht Harry hören", entgegnet Helen trocken, was mich zum Lachen bringt.

„Keine Sorge, der kann das ruhig hören", grinse ich. „Ich muss schließlich verhindern, dass sein Ego zu groß wird."

In der folgenden Stunde bringe ich sie auf den neuesten Stand meiner Beziehung, wobei ich einige Details auslasse, weil ich Helen zwar vertraue, aber sie dennoch erst flüchtig kenne. Ich bin einfach vorsichtig, dass sie nicht direkt mit allen Informationen zur Presse rennt. So schätze ich sie zwar nicht ein, aber man weiß schließlich nie, was noch passieren wird. Ich habe jedoch die Hoffnung, dass Helen mich nicht enttäuschen wird und als wir uns schließlich eine gute Nacht wünschen, ist es bereits weit nach Mitternacht.

Während ich mich ins Bett fallen lasse, das leicht durch das Mondlicht angestrahlt wird, merke ich zum ersten Mal, wie mich das Heimweh überwältigt. Ich presse meine Augenlider zusammen, in der Hoffnung, schnell Schlafen zu können, doch der Knoten in meinem Magen wird bloß immer großer und schließlich sehe ich auf die wandernden Minuten, bis es endlich spät genug ist, um Harry anrufen zu können. One Direction hat heute ein Konzert in Los Angeles, aber mittlerweile müsste er hoffentlich bereits wieder in seinem Hotelzimmer sein.

Es dauert keine drei Sekunden, bis er abhebt.

„Al? Ist alles okay?" Ich kann seine Besorgnis hören, weswegen ich eilig nicke, bevor mir einfällt, dass er mich gar nicht sehen kann.

„Klar, warum nicht?" Meine Stimme klingt leise, aber fest, was mich erleichtert, weil ich nicht will, dass er merkt, dass ich kurz davor bin zu Weinen. Ich will einfach nur mit ihm reden und mich ablenken lassen.

„Weil es in England mitten in der Nacht ist", entgegnet Harry langsam.

„Helen und ich haben einen Filmabend gemacht und es ist irgendwie ein wenig später geworden. Es war wirklich schön."

Ein erleichtertes Seufzen erreicht meine Ohren. „Das freut mich wirklich, Al. Wie ist Helen denn bis jetzt so?"

Ich drehe mich auf den Rücken, damit ich die Decke über mir anstarren kann.

„Wirklich nett", murmele ich. „Aber was ist, wenn wir uns doch irgendwann total auf die Nerven gehen? Oder ich ihr zu langweilig werde?"

„Du bist nicht langweilig."

Ich grinse leicht. „Doch, das bin ich. Aber das ist auch total okay."

„Bist du nicht", protestiert Harry überzeugt. „Nur weil du dich nicht von einem Haus herunterstürzt, bist du längst noch nicht langweilig. Ich liebe deine Beständigkeit, weil man sich da immer auf dich verlassen kann."

„Helen ist aber jemand, der glaube ich ein Abenteuer nach dem anderen braucht."

„Dann ergänzt ihr euch doch super", entgegnet Harry.

„Ja vielleicht." Seufzend schließe ich die Augen. „Es ist auch gar nicht Helen, die gerade mein Problem ist. Was ist, wenn mir das Studium überhaupt nicht gefällt? Ich London total furchtbar finde?"

Mein Freund schweigt einen Augenblick und als er schließlich redet, ist dort wieder diese Unsicherheit in seiner Stimme, die nur in den seltensten Momenten hervorblitzt. So selten, dass ich sie immer beinahe wieder vergesse, bis sie sich doch wieder meldet. „Findest du London denn furchtbar, Al?"

„Nein, bisher nicht", beruhige ich ihn. „Aber wer weiß, was –"

„Mach dir nicht immer so viele Gedanken", unterbricht er mich und ich liebe es, dass ich das Lächeln mittlerweile wie selbstverständlich aus seiner Stimme heraushören kann."

„Habe ich nicht vor."

Harry lacht leicht. „Du tust es sowieso. Natürlich tust du das, denn du machst dir über alles Sorgen."

„Ist das so schlimm, Hazza?"

„Nein, ist es nicht. Es ist irgendwie süß", entgegnet er. „Wie gefällt dir London denn bisher?"

Ich kuschele mich enger in die Bettdecke ein, die ich vorhin noch behelfsmäßig bezogen habe. Nun bin ich froh darüber, denn der vertraute Geruch erinnert mich an Zuhause.

„Die Stadt ist schön und ich liebe es, dass ich dich viel öfter sehen kann in Zukunft", erwidere ich leise.

„Aber?", fragt Harry, was mich einen Augenblick schockiert, weil ich nicht gedacht hätte, dass er mich so schnell durchschaut. Aber anscheinend bin ich nicht die einzige, die den anderen mittlerweile fast auswendig lesen kann.

„Aber die Menschen sind einfach anders, etwas abweisender und nicht so offen", erwidere ich langsam. „Mach dir keine Sorgen, Harry. Das wird schon werden. Ich muss mich einfach daran gewöhnen."

Ich höre, wie er auf seiner Seite Kreise durch das Hotelzimmer läuft und hoffe bloß, dass er heute den Raum für sich selbst hat, weil seine Bandkollegen ihn ansonsten sicherlich am liebsten umbringen wollen. „Weißt du was, Al? Wenn ich nächste Woche wieder in London bin, dann zeige ich dir die Stadt, damit du siehst, wie toll sie wirklich ist. Versprochen. Dann gefällt es dir bestimmt gleich besser."

Ich lächele bei seinen Worten. „Also bist du nächste Woche wirklich wieder hier?"

„Natürlich", erwidert er. „Da ist die Filmpremiere von This is Us, schon vergessen?"

„Das weiß ich. Aber ich will wissen, ob wir uns wirklich davor schon sehen?"

„Ich gebe mein Bestes. Wenn ich Glück habe, darf ich einen Flug eher zurücknehmen und dann fahre ich direkt zu dir", murmelt Harry. „Aber du solltest jetzt wirklich versuchen zu schlafen. Morgen sieht die Welt schon viel besser aus."

Ich lege mich auf die Seite und ziehe die Beine an.

„Hazza?"

„Al?"

„Bleibst du am Telefon, bis ich eingeschlafen bin?"

„Alles was du willst, Al", flüstert er.

Ich lächele. „Danke."

Ein paar Minuten ist es still zwischen uns, während mein Atem ruhiger wird. Dann jedoch meldet sich Harry erneut zur Wort und die Verletzlichkeit seiner Stimme bohrt sich bis ins Innerste meines Herzens.

„Ich vermisse dich gerade so sehr, Al. Ich habe dich heute Morgen so sehr vermisst und kpssen wollen, dass es wehgetan hat."

Seine Worte zaubern ein Lächeln auf mein Gesicht. „Wie wäre es, wenn du mich in diesen Momenten einfach anrufst? Vielleicht hilft meine Stimme zumindest etwas."

„Ist das okay für dich?"

„Ja, das ist mehr als okay", versichere ich ihm grinsend. „Versprochen."

Harry holt tief Luft. „Dann verspreche ich dir, dass ich dich von jetzt an immer Anrufen werde, wenn ich dich so sehr küssen will, dass es wehtut."

„Ich verspreche dir dasselbe", flüstere ich.

Als ich schließlich einschlafe, mit seinem Atem im Ohr, der mich bis in die Träume begleitet, habe ich kein Heimweh, sondern bin einfach wirklich wunschlos glücklich.

Harry Styles ist mein Risiko, mein gefährlichstes Abenteuer, denn er schafft es, die ganze Welt zum Stillstand zu bringen.


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Ihr Lieben,

Ally hat sich entschieden, ein Leben in London zu wagen. Eine gute Idee?

Was haltet ihr von Helen?

Vielen, vielen Dank übrigens für eure Votes und Kommentare! Das freut mich jedes Mal wieder!

Bis zum nächsten Mal!

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