22 - Kleine Schwestern wissen es auch besser
Kapitel 22 – »Kleine Schwestern wissen es auch besser«
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»In dreams, I meet you in warm conversation
We both wake in lonely beds, different cities
And time is taking its sweet time erasing you
And you've got your demons and darling, they all look like me«
Sad Beautiful Tragic – Taylor Swift
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Fr., 19. Januar 2018
Moonhee
Die Bäume des Seoul Forest waren wie leergefegt und ragten in die Höhe wie knochige Riesen, während die Wiesen in einem schmutzigen Braun vor uns lagen. Yunhee zog ihren Schal tiefer ins Gesicht, als eine eiskalte Windböe ihre Haare zerzauste.
Die Winter in Seoul waren hart und ich fragte mich in diesem Moment nicht zum ersten Mal, warum wir ausgerechnet heute diesen Ausflug machen mussten. Meine kleine Schwester hatte darauf bestanden. Sie liebte den riesigen Park in der Nähe unseres alten Zuhauses seit sie klein war und kein Wetter der Welt konnte sie wohl davon abhalten, ihre Runden durch die Wäldchen und vorbei an den Seen zu drehen. Da ich mich dazu bereiterklärt hatte, etwas mit ihr zu unternehmen, war mir keine andere Wahl geblieben, als mich ihrem Willen zu beugen. Ich hatte es nicht übers Herz gebracht, ihr den Wunsch auszuschlagen.
Yun ging auf die Sungsu Middle & High School, welche direkt an den Seoul Forest angrenzte. Es war damals die nächste zu unserer alten Wohnung gewesen. Heute hatte ich sie direkt am Schulhof abholen können, worauf wir durch den Eingang 5 in den Park gegangen waren. Vorbei an den Tennisplätzen, der Family Yard Stage bis auf die Seebrücke hatte uns unser Weg geführt, den wir mehr sporadisch als geplant nahmen. Die Anlage war ohnehin so groß, dass ich selbst nach meinen früheren unzähligen Besuchen immer noch wie eine völlig Fremde darin herumirrte.
Nun standen wir auf den Holzplanken der Brücke und beobachteten den vor uns liegenden See. Würden die Zwillingswolkenkratzer im Süden und Osten nicht hoch in den Himmel ragen, hätte man wirklich meinen können, man befände sich hier auf dem Land und nicht in einer Millionenmetropole.
»Du hast hier wirklich gefehlt, Unnie«, sprach Yunhee, während sie sich tief über das Geländer lehnte. »Ich kam mir schon vor wie ein Einzelkind. Sohee ist ja auch nie zuhause...«
Sofort kroch wieder das altbekannte schlechte Gewissen in mir auf. Sohee und ich, ihre beiden großen Schwestern, hatten Yun alleine gelassen, als sie koreanisch gesehen gerade mal 14 gewesen war. Dazu kam noch die gewissen Gesprächsthemen zwischen Sohee und mir, die wir immer nur unter uns besprochen hatten. Meine Geheimnisse. Ihre Trainee-Sorgen und Ängste. Und natürlich war es unvermeidlich gewesen, dass Yun Wind davon bekommen hatte.
Die Rolle der Jüngsten im Bunde zu haben, musste immer irgendwie schwierig für sie gewesen sein. Auch, wenn sie nie die Probleme mit unseren Eltern gehabt hatte, wie ich. Auch, wenn sie sich nach außen hin immer stark gegeben hatte, so wusste ich doch, dass es Yun bis heute beschäftigte, warum Sohee und ich untereinander ein engeres Band pflegten, als sie mit uns. Und ich war ehrlich – hätte ich nicht die verdammten Poster an ihren Wänden gesehen, wäre es mir an diesem Punkt nun wirklich leichter gefallen, darüber zu entscheiden, ihr alles rund um BTS zu erzählen...
Wenn Yun nur wüsste, dass ich erst am Montag Jin und V gegenübergestanden hatte. Dass Taehyungs Nummer sich nun unfreiwillig wieder auf meinem Handy befand! Zwar hatte er mir bisher nicht mehr geschrieben, doch ich war fest davon überzeugt, dass es sich nur um eine Frage der Zeit handeln musste, bis das passierte.
»Jetzt bin ich ja wieder hier«, sagte ich schließlich und bekam sofort das Gefühl, dass das nicht ansatzweise irgendwas wieder gut machte. Aber was sollte ich sonst sagen? Ich fühlte mich gefangen und das zermarterte meinen Kopf.
Yunhee schwieg eine Weile, ehe sie schließlich das Gesicht zu mir drehte und mir eine ernste Miene offenbarte, die ich so vorher noch nie an ihr gesehen hatte.
»Willst du mir wirklich nicht sagen, was du und Sohee so Wichtiges unter vier Augen besprechen musstet?«
Oh man. Das kam natürlich wie gerufen. Als hätte das Karma beschlossen, mich nun an Ort und Stelle für mein Verhalten zu bestrafen. Ich dachte fieberhaft nach, was ich meiner kleinen Schwester auf diese Frage antworten sollte. Ich wollte sie nicht wieder vertrösten und genauso weitermachen, wie bisher. Sie weiterhin ausschließen. Aber was sollte ich machen? Sie durfte nichts von der Sache mit BTS wissen! Sie durfte es einfach nicht. Dafür stand einfach viel zu viel auf dem Spiel. Obendrauf hatte Yunhee unfairerweise nie die Chance bekommen, ihre Vertrauenswürdigkeit zu beweisen. Was war ich nur für eine miese große Schwester...
Für mich stand schnell fest, dass ich das irgendwie wieder gut machen musste. In eine richtige Richtung lenken. Und als mein Blick hinter Yun fiel, wo gerade ein Pärchen Hand in Hand die Brücke entlang schlenderte, kam mir plötzlich eine rettende Idee.
»Es gibt da etwas...das ich nur Sohee bisher erzählt habeq, begann ich vorsichtig, ohne meiner Schwester dabei in die Augen zu sehen. Trotzdem spürte ich ihren neugierigen Blick auf meiner Wange kleben, und es kostete mich einiges an Kraft, die folgenden Worte über die Lippen zu bringen.
»Während meiner Zeit in London...da habe ich jemanden kennengelernt. Sein Name ist Noah. Und...nun ja...wir waren für sehr lange Zeit ein Paar.«
Yunhee riss die Augen auf und starrte mich an wie einer der Karpfen, die gerne ihre Köpfe durch die Wasseroberfläche des Sees steckten. »Du hattest einen Freund?! In London??«
Ich nickte. »Das war der Grund, weswegen Sohee mit mir reden wollte. Ich habe es wirklich niemandem außer ihr erzählt...und das tut mir dir gegenüber wirklich unglaublich leid.«
Yun starrte mich weiterhin an, als hätte ich ihr gerade eröffnet, dass die Erde eigentlich eine Scheibe wäre. »Aber...aber warum sprichst du in der Vergangenheit? Seid ihr nicht mehr zusammen?!«
»Nein, ich habe Schluss gemacht. Kurz bevor ich wieder nach Seoul gekommen bin.«
»Hast du ein Foto??«
Ich atmete tief durch und zog mein Handy hervor. Als ich meine Galerie öffnete, war ich wohl darauf bedacht, dass Yunhee nicht meine BTS-Screenshots sehen konnte. Erst, als Noahs Gesicht den ganzen Bildschirm füllte, drehte ich das Gerät so, dass sie freien Blick darauf hatte. Aus reiner Vorsichtsmaßnahme hielt ich das Handy jedoch weiterhin in einem Abstand, der verhinderte, dass ihre Finger einfach weiterscrollen könnten. Sicher war sicher.
»Das ist nicht dein Ernst! Wie kannst du es wagen, so ein Schnittchen abzuschießen?!«, rief sie empört. »Man oh man, wenn Eomma und Appa davon erfahr–«
»Das werden sie nicht, Yun!«, fiel ich ihr bestimmend ins Wort. »Es geht sie einen feuchten Dreck an. Und außerdem ist es eh vorbei. Es tut nichts mehr zur Sache.«
Meine kleine Schwester funkelte mich kurz an, ehe sie einen tiefen theatralischen Seufzer von sich gab. »Sie sind nicht mehr so bescheuert wie früher, Unnie. Sie habe auch aus der Sache mit Sohee gelernt.«
Nie hätte ich erwartet, dass solche Worte jemals ihren Mund verlassen würden. Dass Yunhee sich inzwischen auch über die Ernsthaftigkeit der K-Pop-Industrie klar war. Natürlich...ich hatte nicht mehr das kleine Mädchen von damals vor mir, das auf naive Weise Sohee zujubelte.
»Ich werde Eomma und Appa nichts sagen, keine Angst«, murmelte sie schließlich und hängte sich wieder über das Geländer der Brücke. »Aber du solltest wirklich aufhören, ihnen immer noch Vorwürfe zu machen.«
Ich schnaubte. »Damit werde ich erst aufhören, wenn sie anfangen zu akzeptieren, dass ich nicht ihre kleine Marionette bin und meinen eigenen Weg gehe.«
Yunhee drehte mir den Kopf zu und lächelte mich aufmunternd an. »Das werden sie sicher, wenn du deinen ersten Job in der Hand hast. Aber solange selbst du ihnen das Gefühl gibst, dass du nicht weißt, ob du mit dem Auslandsstudium das Richtige getan hast, werden sie weiterhin versuchen, dich zu lenken. Sie wollen nur das Beste für dich.«
Nachdenklich starrte ich auf die sich im Wind kräuselnde Oberfläche des Sees. Strahlte ich wirklich so eine Unzufriedenheit aus? Wenn Yun da recht hatte, könnte das wirklich eine Erklärung für das Verhalten unserer Eltern sein. Was aber noch eine andere Frage in mir aufkommen ließ... Seit wann gab meine kleine Schwester solch weise Worte von sich?! Oh man, ich hatte wirklich viel zu viel von ihrer Entwicklung verpasst. Plötzlich kam ich mir mehr wie das bockige Kind als die Zweitälteste in unserem Bunde vor.
»Wollen wir weiterlaufen?«, fragte ich Yunhee, statt noch etwas zu der Sache zu sagen. Ich wusste ohnehin nicht was. Sie nickte und gemeinsam liefen wir in Richtung der Community Center Waterside Cafeteria auf der westlichen Seeseite.
»Lass uns da lang gehen, ich muss aufs Klo«, jammerte Yun und steuerte an der nächsten Kreuzung gezielt nach rechts. Immerhin eine von uns, die genau wusste, wo man hinmusste.
Meine kleine Schwester ging schnellen Schrittes die ziemlich kahle Baumallee entlang, während ich ein wenig hinterherhinkte. Mein Blick wanderte weiter über die riesigen Hochhäuser, die hinter den Wiesen und Wäldchen in den Himmel ragten wie graublaue, verglaste Riesen, bis hin zu den kleinen Pfaden, die vom Hauptweg in verschiedene Richtungen abführten. Bis ich schließlich wie abrupt stehen blieb.
»Moon, beeil dich! Ich muss wirklich ganz dringend«, quengelte Yun von weiter vorne, als sie bemerkte, dass ich innegehalten hatte. Mein Kopf brauchte einige Sekunden, um die Information zu verarbeiten.
»Ich äh...ich warte da hinten, okay?«, stotterte ich los und zeigte in Richtung des Wäldchens, das rechts von uns lag.
»Was willst du denn am Spielplatz?«, wunderte sie sich und zog verwirrt die Stirn kraus.
»Ich...ich war da früher oft...Ich würde ihn mir gerne nochmal ansehen«, gestand ich schließlich die halbe Wahrheit, was meine kleine Schwester ein Glück zufrieden stellte.
»Okay, ich beeil mich. Wir treffen uns dann dort«, sagte sie schnell, ehe sie hastig in Richtung der Toiletten verschwand.
Ich verlor keine Zeit damit, ihr nachzuschauen. Meine Füße hatten sich bereits selbstständig gemacht und waren dem abzweigenden Pfad gefolgt. Bäume und Sträucher reihten sich an den Weg, bis vereinzeltes Kindergeschrei schließlich an meine Ohren drang und mir einen ekelhaften Stich in die Magengrube versetzte.
Mit einem Mal waren alle Gedanken an meine Eltern und mein Fehlverhalten gegenüber Yunhee wie weggewischt und von einem neuen Schrecken ersetzt. Ich hätte es wissen müssen. Noch vor ein paar Tagen war mir die Erinnerung daran bei meinen zwischenzeitlichen Google-Attacken zufällig entgegen gesprungen. Ein Foto. Es war mir bekannt vorgekommen. Und nun wusste ich auch, warum.
Der Woodland-Spielplatz eröffnete sich vor mir. Ein paar in dicke Winterjacken eingepackte Eltern saßen an dessen Rand und ließen ihre noch dicker eingepackten Kinder auf den bunten Spielgeräten inmitten des weitläufigen runden Sandkastens herumturnen. Mein Blick klebte jedoch an etwas anderem, das fast direkt an den Weg um den Spielplatz herum angrenzte.
Das Rohr. Unser Rohr.
Vorsichtig trat ich näher an die graue Betonröhre heran, deren Sinn sich mir bis heute noch nicht erschlossen hatte. Vorsichtig zog ich mein Handy heraus und suchte aus meinen Screenshots den raus, der erst ein paar Tage alt war. Der, über den ich mir wegen seines Déjà-vu-Effekts so lange den Kopf zerbrochen hatte. Wie war mir dieser Ort nur entfallen? Konnte ich inzwischen etwa doch Dinge gut verdrängen?!
Das Bild zeigte Yoongi. Wie er in eben diesem Rohr saß, für die Love-Yourself-Poster-Collection.
Es jagte mir einen eiskalten Schauer über den Rücken, das mannshohe Gebilde wieder vor mir zu sehen. Wie von selbst ging ich darauf zu, fuhr mit den Händen über den eiskalten Beton und trat ins Innere ein. Durch das circa zehn Meter entfernte Loch am anderen Ende sah man einen parallelen Weg und die vielen Bäume. Ich war immer noch so klein, dass ich mich kaum bücken musste, um den Tunnel zu durchqueren. Und an den Wänden und an der Decke befanden sich immer noch in großen Abständen die Löcher, durch die am heutigen Tag auf gespenstische Weise Licht fiel. Nicht Regen...so wie damals.
Fast hörte ich wieder ihre Stimmen an den Wänden widerhallen, den Donner über uns und den prasselnden Regen. Ich schloss meine Augen, ließ mich ungeachtet der frostigen Kälte in der Mitte auf den Boden fallen und lehnte meinen Oberkörper an die Innenseite. Ein dämmriges Licht umgab mich und die Stimmen der Kinder auf dem Spielplatz wirkten plötzlich meilenweit entfernt. Mein Körper schien mit dem Beton zu verschmelzen, als würde ich darin versinken.
Als würden die Erinnerungen an Jimins Geburtstag mich unbarmherzig in sich einsaugen.
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