04 - Klopf, Klopf, hier die gewalttätigen Erinnerungen

Kapitel 4 – »Klopf, Klopf, hier die gewalttätigen Erinnerungen«


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»'Cause I knew you
Steppin' on the last train
Marked me like a bloodstain, I
I knew you
Tried to change the ending
Peter losing Wendy, I
I knew you.«

cardigan – Taylor Swift

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Sa., 6. Januar 2018

Moonhee


All die Jahre war mir immer wieder durch den Kopf gespukt, was aus der Band geworden war, deren Debut ich sogar damals miterlebt hatte. Doch nie wäre mir in den Sinn gekommen, dass sie es tatsächlich so weit bringen würden. Und mit »so weit« meinte ich die Schranktür meiner Schwester!

Erinnerungen flogen wieder in meinen Kopf, wie nahe am Ruin ihre Agentur damals gewesen war. Wie ich später noch über meine große Schwester von dem Skandal um die Girl-Group GLAM erfahren hatte und mir damals nur dachte, dass das auch das Aus für die Boy-Band bedeuten musste. Sie waren immer so am ackern gewesen...und anscheinend hatte es sich dann wohl doch noch bezahlt gemacht.

Sie sahen alle so anders aus. So viel erwachsener und...verdammt, was für ein Wasser gaben sie ihnen da bitte bei diesem Entertainment?? Oder waren da etwa sogar Schönheits-OPs im Spiel gewesen? Es wirkte alles so surreal...sie wirkten surreal! War diese Veränderung bei Sohee nach ihrem Debut auch so krass gewesen? Auf diesem Poster jedenfalls, auf dem sie alle sieben wild durcheinander in lässigen Posen auf einer braunen Ledercouch rumhingen und in die Kamera schauten, hatte ich manche von ihnen wirklich erst auf den zweiten Blick zuordnen können.

Jimin gehörte definitiv dazu... Wo waren seine Pausbäckchen hin verschwunden? Fast hätte ich ihn mit seiner inzwischen definierten Kieferpartie und der neuen Frisur überhaupt nicht wiedererkannt. So gut wie nichts zeugte mehr von dem kindlichen, runden Gesicht, das ich damals noch jeden Tag gesehen hatte. Doch da waren immer noch die süßen beiden Muttermale auf seiner Stirn, die seligen Augen, die vollen Lippen, seine makellose Haut...und ein Schlafzimmer-Blick, der wahrscheinlich jedem Menschen auf diesem Planeten, ob männlich oder weiblich, den Atem rauben konnte.

»Moon?! Lebst du noch?«

Yuns Stimme riss mich aus meiner Starre und ich begann reflexartig zu blinzeln, um mich von dem Anblick des Posters loszureißen. Mein Kopf spielte verrückt und ich schaffte es nur schwer, vor meiner kleinen Schwester eine unauffällige Miene zu wahren. Um Himmels Willen, sie durfte nicht erfahren, dass ich...nein. Alleine der Gedanke daran jagte einen ekelhaften Schauer über meinen Rücken.

Yunhee musterte mich misstrauisch, was mich dazu veranlasste, fieberhaft nach einer Ausrede zu suchen. Ich wollte auf keinen Fall riskieren, dass sie einen Verdacht schöpfte, ich könnte Bangtan Sonyeondan kennen. Nichts, aber auch gar nicht durfte darauf hindeuten!

»Ich...ähh...«, stotterte ich los und ließ meinen Blick unfreiwillig wieder zurück zum Poster schweifen. »Ich dachte nur, dass...«

»Jimin und V waren auf derselben Schule wie du, das weiß ich«, platzte es aus Yunhee heraus, während ihre Augen sich weiteten und mein Herz mir sofort in die Hose rutschte. Sie trat mit einem wachsenden Lächeln einen Schritt auf mich zu.

»Ich habe Sohee schon oft gefragt, ob sie die beiden kannte, aber sie meinte nur Nein. Vielleicht hast du sie ja mal gesehen...?«

»Selbst, wenn es so gewesen wäre, kann ich mich nicht daran erinnern«, erwiderte ich und war heilfroh, diese Lüge so gefasst über meine Lippen zu bringen. Normalerweise ließ ich mich nicht so schnell aus der Bahn werfen, doch dieses Poster an Yuns Wand hatte mich völlig unvorbereitet und dann auch noch an einem wunden Punkt getroffen.

Die Schultern meiner kleinen Schwester sackten ein wenig nach unten und sie senkte enttäuscht ihren Kopf. Ich dagegen musste mich zusammenreißen, nicht weitere Schulzeit-Erinnerungen auf mich einprasseln zu lassen. Diese schienen gegen eine Tür in meinem Kopf zu hämmern, als hätte sie jemand aus ihrem Winterschlaf gerüttelt. Und die Gewalt, mit der sie dabei vorgingen, machte mir gehörig Angst.

»Ich dachte nur, ich hätte diesen...Suga schon mal irgendwo gesehen«, fügte ich schnell noch hinzu, bevor in Yun wieder Gedanken aufkommen konnten, warum ich so komisch auf das Poster reagiert hatte. »Aber als ich ihn da auf dem Gruppenbild gesehen habe, wurde mir klar, dass ich mich geirrt habe.«

»Es gibt keinen anderen wie Suga«, säuselte Yun und schmachtete über das Einzelfoto von ihm, was mir noch einmal gehörig den Magen umdrehte. Das war einfach alles viel zu seltsam. Wenn Yun nur wüsste...

In diesem Moment hallte zu meiner großen Erleichterung Eommas Stimme durch die Wohnung, die uns zum Essen rief. Schnell folgten wir ihrem Ruf in den Wohnbereich, wo unsere Eltern den Tisch bereits eingedeckt und mit den verschiedensten Banchan vollgestellt hatten. Eine Reisschüssel reihte sich an Schalen voller Kimchi, Sukju Namul und Eomuk Bokkeum. Als Fleischbeilagen gab es Jangjorim und Wanja Jeon. Alles Gerichte, an die ich mich nur zu gut noch erinnerte. Meine Mutter hatte an ihren Kochgewohnheiten wohl nicht viel geändert.

»Sohee wird morgen vorbeikommen«, erwähnte Appa fast schon beiläufig, ehe er sich ein großes Stück des mit Sojasoße marinierten Rindfleischs in den Mund schob. »Sie hat sich extra für dich ein wenig Zeit genommen.«

Alleine, dass diese Aussage schon wieder wie ein Vorwurf klang, nahm mir einen gehörigen Teil der Vorfreude, meine große Schwester nach all der Zeit wiederzusehen. Ich presste meine Lippen zu so etwas wie ein Lächeln zusammen und nahm schnell eine Stäbchenladung voll Reis, um darauf nichts antworten zu müssen.

Den Rest des Essens nutzten meine Eltern und vor allem Yunhee dazu aus, mich über London auszufragen. Ich dankte mir im Stillen, dass ich ihnen trotz der dreijährigen Beziehung nie etwas von Noah erzählt hatte. Eomma und Appa waren in dieser Hinsicht immer noch viel zu koreanisch-konservativ. Wahrscheinlich hätten sie ihn, wenn ich es ihnen gesagt hätte, sofort nach Seoul bestellt und ihn darauf mit ihrer herrischen Art in den Boden gestampft. Nicht zu vergessen, dass sie mir am Ende versucht hätten, die Beziehung madig zu reden. Doch nun war sie zum Glück vorbei gegangen, ohne dass die beiden je ein Wort davon mitbekommen hatten.

Trotz all dem waren die Fragen, die sie mir über Englands Hauptstadt stellten, alles andere als das, was man sich von seiner Familie wünschen würde. Die Missgunst konnte ich über den ganzen Tisch hinweg durch die vielen heimischen Essendüfte riechen. Meine Eltern waren und blieben nicht begeistert von meinem Abgang. Einzig und allein Yunhee wirkte so, als würde sie mich tatsächlich um die Zeit in London beneiden. Trotzdem war ich heilfroh, als das Essen und damit der Abend endlich für beendet erklärt wurden.

Kaum hatte ich in die Dunkelheit meines neuen Zimmers betreten und die Tür hinter mir geschlossen, konnte ich nicht anders, als erst einmal tief durchzuatmen. Das war alles schon wieder zu viel. Zu viel Input für so eine kurze Zeit. Erst das anstrengende Wiedersehen mit meiner Familie und jetzt auch noch...sie. Sie alle. An der verdammten Schranktür meiner kleinen Schwester.

Vielleicht waren sie alle mitunter der größte Grund gewesen, warum ich dieses Land verlassen hatte. Und nun kam ich zurück und musste mich einer nur noch größeren allgegenwärtigen Präsenz von ihnen stellen. Obendrauf dem damit einhergehenden Demut und dem Gefühl von Nutzlosigkeit. Was hatte ich im Vergleich zu den Jungs schon für einen Erfolg zu verzeichnen? Ein abgeschlossenes Studium in der Fotografie und nun keine nennenswerten Jobaussichten. Ganz große Klasse.

Sie dagegen hatten ihre kühnsten Träume erreicht. Hatten es an die verposterten Wände von Teenie-Zimmern geschafft und obendrauf in ihre Vorstellungen von Traumtypen. Vielleicht sollte ich wirklich damit anfangen, mein Wissen über ihre Band aufzufrischen, bevor mich noch mehr solcher böser Überraschungen erwarteten wie eben bei Yunhee...

Ich ließ mich auf mein Bett fallen und starrte seitlich aus den zwei bis zum Boden reichenden Fenstern. Erbarmungslos glitzerten die Lichter Seouls in mein Zimmer und hielten den Raum zu hell, als dass ich so je einschlafen könnte. In unserem alten Apartment hätte das nicht passieren können...aber sollte ich es deswegen vermissen?

Ich war durcheinander. Mehr als das. Mein Kopf schien noch so geschändet von den nicht allzu lange zurückliegenden Prüfungen und dem Abschied von London zu sein, dass diese ganzen neuen oder auch alten Eindrücke mich völlig überforderten. In England war ich zu einer Person frei von meinen alten Fehlern geworden. Ein neuer Mensch mit einer neuen Chance, alles besser zu machen. Doch nun kam ich nach Seoul zurück und alles schien mich wieder in die Knie zu zwingen. Mich daran zu erinnern, was geschehen war. Was für einen Mist ich gebaut hatte.

Noah...der Gedanke an ihn machte das Ganze nur noch schmerzhafter. Wie gerne wäre ich jetzt bei ihm, in seinen Armen. Aber nein. Ich musste aufhören, an ihn zu denken und endlich damit klarkommen, dass ich ihn wahrscheinlich ohnehin nie wiedersehen würde. Trotzdem hatte ich ihm versprochen, den Kontakt zu halten. Und vor allem auch, mich zu melden, wenn ich gut gelandet war. Verdammt!

Schnell zog ich mein Handy hervor, auf dem mir schon drei verpasste Anrufe und zehn neue Nachrichten in KaTalk entgegensprangen. Natürlich alle von ihm. Seufzend öffnete ich sein Chatfenster und begann, eine Antwort auf seine ganzen Nachfragen, ob alles okay sei, zu tippen.

[21:13] Ich: Tut mir leid, ich habe total vergessen mich zu melden. Bin inzwischen zuhause, also alles gut.

Kurz wartete ich, ob er noch online kam und die Nachricht las. In London war es gerade mal Nachmittag und so standen die Chancen dazu eigentlich ganz gut. Und tatsächlich behielt ich recht: Keine paar Sekunden nach dem Absenden verschwand die gelbe 1 und zeigte mir an, dass er die Nachricht geöffnet haben musste.

Nach seinem Lesen meiner Worte schienen Sekunden wie Stunden zu vergehen. Würde er überhaupt antworten? So langsam tat mir das grelle Licht meines Bildschirms in den Augen weh und ich bekam den Drang, die Standby-Taste an der Seite zu drücken...doch dass Noah immer noch online war und wahrscheinlich von seinem Apartment am anderen Ende der Welt auf dasselbe Chatfenster starrte, hielt mich davon ab.

Dann, endlich, tippte er eine Antwort. Gespannt starrte ich auf mein Handy und wusste nicht einmal warum. Was erwartete ich denn? Dass er mir diesen schrecklichen Tag retten würde? Ihm ging es seit der Trennung selbst extrem dreckig. Was also erhoffte ich mir?

[21:15] Noah: Ich vermisse dich, Moon.

Mein Herz zog sich zusammen, doch ich zwang mich, keine Tränen in meine Augen zu lassen. Wieder einmal schaffte er es, mir mit nur so wenigen Worten das Gefühl zu geben, einen riesigen Fehler gemacht zu haben. Vielleicht war ich wirklich nicht bemüht genug gewesen, mir einen Job in London zu suchen. Vielleicht hatte ich wirklich nur halbherzig Bewerbungen verschickt, wie er es mir im ersten wütenden Moment der Trennung vorgeworfen hatte. Ja...vielleicht war ich einfach selbst schuld.

Doch wenn diese Vermutung der Wahrheit entsprach, dann musste es tief in mir einen anderen Grund dafür geben. Ich war nicht faul...aber ich ließ mich oft zu sehr von meinen Emotionen leiten. Bewusst oder unbewusst. Das war schon damals in meiner Schulzeit immer ein Problem gewesen. Der Umzug, das Verhalten meiner Eltern, die Bevorzugung meiner Schwestern... All das hatte letztendlich da mit reingespielt.

Aber wenn es keine Faulheit war, was war es dann? Was hatte mich dazu verleitet, zu provozieren, wieder nach Südkorea zurück zu müssen? Zu meinen Eltern, den schlechten Erinnerungen, der Einsamkeit...So sehr ich mir hier in meinem neuen Bett auch den Kopf zerbrach, ich konnte es mir nicht erklären.

Ich spürte, wie mich diese Erkenntnis schwach werden ließ. Wie ich wieder damit anfing, mir Vorwürfe zu machen und die Tür in meinem Schädel wahrzunehmen, die Fäuste von innen einzuschlagen drohten. Fast schon hörte ich wirklich das Krachen, als das Holz zerbarst und die alten Zeiten und Erinnerungen wie ein lähmendes Nervengift in meine Gedanken strömten. Und ich konnte rein gar nichts mehr dagegen unternehmen.

Dunkle Haare, von der Jugend und Pubertät geprägte Gesichter, hippe Skater-Klamotten und kratzende Schuluniformen. Das alles blitzte in mir auf, wie Scherben versteckt im Sand. Wie Wölfe im Schäfchenkostüm.

Ohne auch nur daran zu denken, meine Koffer zu öffnen und in bequemere Klamotten zu schlüpfen, rollte ich mich auf meinem Bett zusammen und schloss die Arme um meine Beine. Nur so, glaubte ich, würde ich das erneute Hereinbrechen der Erinnerungen vielleicht heil überstehen. Mein Handy landete auf meinem Nachttisch, ohne eine Antwort an Noah gesendet zu haben. Für ihn war gerade kein Platz mehr in meinen Gedanken. Stattdessen formte sich ein Gesicht aus der Dunkelheit. Ein Gesicht, dessen Anblick mir noch nach all den Jahren das Herz zerschmetterte, wie kein Mensch je zuvor.

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