36 - Die Nacht ist noch jung
Kapitel 36 – »Die Nacht ist noch jung«
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»Cold sweats in the morning
Real life's become boring
I've tripped and I'm falling
But I'll stop tomorrow
Can you catch the feeling?
A small wet cloth to stem the bleeding
The scars on my arms are barely healing
I can see your halo fall, halo fall
I can see your halo fall'
Cause I had it, then I lost it all«
Halo – Boston Manor
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Jimin saß auf einer der beiden Schaukeln auf dem kleinen Spielplatz des Hakdong Parks und zupfte an den kleinen Hautfetzen an seinen Fingernägeln. Ich hatte den Platz neben ihm eingenommen und meine Hände fühlten sich seltsam taub an den Eisenketten an, die in unseren leichten Bewegungen vor sich hin quietschten. Ein ganz seltsames, böses Gefühl hatte sich in meiner Magengegend breit gemacht. Fast wie eine schleichend kommende Übelkeit, die einem immer mehr den Hals hinaufkroch.
»Warum sind wir hier?«, fragte ich ihn schließlich, als ich sein ewig andauerndes Schweigen und den mir ausweichenden Blick nicht mehr aushielt. Zu meinem Schrecken stellte ich fest, dass meine Stimme lange nicht so beherrscht klang, wie ich es mir eigentlich gewünscht hätte.
Jimin zögerte, wagte es dann aber zumindest, zaghaft meine Schuhe anzustarren. »Ich...ähm...nun ja...Es geht um letzte Nacht.«
Natürlich, um was sollte es auch sonst gehen, Park Jimin! Verdammt, er machte mich in diesem Moment wirklich wahnsinnig. Vor Ungeduld, vor Sorge, vor Ungewissheit...aber vor allem vor Angst.
»Du...du meinst den Kuss?«, versuchte ich ihm etwas mehr Starthilfe zu geben, musste aber wieder kläglich feststellen, wie unkontrolliert meine Tonlage dabei variierte.
»Ja...nun...Ich...Ich habe den ganzen Tag an nichts anderes denken können«, murmelte er und fuhr sich wieder durch die schwarzen Haare, die vom Schein der abseitsstehenden Laterne einen goldenen Schimmer bekamen. »Es hat mir im wahrsten Sinne des Wortes den Kopf zerfressen...verstehst du, was ich meine?«
Ich nickte langsam, unsicher, auf was für eine Unterhaltung ich mich da einließ. Alles fühlte sich gerade so schrecklich angespannt und verdreht an.
Jimins frustriertes Seufzen durchschnitt die Nacht wie ein bittersüßes Messer, das viel zu glatt durch das Fleisch schnitt. Fast so, als würde man gar nicht merken, wie es einem die Schlagadern freilegte.
»Weißt du...Ich...ich fand den Kuss schön. Wirklich schön. Aber irgendwas...versteh mich nicht falsch, aber irgendwas hat einfach gefehlt. Es hat sich nicht ganz so angefühlt, wie es eigentlich sollte. Wie ich dachte, dass es sich anfühlen sollte...Und...ich hoffe, du nimmst mir das nicht übel, wenn ich dir jetzt offen und ehrlich sage, dass ich nicht den Wunsch verspüre, es zu wiederholen. Es wäre nicht richtig.«
Das Messer ließ mich endlich seine Anwesenheit spüren, als es schon lange zu spät war. Der Schmerz durchdrang meinen Körper so unbarmherzig und kalt, dass mir für einen kurzen Moment die Luft wegblieb. Das hatte er gerade nicht wirklich gesagt. Das konnte nur ein Scherz sein.
»Weißt du...«, fuhr Jimin nervös fort, als er bemerkte, wie erstarrt ich neben ihm saß. »Ich dachte für eine lange Zeit, dass da mehr zwischen uns ist, aber irgendwie hat mich immer etwas davon abgehalten, auf dich zuzugehen...Letzte Nacht kam es irgendwie über mich. Muss wohl am Alkohol gelegen haben...tut mir echt leid. Das soll aber nicht heißen, dass ich dich nicht als meine beste Freundin wertschätze. Du bist eine der wichtigsten Personen in meinem Leben, Jebi. Und das wird auch so bleiben. Trotzdem...musste ich diese Sache einfach geklärt haben, bevor sie noch irgendwie ausgeartet wäre und ich dich nur unnötig verletzt hätte. Das ist das Letzte, was ich will.«
Verletzen. Er redete vom Verletzen, als hätte er mein Herz mit dieser Aussage nicht schon längst in tausend Stücke gerissen. Als wäre das alles noch an einem Punkt, an dem man »Stopp« sagen und Gefühle verscheuchen könnte, wie die lästigen Fliegen, die wir gestern noch im Wohnzimmer freigelassen hatten. Als wäre das alles so einfach.
Wäre ich nicht trotz meiner bösen Vorahnungen so vor den Kopf gestoßen, wäre das sicherlich der Moment gewesen, in dem ich bitterlich angefangen hätte, zu weinen. Aber jegliche Tränen blieben aus. Einzig und alleine die eisige Kälte fuhr durch meine Venen und lähmte meinen Körper wie ein Nervengift. Meinen Körper sowie meine Zunge. Immer noch starrte ich Jimin an, unfähig, auch nur ein Wort zu seinem Geständnis herauszubringen.
»A-alles gut?«, fragte er mich schließlich mit einer Angst in seinen Augen, die mein Herz erneut zusammenkrampfen ließ.
Nur mit Ach und Krach konnte ich mich einen Ruck geben. Konnte meinen Notstrommodus aktivieren und meine Stimme sprechen lassen, als täte es eine Fremde für mich. Als wäre ich nur eine passive Zuschauerin des Geschehens, was sich vor meinen Augen abspielte.
»Alles gut«, erwiderte ich knapp. »Ist wahrscheinlich besser so, wenn ihr nächsten Monat debütiert.«
Jimin seufzte tief und nickte beflissen, während sich seine kleinen Hände ebenfalls um die Ketten seiner Schaukel schlossen. »Das kommt natürlich auch dazu. Ich bin wirklich sehr nervös deswegen.«
Schön für dich, zischte eine Stimme in meinem Kopf, die ihm plötzlich nur noch alles Schlechte wünschte. Eine frustrierte, zerschmetterte, böse Stimme, die ich da nicht haben wollte. Und doch war sie präsent und verfluchte den Namen Park Jimin. Den Jungen, der mir hier im Hakdong Park im Gangnam-gu das Herz herausgerissen und in tausend Stücke zerrissen hatte. Am besten könnte er die herumliegenden Scherben in einem Rutsch neben dem kleinen Grab von Bamnamu beerdigen. Wie wäre das, hm?
»Ich...ich kann verstehen, wenn du jetzt keine Lust mehr auf die Party hast«, murmelte Jimin, was mich kurz daran zweifeln ließ, ob er das Ganze wirklich als so locker und easy zu vergessen einschätzte. Leider nur kurz, denn in diesem Moment wollte ich ihm nichts Gutes absprechen. Ich konnte es angesichts meines innerlichen Weltuntergangs einfach nicht.
»Lass uns zurück gehen«, brachte ich schließlich irgendwie hervor und sprang von der Schaukel auf. »Ich...Das ist kein Problem für mich, wirklich.«
Ein Glück konnte er in der Dunkelheit nicht sehen, wie wackelig meine Knie eigentlich waren und wie heiß mein Gesicht brannte. In diesem Moment wollte ich aber wirklich nur zurück zur Party. Ich wollte zum Alkohol. Ich wollte mich damit ertränken, noch bevor ich an einer Vergiftung sterben konnte.
»Okay...wie du willst«, murmelte Jimin etwas unsicher und gemeinsam trotteten wir schließlich wieder die kleinen Kieswege des Parks entlang, denen wir auch hier her zum Spielplatz gefolgt waren.
Der ganze Spaziergang zurück zum Dorm fühlte sich an wie ein schlechter Schwarzweiß-Film. Das Bild flimmerte vor meinen Augen und Farben waren nicht vorhanden. Wir schwiegen uns die ganze Zeit an und Jimin wahrte einen gewissen Sicherheitsabstand zu mir. Ich wusste nicht, ob ich darum froh oder nur noch trauriger sein sollte.
Zurück auf der Party führte mich mein Weg direkt in die Küche, ohne dass ich mich auch nur eine Sekunde danach umsah, was Jimin machte. Kommentarlos stellte ich mich neben den mit Gemischen herumexperimentierenden Taehyung und füllte mir ein Glas mit Yoongis liebstem Whiskey auf. Die Hälfte davon leerte ich noch an Ort und Stelle in einem Zug.
»Wooow, hast du es heute eilig?«, feixte mich Tae von der Seite an und stieß seine Hüfte locker gegen meine. »Willst du nicht lieber einen von V's Spezial-Drinks probieren, als dich durch diese widerliche pure Plörre zu quälen?«
»Seh' ich etwa gequält aus?«, erwiderte ich eine Spur zu gereizt, was ihm für den Bruchteil einer Sekunde das Lächeln aus dem Gesicht wischte. Dann jedoch riss er mir einfach mein Glas aus der Hand und begann fröhlich vor sich hinsummend alles mögliche dazuzukippen.
»Du wirst schon sehen...Meine Mischkünste sind legendär.«
Ich wollte Taehyung wirklich nicht auf den Gedanken bringen, dass irgendwas mit mir nicht stimmte, weswegen ich ihn einfach machen ließ. Nach ein paar Augenblicken des Zuschauens merkte ich sogar, dass eine gewisse Dankbarkeit in mir aufstieg. Dafür, dass er mich ablenkte. Dass er mir unbewusst dabei half, den Schmerz zu ertränken, der in mir brannte.
»Moooooon, da bist du ja«, hörte ich plötzlich eine mir altbekannte Stimme hinter mir und zwei Arme schlossen sich um mich. Kurz darauf lag Chaewons Kopf auf meiner Schulter und ich sah ihr dämliches Grinsen aus den Augenwinkeln. „Ich habe dich überall gesucht. Bist du gerade erst gekommen?"
»...So in etwa«, antwortete ich ihr und betete dabei, dass sie nicht weiter nachhakte.
Meine beste Freundin (natürlich in dauerhafter Begleitung ihres Freundes Kwangseok) schleppte mich nach Taehyungs Mix-Eskapade zusammen mit dem Barkeeper ins Wohnzimmer. Irgendwie bekam sie es hin, uns vier noch aufs Sofa zu quetschen, wo ein paar mir fremde Leute zusammen mit Yoongi und Namjoon in ein Gespräch vertieft waren. Ein paar weitere standen im Raum verteilt oder rauchten am Fenster. Offensichtlich schienen die Jungs heute einen Shit auf ihre Regel zu geben, dass nur in der Küche geraucht werden durfte. Dementsprechend zögerte ich auch nicht, als ich eine vereinsamte Schachtel Marlboros auf dem Tisch entdeckte. Als Aschenbecher benutzte ich einen leeren Pappbecher, in dessen letzten Restinhalt die abgeaschte Glut meiner Zigaretten kurz darauf immer wieder zischend erlosch.
Chaewon quatschte mir die Ohren voll mit so vielen Dingen, die ich gar nicht wirklich in mich aufnahm. Mal schien es um einen geplanten Trip mit Kwangseok zu gehen, mal um irgendwelche Partygäste, die sie wohl doch über drei Ecken irgendwie kannte. Ihr Freund ließ dabei nicht einmal seine Hand von ihrem Oberschenkel weichen, wenngleich er auch nicht wirklich etwas zu sagen hatte. Wobei Chaewon ohnehin für uns alle drei redete.
Aufgrund meines fehlenden Abendessens und meiner radikalen Zufuhr von Alkohol spürte ich schon nach relativ kurzer Zeit, wie mein Kopf schummerig wurde und mein Magen brannte. Doch es hielt mich nicht davon ab, weiter Taehyungs Mischungen runterzukippen, als wäre es lediglich Apfelsaft.
Als Chaewon irgendwann in ein wildes Geknutsche mit Kwangseok verfiel und kichernd durch die Wohnzimmertür auf den Flur verschwand, ließ ich meinen verschleierten Blick durch den Raum gleiten. Die Gäste drängten sich dicht an dicht. Irgendwo entdeckte ich Namjoon, der mit einem Glas in der Hand an Seokjins Schulter hing und hemmungslos kicherte. Wäre ich nicht so benommen, hätte ich wahrscheinlich darüber gelacht, dass ich den Leader so betrunken und ausgelassen sah.
Hoseok und der inzwischen auch von mir geflüchtete Taehyung schienen in einer ausgelassenen (und mit eindeutigen Blicken belegten) Unterhaltung mit drei der Trainee-Mädchen zu stecken. Sie teilten sich das letzte Restchen des anderen Endes der Couch...bis plötzlich aus heiterem Himmel Jimin angesprungen kam und sich mit einem herzhaften Lachen quer über Taes Schoß warf.
Mit klopfendem Herzen beobachtete ich ihn dabei, wie er dem erschrockenen Zweitjüngsten einen anzüglichen Blick schenkte, in seine Wange kniff und sich erst dann wieder aufrichtete. Er quetschte sich neben Taehyung und eines der Mädchen, welches rein gar nichts dagegen einzuwenden haben schien.
Ich nahm einen weiteren großen Schluck meines Glases und zündete mir die bereits fünfte Zigarette an. Es kam mir vor, als wäre das alles, was ich irgendwie tun konnte, um die in mir brodelnden Gefühle abzutöten. Rauch und Alkohol. Gift in jeglicher Hinsicht.
»Wirst du jetzt noch zur Kettenraucherin?«
Yoongis Stimme ließ mich herumfahren, als hätte er mich bei etwas wirklich Unsittlichem erwischt. Dabei stand er nur gelassen vor der Couch und beobachtete mich leicht amüsiert dabei, wie ich erschrocken zu ihm hochschaute. Mit einem leichten Ächzen ließ er sich neben mich fallen und zog etwas aus seinem Hemd hervor. Zuerst dachte ich, es wäre ebenfalls eine Zigarette, doch als er sich in den Mund steckte, mit seinem Feuerzeug anzündete und mir kurz darauf ein beißender Geruch in die Nase stieg, wusste ich augenblicklich, dass es keine war.
»Ist das...«, begann ich, schaffte es jedoch nicht, den Satz zu beenden.
Yoongi blies den Rauch aus, wobei er die Augen geschlossen hielt und den Kopf leicht in den Nacken gelegt. Er wirkte fast, als würde er schlafen. Erst, nachdem er fertig damit war, drehte er sich wieder mir zu. Den Joint dabei in einer lässigen Haltung zwischen seinem Zeigefinger und Daumen.
»Ob das meine Art ist, Partys zu überleben? Jap. Ich denke, da liegst du richtig.«
Er nahm einen erneuten Zug und lehnte sich in einer entspannten Haltung in die Polster der Couch. Hätte jemand dem Wort Coolness dabei eine bildliche Darstellung geben müssen, hätte er dafür hergehalten. Ob man Drogen nun verabscheute oder nicht, Yoongi sah so beneidenswert cool aus in diesem Moment.
Er musste mir nicht die Frage stellen, ob ich es probieren wollte. Wie von selbst wanderte meine freie Hand in seine Richtung und im gleichen Moment hob er mir den Glimmstängel hin. Als hätten wir die Gedanken des anderen gelesen. Ob er bei der Gelegenheit noch mehr nachgeforscht hatte? Ob ihm wohl längst bewusst war, was zwischen Jimin und mir... Oh nein, nicht weiter darüber nachdenken.
Wie aus Trotz nahm ich einen tiefen Zug von dem Joint. Schmeckte zum ersten Mal das würzig-beißende Aroma, das Kratzen im Hals... Doch das alles kam mir recht. Genauso wie das dumpfe Gefühl, das sich schon bald in meinen Eingeweiden und Gedanken breit machte. Ja, breit. Genau das machte es mich.
Trotz der Tatsache, dass Yoongi mich nun obendrauf irgendwie mit zum Drogenkonsum angeregt hatte, schien er doch noch immer der alte fürsorgliche Kumpel zu sein, der nicht zuließ, dass ich mich schon um 22 Uhr komplett mit Marihuana abdichtete. Nachdem jeder von uns ein paar Züge genommen hatte, machte er den Joint wieder aus und verstaute ihn in seiner Kippenschachtel mit der Aussage: »Die Nacht ist noch jung.«
Oh ja, die Nacht war noch jung. Und die Nacht sollte sich verdammt nochmal besser auf was gefasst machen.
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Kleiner Disclaimer: Das hier soll keine Drogen verherrlichen. Dass Moon Yoongi hier als „cool" bezeichnet, hat einen bestimmten Zweck und soll auch nochmal darauf hinweisen, wie jung und beeinflussbar sie zu dieser Zeit ist. Denkt bitte nicht, ich habe das hier eingebaut, weil ich es ach so lustig finde. Ich habe einen großen Respekt vor dem Zeug und den solltet ihr auch haben.
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