44 | Dark side
»I danced alone with the ghost of yesterday.«
Reece Fäuste donnerten gegen den Boxsack, der dadurch mit Schwung in die entgegengesetzte Richtung schoss, bevor er wieder zurück zu ihm pendelte. Der Gitarrist wich aus und wieder schlugen seine Hände gegen den Stoff.
Schweiß perlte von seinem Gesicht, seine Haare klebten ihm an der Stirn. Sein Körper war bereits überanstrengt. Das normales Pensum seines Trainings hatte Reece schon lange überschritten.
Er biss die Zähne zusammen und schlug erneut auf den Boxsack ein. Im Gegensatz zu seinem Körper war sein Kopf noch vollkommen klar. Heiße Wut flutete erneut über ihn hinweg, ließ seine Treffer härter werden. Obwohl seine Hände einbandagiert waren, spürte er, wie sie protestierten.
Die Minuten verstrichen und irgendwann gab Reece schließlich auf. Obwohl dieser Sport für ihn sonst wie ein Ventil wirkte, spürte er, dass er heute nicht zur Ruhe kommen würde. Er lief zurück in die Umkleiden, warf sich sein Shirt über und verließ das Studio.
Die kühle Luft des späten New Yorker Herbst wehte ihm entgegen, kühlte seine verschwitze Haut ab. Verwelkte Blätter wehten über die Straßen, wurden vom Wind davon getragen. Wie immer war die Stadt von geschäftigem Treiben erfüllt.
Reece ließ sich, angekommen bei Nathans Auto, das er ihm für heute geliehen hatte, auf den Fahrersitz gleiten. Während er zurück zur WG fuhr, drifteten seine Gedanken ab.
Von außen betrachtet hätte man denken können, dass Reece glücklich sein müsste. Gemeinsam mit Nathan, Nylah und Ewan war er schließlich nach New York gekommen, um seinen Traum zu verwirklichen. Und viel schneller, als er es jemals für möglich gehalten hatte, schienen diese Wünsche nun Realität geworden zu sein.
Vor zwei Wochen war das Musikvideo erschienen und hatte die Band Serendipity quasi über Nacht berühmt gemacht. Gefühlt auf ganz Social Media wurde das Lied als Hintergrundmusik verwendet, es entwickelten sich neue Trends mit dem Song. Viele Radiosender spielten plötzlich ihre Musik. Einige Presseberichte gingen sogar so weit, die Band als die Newcomer des Jahres zu beschreiben.
Reece hatte sein ganzes Leben darauf hingearbeitet. Und trotzdem war er nicht glücklich.
Er schluckte, seine Kehle fühlte sich plötzlich eng an. Er bekam keine Luft mehr.
Zum gefühlt tausendsten Mal heute dachte er an Ada. An ihre ehrlichen, sanften, blauen Augen, die ihn gleichermaßen aufwühlten, wie beruhigten. An ihre blonden Locken, die bei nahezu jeder Bewegung, um ihr Gesicht tanzten.
Seine Gedanken wanderten weiter, erinnerten ihn daran, wie seine Finger ihre Haut berührt hatten, wie ihre Lippen geschmeckt hatten, wie sie sich seiner Berührung entgegengestreckt hatte, wie sie für ihn gestöhnt hatte.
Er schluckte. Ihm wurde heiß und der Platz in seiner Hose wurde schlagartig geringer.
In Montreal hatte Reece ständig irgendwelche Bettgeschichten gehabt. Doch damals war es nur Lust gewesen, die ihn angetrieben hatte.
Mit Ada war alles ganz anders gewesen. Jede Berührung, jeder Kuss ließ nicht nur seinen Körper glühen, sondern auch seine Seele. Sein Herz hatte die ganze Zeit wie wild in seiner Brust geschlagen, gleichzeitig hatte sich eine gewisse Ruhe über ihn gelegt. Reece Leben war immer rasant gewesen, risikobehaftet. Bei Ada fühlte er sich sicher.
Doch genau deswegen musste er sich von ihr fernhalten. Ada hatte keine Ahnung davon, was damals vorgefallen war. Und er wusste, dass sie ihn so oder so von sich stoßen würde, wenn er sie darüber in Kenntnis setzen würde. An manchen Tagen konnte er ja kaum seinem eigenen Spiegelbild begegnen.
Früher hatte er nie verstanden, wieso Menschen, die einander zugeneigt waren, Abstand voneinander nahmen. Doch seit er in Ada verliebt war, konnte er das nachempfinden.
Sie verdiente jemand besseren. Jemanden, der nicht so verkorkst war. Jemand, der sich über seine Gefühle wirklich im Klaren wahr.
Seit Tagen redete er sich das selbst weiter ein. Er wusste, dass es besser war, dass er sie mied. Und trotzdem erwischte er sich dabei, wie er ihr schreiben wollte, sie um ein Treffen bitten wollte.
Er erinnerte sich noch genau an den Moment, als er ihr gesagt hatte, dass sie einen Fehler gemacht hatten. Sie sah so verletzlich aus, er hatte in ihren Augen gesehen, wie etwas in ihr zerbrach. Und sein Herz war bei diesem Anblick ebenfalls zerbrochen.
Reece holte tief Luft und rieb sich über das Gesicht. Dieses ganze Grübeln brachte ihn auch nicht weiter. Je schneller er sich damit abfand, dass es besser war, wenn er Ada nicht mehr traf, umso besser.
Er stieg aus dem Auto aus und lief hoch in den dritten Stock. Kurz grüßte er Ewan, der jedoch keine Reaktion zeigte und ging dann ins Badezimmer.
Reece zog sich das Shirt über den Kopf, entledigte sich dann dem Rest seiner Klamotten und stieg unter die Dusche. Das Wasser prasselte auf ihn herab, wusch den Schweißfilm von seinem Körper.
Länger als notwendig blieb Reece unter der Dusche, bevor er schließlich das Wasser abstellte und sich abtrocknete. Er wickelte sich das Handtuch um die Hüften und verließ das Bad. Der Dampf hatte das Atmen erschwert.
Nachdem er sich schließlich etwas übergeworfen hatte, ging er zurück ins Wohnzimmer. Ewan saß auf dem Sofa, im Fernsehen lief irgendeine Sendung. Seine Augen waren zwar auf den Bildschirm gerichtet, aber er schien das Geschehen gar nicht wirklich zu verfolgen.
Ewan war blass. Die dunklen Ringe unter seinen Augen fielen dadurch nur noch mehr auf. In seiner rechten Hand hielt er eine Bierflasche, auf dem Couchtisch vor ihm standen zwei weitere.
Reece presste die Lippen aufeinander, ein bitterer Geschmack breitete sich in seinem Mund aus. Seine Vergangenheit schien sich immer neue Methoden auszudenken, um ihn heimzusuchen.
„Vielleicht reicht es langsam mit dem Bier", schlug Reece beiläufig vor.
Ewan reagierte für einige Sekunden gar nicht, bevor er ihm einen düsteren Blick zuwarf. „Kümmer dich um deinen eigenen Scheiß."
„Wir haben später einen Auftritt", erinnerte er seinen Bandkollegen, doch dieser zuckte nur unbeteiligt mit den Schultern.
Reece hasste es, Ewan so zu sehen. Viel zu oft hatte er dabei zugesehen, wie Leute ihr Leben wegwarfen. Unter anderem auch seinem eigenen Spiegelbild.
Er holte tief Luft und setzte sich zu Ewan aufs Sofa. Außer den Hintergrundgeräuschen, die aus dem Fernseher erklangen, war nichts zu hören.
„Wirst du irgendwann darüber mit uns reden?", fragte Reece schließlich.
Ewan starrte demonstrativ an ihm vorbei. „Nein", antwortete er bloß. Frustration machte sich in dem Gitarrist breit.
„Dann willst du deine Sorgen wohl jetzt für immer im Alkohol ertrinken?"
Ewan nickte mit einem provozierenden Lächeln, wofür Reece ihn am liebsten erwürgt hätte. „Das hast du doch auch dein halbes Leben lang."
Ein Muskel an Reece Kiefer zuckte. „Und deshalb weiß ich auch so gut, dass das absolut nichts bringt."
„Oh, natürlich! Auf einmal ist der kleine Reece erwachsen geworden und hat das ganze Leben durchschaut", Ewan warf die Hände in die Luft, „ich meine es ernst, kümmer dich um deine eigenen Probleme. Seitdem wir hier sind, glotzt du Ada an, aber irgendwie kriegst du es ja trotzdem nicht auf die Reihe mit ihr. Sonst bist du doch auch nicht so prüde."
Reece warf ihm einen warnenden Blick zu. „Das geht dich gar nichts an."
Ewan lächelte zufrieden. „Oh, da hab ich wohl einen wunden Punkt getroffen." Der Drummer erhob sich vom Sofa, prostete ihm mit der halbleeren Flasche zu und verließ die Wohnung.
Reece sah seinem Freund oder dem, was von ihm übrig geblieben war, hinterher.
Wie hatte alles nur so schief laufen können?
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