16 | I feel like I'm drowning
»I know people are temporary, but please just this once, be permanent.«
Nathan goss sich einen Kaffee ein und versuchte Ewan und Lexi, die auf dem Sofa herumturtelten, zu ignorieren.
Dieses Unterfangen hatte sich in den letzten Tagen jedoch als äußerst schwierig herausgestellt, weil Lexi ihn so sehr an sie erinnerte. An Ryth. Die Frau, die damals als erstes sein Herz gestohlen hatte.
Die Ähnlichkeit war so überwältigend, dass Nathan für einen Moment, als er Lexi das erste Mal gesehen hatte, an seiner mentalen Gesundheit gezweifelt hatte: Die roten, lockigen Haare, die schlanke Statur, die feinen Sommersprossen, die Lippen, die Nase.
Das einzige was anders war, waren die Augen. Denn Ryths Augen waren, im Gegensatz zu Lexis grünen, strahlend blau gewesen. Und diese Tatsache hatte Nathan unsanft ein weiteres Mal auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt: Ryth war fort.
Damals, als das Ganze vor drei Jahren passiert war, hatte er gedacht, dass er niemals darüber hinweg kommen würde. Dass er für immer einen Geist lieben würde.
Jede Nacht träumte er von ihr, jeden Tag wünschte er sich, sie noch einmal sehen zu dürfen. Er hatte ohne Hoffnung gelebt, hatte sich selbst verloren. Als Ryth gegangen war, hatte sie einen Teil von ihm mitgenommen. Monatelang, jahrelang stand Nathan an einem Abgrund.
Doch mit der Zeit wurde es einfacher. Er konnte nicht mal sagen, wie genau es passiert war. Aber irgendwann merkte er, dass er wieder lachen konnte. Dass ihm nicht beim Gedanken an Essen übel wurde und dass er ohne Albträume schlafen konnte. Irgendwann war Nathan wieder fähig zu leben.
Das bedeutete nicht, dass er nicht noch tagtäglich an Ryth dachte, ihr Grab so oft besuchte, wie er konnte. Aber er konnte nun sogar mit einem Lächeln an sie zurückdenken.
Ein Grund, warum es ihm irgendwann wieder besser gegangen war, war die Therapie, die er etwa zwei Monate nach dem Tod von Ryth begonnen hatte. Zuerst hatte er sich vehement dagegen gewehrt. Er hatte diese irrationale Vorstellung gehabt, dass er leiden musste, da Ryth es verdient hatte, dass jemand so um sie trauerte.
Doch nach langem Drängen seiner Eltern und von Daphne war er über seinen Schatten gesprungen und zur Therapie gegangen. Anfangs war es ihm unangenehm gewesen, über seine Gefühle zu reden, darüber wie es sein Herz zu zerreißen schien, auch nur an Ryth zu denken.
Aber je besser er Mrs. Andrew, seine Therapeutin, kennenlernte, desto einfacher fiel es ihm. Sie gab ihm das Gefühl zuzuhören, seinen Schmerz nachzufühlen. Natürlich war das ihr Job, aber dennoch hatte sie ihm immens geholfen. Und dafür war er ihr für immer dankbar.
Nathans Therapie war mittlerweile schon längst abgeschlossen. Auch, wenn es manchmal Rückfälle gab, in denen der Verlust Ryths ihn zu erdrücken schien, konnte er dennoch sagen, dass es ihm deutlich besser ging.
Und wenn ihn den Tod seiner Freundin irgendetwas gelehrt hatte, dann, dass das Leben viel zu kurz war. Es gab keine Zeit für Ängste, Sorgen und Zweifel. Jeden Tag sollte man über seinen Schatten springen, etwas Neues ausprobieren, sich selbst überraschen.
Vielleicht war Nathan deshalb Reece spontanem Vorschlag gefolgt, als die Band nach einem neuen Bassisten gesucht hatte.
Er konnte sich noch ganz genau an den Moment erinnern, in dem Reece Nachricht damals auf seinem Handy erschienen war, nachdem er gerade aus der Dusche gestiegen war. Für einen Moment hatte Nathan tatsächlich gezweifelt, da ihm das für einen Moment einfach zu spontan vorgekommen war.
Doch als er sich selbst dabei ertappt hatte, wie er nach Ausreden gesucht hatte, hatte er sich angezogen und war mit dem Auto direkt zum Studio gefahren. Denn er wusste, dass er sonst sein ganzes Leben dieser Möglichkeit, dieser Chance hinterher getrauert hätte.
Und offensichtlich hatte sich sein Mut ausgezahlt.
Nathan hatte schon früher in kleineren Bands mitgespielt, aber irgendwie hatte es nie ganz gepasst. Doch bei Serendipity hatte er sich von Anfang an gut aufgehoben gefühlt. Und das obwohl er erst seit wenigen Wochen ein Teil der Band war. Zum ersten Mal seit langem fühlte er sich so, als wäre er angekommen.
Wie die Zukunft der Band aussehen würde, konnte keiner sagen. Doch darüber machte sich Nathan keine Gedanken. Er freute sich auf das Hier und Jetzt, auf Musik machen mit Menschen, die er mochte.
„Nathan?", Reece Worte rissen ihn aus seinen Gedanken. „Ich geh schon mal ins Studio, Nylah wartet dort. Willst du mitkommen?"
Nathan leerte seine Tasse und nickte.
„Ich komm dann nach, sobald ich Lexi zum Bahnhof gebracht habe", verkündete Ewan vom Sofa und die Resignation über diese Tatsache, war aus seiner Stimme rauszuhören.
⸻
Wenig später waren Reece und Nathan am Studio angekommen, wo bereits Nylah wartete. Sie saß auf einem Stuhl und kritzelte etwas auf einem Blatt Papier herum.
„Hey, bist du schon lange hier?", erkundigte sich Reece bei Nylah.
Sie sah nicht mal auf, als sie ein „Hmm, 20 Minuten" murmelte.
„Was schreibst du denn?", fragte Nathan nun.
„Einen Song", verkündete Nylah mit einem kritischen Blick auf das Blatt Papier.
Nathan setzte sich auf einen freien Stuhl neben Nylah und richtete seine Augen nun auch auf das Blatt. Er versuchte zu entziffern, welche Worte dort standen, aber das scheiterte kläglich.
„Wie kannst du diese Hieroglyphen lesen? Und ich dachte, dass ich eine schlimme Schrift hätte."
Nylah gab Nathan einen Klaps auf den Arm. „Sei nicht so gemein. Meine Lehrer haben mir damals sogar schlechtere Noten gegeben, weil das Schriftbild für sie so wichtig war."
Nathan grinste. „Tut mir leid. Dann erzähl mir zumindest, worum es in dem Lied gehen soll."
Für einen Moment schien Nylah zu zögern, bevor sie begann, zu erklären: "Ich dachte mir, dass es vielleicht schön wäre, wenn wir ein Lied über New York hätten, in dem wir, beziehungsweise ich, darüber singen, wie wir die Stadt gerade empfinden und wahrnehmen. Wir sind hier ja mit einem Traum hergekommen und ich glaube, dass der Song dann auch eine schöne Erinnerung für uns sein kann. In ein paar Jahren können wir dann vergleichen, ob unsere Wünsche und Gefühle, die wir dort schildern, noch gleich sind oder ob sich etwas verändert hat."
Nathan nickte. „Das klingt gut. Mich hast du abgeholt."
Von Reece, der an Ewans Schlagzeug hantierte, war nur ein Grummeln zu hören, was in seinem Universum wohl als Zustimmung zu werten war.
„Wir könnten uns später, sobald Ewan da ist, mal zusammen dran setzen", schlug Nylah vor.
„Ich kann da zwar nicht allzu viel beitragen, aber können wir machen", bestätigte Nathan und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Wieso das denn?" Nylah sah ihn verwundert an.
Nathan zuckte mit den Schultern. „Ich hab immer das Gefühl, dass ich nicht so gut mit Worten bin."
Die schwarzhaarige Sängerin zog eine Augenbraue hoch. „Der Mann mit dem Astralkörper und dem unvergleichlichen Charme, so wie du es immer beschreibst, hat eine Schwäche? Das kann ich kaum glauben. Wie kriegst du denn dann die Frauen rum, wenn nicht mit schmeichelhaften Worten?"
„Meine Taten können sehr überzeugend sein", erklärte Nathan mit einem flegelhaften Grinsen, wobei die Art und Weise, wie er das sagte, nicht viel Platz für Spekulationen zuließ, was er damit meinte.
Für einen Moment glaubte Nathan zu sehen, wie sich Nylahs Wangen rot färbten, bevor sie grinsend den Kopf schüttelte und sich wieder ihrem Blatt zuwand.
Nathan ließ sich etwas in seinen Stuhl sinken und schaute Nylah dabei zu, wie sie weiter irgendwelche komischen Zeichen, die wohl Buchstaben verkörperten sollten, auf das Blatt kritzelte und sie danach einige Male mit einem Radiergummi wieder entfernte.
Ihre schwarzen Haare fielen ihr leicht ins Gesicht und immer wieder hielt sie einige Momente inne, um über den Text nachzudenken.
Als Nathan Nylah so ansah, merkte er nicht zum ersten Mal, dass irgendetwas anders war.
Seit Ryths Tod hatte er nichts wirkliches mehr mit anderen Frauen gehabt. Eine lange Zeit war es ihm überhaupt nicht in den Sinn gekommen, wieder zu daten, weil er so beschäftigt damit war, mit dem Verlust seiner Freundin klarzukommen. Außerdem hatte er den irrationalen Gedanken gehabt, dass er Ryth damit quasi betrug. Das war natürlich kompletter Schwachsinn. Zum Glück ließ sich das schnell in der Therapie aufarbeiten, weshalb er diesen Gedanken irgendwann abgelegt hatte.
Doch auch danach war sein Liebesleben eher unspektakulär verlaufen. Er hatte über einige Wochen ein paar Dates mit einer Frau namens Elaine gehabt. Nathan und sie hatten sich gut verstanden, aber über das körperliche ging die Beziehung nicht hinaus und recht schnell hatte Nathan das ganze dann doch beendet. Es hatte sich irgendwie nicht richtig angefühlt. Irgendwann hatte Nathan sich mit dem Zustand seines Liebeslebens abgefunden und auch nicht mehr wirklich Mühe gegeben.
Aber je länger er nun Nylah kannte, desto mehr merkte er, dass sich irgendwas verändert hatte. Zunächst hatte er das nur für Freundschaft gehalten.
Er mochte es, dass mit Nylah alles so entspannt war. Nathan konnte mit ihr lachen und wenn die beiden zusammen scherzten, fühlte es sich so an, als ob alles in Ordnung war. Es hatte nicht lange gedauert, bis er jedoch merkte, dass er etwas zu interessiert an ihr war.
Dieses Gefühl, dass man sich plötzlich nach einer Person sehnte und verzerrte; dass man mit den Gedanken immer wieder bei einem Menschen landete, selbst wenn man es nicht wollte; dass der Tag sofort besser wurde, wenn man diesen besonderen Jemand dann endlich wiedersah... Das hatte nichts mehr mit reiner Freundschaft zu tun.
Nathan hatte niemals gedacht so etwas, in solch einer Intensität, wieder zu empfinden.
Und dieses Gefühl berauschte und verängstigte ihn gleichermaßen.
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