33 | One step closer

»Do not be ashamed of the wars your soul has fought to save itself.«

In diesem Augenblick wurde Reece wieder bewusst, wieso er Montreal so hasste. Überall lauerte seine Vergangenheit auf ihn, als ob ein Fluch auf ihm und dieser Stadt lasten würde.

Anders konnte er sich diesen Zufall, dass er genau hier auf Rosalie traf, nicht erklären. Die Wahrscheinlichkeit dafür musste gegen null gehen und doch stand sie vor ihm.

Blanke Panik breitete sich in seinem Körper aus, sein Herz schlug mit einem mal viel zu schnell gegen seinen Brustkorb. Reece wünschte sich an jeden anderen Ort als diesen. Er wollte das hier jetzt nicht erleben.

Die vergangenen Monate in New York waren so gut verlaufen, dass er beinahe vergessen hatte, dass es auch andere Tage gegeben hatte. Es kam ihm vor, als ob ihn das Schicksal auf den Boden der Tatsachen zurückholen wollte. Ihn daran erinnern wollte, dass er die Fehler, die er hier begangen hatte, nie loswerden konnte.

Alles in ihm schrie danach, dass er auf dem Absatz kehrt machen und zurück in Nylahs Elternhaus rennen sollte. Dass er einfach so tun sollte, als ob das gerade nicht passierte.

Er konnte nicht mal genau sagen, warum sich seine Füße doch dagegen entschieden. Vielleicht lag es an der Art und Weise, wie Rosalie ihn anlächelte. Denn dieses Lächeln spiegelte keinerlei Wut wieder. Stattdessen wirkte sie ehrlich erfreut, ihn zu sehen.

Er schluckte und überquerte die Straße. Obwohl es sich so anfühlte, als ob jeder Muskel in seinem Körper verkrampft wäre, bemühte er sich um ein entspanntes Lächeln.

„Hey", entgegnete er, froh, dass seine Stimme nicht brach.

„Ich hatte gar nicht damit gerechnet, dich hier zu sehen! Es ist gefühlt schon eine Ewigkeit her."

Er nickte steif. „Ja, das stimmt", antwortete er knapp und blickte unsicher zu Rosalies Begleitung.

Ihre Augen folgten seinem Blick. „Oh, das ist Riley! Mein Freund", stellte sie ihn vor. Dieser lächelte ihn freundlich an und kleine Lachfalten kräuselten sich um seine blauen Augen, als er Reece die Hand reichte.

„Freut mich", sagte Reece.

„Was machst du hier?", erkundigte sich seine damalige Freundin nun bei ihm.

Reece verstaute seine zitternden Hände in der Hosentasche. „Wir besuchen unsere Familien. Nylah und Ewan sind auch dabei."

„Ah verstehe! Also, quasi die Band? Dann ist Nylahs Freund auch dabei? Wie hieß er noch gleich... Kol?"

Reece lächelte ein wenig gequält. Rosalie hatte natürlich direkt ins Schwarze getroffen. „Nein, Kol ist nicht dabei. Er... ist aus der Band ausgetreten."

Riley schien zu bemerken, dass das Gespräch zunehmend privater wurde, da er unauffällig ein paar Schritte zur Seite zu machen, damit sich die beiden ungestört unterhalten konnten.

„Was? Wirklich?", Rosalies Augenbrauen schossen in die Höhe, „darf ich fragen, wieso? Oder möchtest du nicht darüber sprechen?"

Reece rieb sich unruhig über den Nacken. „Wenn ich die Antwort auf diese Frage hätte, würde ich sie dir geben. Aber es war für uns alle sehr... abrupt."

Rosalie nickte, sie schien zu merken, dass ihm das Thema unangenehm war.

„Und wo wohnst du mittlerweile? Weil du meintest, dass ihr nur zu Besuch seid", erkundigte sie sich.

Reece erzählte ihr davon, dass sie alle nun in New York lebten. Und dass Nathan Kols Platz als Bassist eingenommen hatte.

„Ich komme dann auf jeden Fall mal zu einem Auftritt!", versprach Rosalie euphorisch, bevor ihre Miene sanft wurde, „ich finde es schön, dass ihr immer noch an eurem Traum arbeitet."

Er lächelte unsicher. „Und wie ist es dir ergangen?"

Sie stieß den Atem aus. „Wenn ich ehrlich sein soll: Nicht gut. Aber ich bin auf dem Weg der Besserung. Ich habe einen erfolgreichen Aufenthalt in der Entzugsklinik hinter mir. Das war schon mal ein Schritt in die richtige Richtung. Außerdem habe ich dort Riley kennengelernt. Wir unterstützen uns quasi gegenseitig."

Reece schluckte. Er wusste, dass nicht nur er mit den Folgen von damals zu kämpfen hatte. Doch Rosalie hier zu sehen und das aus ihrem Mund zu hören, machte das noch realer. 

„Es freut mich, dass es dir besser geht. Wirklich." Reece machte eine Pause, bevor er weitersprach :„Wir waren damals ganz schön dämlich."

Rosalie nickte resigniert. „Ja, das ist wohl noch untertrieben."

„Hast du etwas von Quentin gehört?", fragte er vorsichtig nach, unsicher, ob er die Antwort hören wollte.

„Ja, ich besuche ihn ab und an. Ihm geht es den Umständen entsprechend gut, aber er muss noch eine Weile absitzen."

"Verstehe", antwortete Reece und biss sich auf die Innenseite seiner Wange. Über all das zu sprechen, was er jahrelang verdrängt hatte, war wirklich nicht einfach. Und trotzdem hatte er das Gefühl, dass es notwendig war. Dass er nur dann irgendwann damit abschließen könnte.

„Hör mal, ich...", er holte tief Luft, „es tut mir leid, wie das damals gelaufen ist. Wir waren alle mitverantwortlich an dem, was passiert ist und ich habe mich einfach aus dem Staub gemacht, um meinen eigenen Hintern zu retten. Und ich schäme mich bis heute dafür."

Reece hatte sich diese Tatsache nie eingestanden, aber er merkte, dass die Worte der Wahrheit entsprachen, als sie seinen Mund verließen. Er schämte sich so abgrundtief dafür, dass ihn jedes Mal Gewissensbisse quälten, wenn er nur an seine Heimat dachte.

Rosalie schüttelte den Kopf. „Reece, da gibt es nichts wofür du dich entschuldigen oder schämen musst... Wie du selbst gesagt hast, sind wir alle daran beteiligt gewesen. Wir waren alle schuldig", sie seufzte.

„Ganz am Anfang war ich tatsächlich wütend gewesen, dass du einfach gegangen bist, aber im Nachhinein habe ich verstanden, dass es keinen anderen Ausweg gegeben hat. Wir waren alle alt genug und haben gewusst, was wir gemacht haben. Naja, zumindest mehr oder weniger."

Reece nickte. Es war irgendwie ein komisches Gefühl all die Dinge, die ihn seit Jahren belasteten, auszusprechen. 

„Wenn dann bin ich wütend auf uns alle: Dass erst Deans Tod notwendig war, um uns wachzurütteln." Rosalie schluckte. Die Betroffenheit war ihr deutlich anzusehen.

Für einen Moment schwiegen beide, trauerten um den verstorbenen Freund, während sie eine zweite Chance bekommen hatten.

„Aber genau deshalb sind wir es Dean schuldig, uns zu bessern. Für ihn weiterzuleben", sprach Rosalie nun weiter und lächelte traurig. Reece schluckte an dem riesigen Kloß vorbei, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Er würde nicht weinen. Denn, egal, wie kitschig es klang, er hatte Angst, dass er nie wieder würde aufhören können. Dass all der Kummer über ihn hereinbrechen und ihn nie wieder loslassen würde.

Rosalie schien Reece inneren Kampf zu bemerken, da sie nun tief Luft holte und ihn aufmunternd anlächelte. 

„Okay, lass uns wieder zurück zu erfreulicherem. Wie gefällt dir New York? Wie läuft es dort für euch?"

Reece schmunzelte über diesen ungelenken Themenwechseln. „Ganz gut, die Stadt ist großartig. Wir sind vor kurzem bei einem Label unter Vertrag untergekommen."

„Das klingt super! Habt ihr schon Groupies, die euch verfolgen?", scherzte Rosalie und Reece schüttelte lachend den Kopf.

„Nicht ganz", verneinte er.

„Das glaub ich dir nicht! Oder gibt es da etwa jemanden, von dem ich nicht weiß?", ärgerte sie ihn. Reece schaute wohl ziemlich ertappt drein, da Rosalie begeistert in die Hände klatschte.

„Der Herzensbrecher Reece hat also eine Freundin! Dass ich das noch erlebe."

„Quatsch, wir sind nicht zusammen. Wir sind nur... befreundet", erklärte er, unschlüssig, wie er den Zustand zwischen Ada und sich beschreiben sollte. Das Kribbeln, das ihn überlief, wenn er an sie dachte.

„Ihr seid noch nur Freunde", korrigierte sie ihn mit einem breiten Grinsen im Gesicht.

„Ja und ich glaube, dass es besser ist, wenn das so bleibt."

Rosalie zog eine Augenbraue nach oben. „Was soll das bedeuten?"

Reece biss sich unschlüssig auf die Lippe. Er hasste es, über seine Gefühle zu sprechen. Er hasste es, wie verletzlich und angreifbar er sich dadurch machte. Aber heute hatte er schon so oft gegen dieses Prinzip verstoßen, dass es nun auch keinen Unterschied mehr machen würde.

„Das soll bedeuten, dass ich nicht gut für sie bin. Das klingt jetzt wie aus diesen ganzen romantischen Filmen, aber ich meine es ernst: Wir haben so eine beschissene Vergangenheit hinter uns und sie ist so... zerbrechlich. Ich habe in meinem Leben schon zu viele Dinge kaputt gemacht. Und sie hat sowas nicht verdient. Sie verdient jemanden, der sie wirklich liebt. Ich weiß ja noch nicht mal genau, was dieses Gefühl bedeutet oder wie er sich anfühlen soll", er schnaubte. Die Konfrontation mit seiner Vergangenheit hatte seine Mauern eingerissen und all seine Sorgen brachen aus ihm heraus.

„So einen Quatsch habe ich schon lange nicht mehr gehört", antwortete Rosalie trocken und Reece sah sie überrascht an.

Sie gab ihm keine Chance  noch etwas weiteres zu sagen: „Ich verstehe, dass du dich so fühlst. Aber das ist wirklich völliger Schwachsinn. Jeder macht Fehler. Und auch wenn unsere sehr schwerwiegend waren und immer noch sind, bedeutet das nicht, dass wir nicht das Recht darauf haben, glücklich zu sein", Rosalie blickte ihn eindringlich an, „bitte, stoß niemanden von dir weg, nur, weil du Angst hast, etwas falsch zu machen."

Reece wendete seinen Blick ab. Er wusste, dass Rosalie Recht hatte. Natürlich hatte sie Recht. Aber er befürchtete, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er diese Wahrheit tatsächlich glaubte.

„Danke für deine Worte", sagte er schlicht und Rosalie seufzte.

„Du bist immer noch so ein Sturkopf wie damals."

„Manche Dinge ändern sich eben nicht." Er versuchte sich an einem Lächeln und Rosalie zog ihn plötzlich in eine Umarmung. Überrascht hielt er mitten in der Bewegung inne, bevor er die Geste sanft erwiderte.

„Gib dir selbst nochmal eine Chance, okay?", bat sie ihn.

„Ich versuche es", antwortete er und löste seine Arme von ihr.

Sie lächelte sanft. „Ich werde dich besuchen und nachprüfen, ob du das auch wirklich tust."

„Ich mache mir jetzt schon in die Hosen vor Angst", neckte er sie und sie gab ihm einen Klaps auf den Arm.

„War schön, dich wiederzusehen." Reece war überrascht, dass er es wirklich ernst meinte.

„Fand ich auch. Pass auf dich auf, Reece."

Er nickte. „Du auch", antwortete er und schob seine Hände in die Hosentaschen. Langsam wandte er sich um und lief zurück Richtung Haus. Er spürte Rosalies Blicke im Rücken, bis er die Haustür hinter sich schloss.

Nylah, die mit den anderen am Tisch saß, bemerkte ihn zuerst. „Hast du dein Ladekabel gefunden?", fragte sie ihn.

„Oh", machte Reece bloß.

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