missglücktes Treffen

Kapitel 1

Seraphin

Sie war nicht gut darin, zu flirten. Warum sie es dennoch tat oder besser irgendwie versuchte, war wohl ihrer Verzweiflung darüber geschuldet, immer noch nicht verpartnert zu sein, und das, obwohl sie sich einmal geschworen hatte, sich davon nicht unter Druck setzen zu lassen.

Als Frau aus gutem Hause und mit dem Spiegelbild, das ihr jeden Morgen entgegenstarrte, sollte sie sich darüber eigentlich keine Sorgen machen müssen. Einen Mann oder mehrere zu finden, die ihr Leben mit ihr verbringen wollten, sollte nicht so mühsam sein, nicht so verzweifelt.

Aber weder ihr Familienname noch ihr perfektes Aussehen konnten darüber hinwegtäuschen, dass Seraphin McLoo einfach unerträglich zu sein schien. Dabei war sie das nicht mit Absicht. Wirklich nicht.

Ihre Eltern hatten ein Dutzend Psychologen zu Rate gezogen, sich stets geduldig und hingebungsvoll gezeigt, aber nichts von alldem hatte Seraphin wirklich dabei helfen können, ihr Temperament zu zügeln. Sie war buchstäblich unkontrollierbar, für sich und ihre Mitmenschen.

Wie oft hatte sie herumgeschrien, obwohl sie wusste, dass es vollkommen übertrieben war? Wie oft hatte sie Streitigkeiten vom Zaun gebrochen, die keinen Grund hatten? Und wie oft hatte sie nur Sekunden nach diesem Ausbruch alles bereut, sich geschämt und sich noch mehr gehasst, als ihr unabsichtliches Wutopfer es jemals fertigbringen konnte?

Zu oft.

Doch sie konnte es nicht beherrschen. Das Kochen in ihr, die Wut, gerade wenn sie Ungerechtigkeiten gegenüberstand, ihr Temperament. Auch jetzt wusste sie, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie auch diese Situation wieder durch ihr hitziges Gemüt versaute. Innerlich zählte die gehässige Stimme in ihr bereits die Sekunden.

Ein zum Scheitern verurteiltes Date.

Dass Seraphin sich nicht leiden konnte, war kein Geheimnis. Jeder der hoch bezahlten Therapeuten hatte ihr das diagnostiziert, und dennoch hatte sich daran nichts geändert. Obwohl das irgendwie auch der Kern ihres Problems zu sein schien. Doch so sehr sie auch versuchte, sich mehr zu akzeptieren, konnte sie ihren eigenen Anblick kaum ertragen.

Dabei hatte sie doch eine ganze Liste an Eigenschaften, die sie als gut einstufen würde. Sie war wunderschön. Das war keine Eitelkeit, sondern eine schlichte Tatsache, die ihr tatsächlich ziemlich wenig bedeutete, abgesehen davon, dass es ihr dabei half, doch immer mal wieder Männer anzulocken. Dann war da natürlich ihre Intelligenz, die sie bestrebt war auszubauen und jeden Fortschritt ihres Wissensstandes penibel überprüfte. Und natürlich mochte sie auch die wenigen ruhigen Momente, die sie hatte, nachdem sie so richtig Dampf abgelassen hatte.

Die Momente, in denen sie sich ausgelaugt und im Einklang mit der Welt empfand. Die Momente, in denen sie vor Erschöpfung zusammenbrach und einfach mal nichts fühlte. Diese liebte sie besonders und leider waren es auch diese wenigen gestohlenen Augenblicke, die sie sich regelrecht von sich selbst erkämpfen musste. Ein Kampf, der sie immer irgendwie zur Verliererin machen würde.

Aber sie hatte ihre Tricks. Sport war eine ihrer bewährtesten Arten, in diesen Zustand der wundervollen Erschöpfung zu kommen, am liebsten eine Sportart, bei der sie auf etwas einschlagen konnte. Leider hielt so was nur kurz an. Am einfachsten und nachhaltigsten war dieser Zustand durch stundenlanges lernen, recherchieren und analysieren von hochkomplexen politischen Themen zu erreichen.

Das war etwas, was sie gut konnte.

Doch ihre Unfähigkeit, einen Mann zu finden, war schwerer zu beseitigen. Sie hasste es, ausgerechnet darin zu versagen. Sie hasste es, dass es etwas gab, wofür sie nicht einfach eine Formel auswendig lernen konnte und bei dem es tatsächlich nur auf ihre größte Schwäche ankam. Ihren Charakter.

Sie hasste es, in einer so simplen Sache zu versagen. Sie war eine schöne, junge Frau aus gutem Hause in einer Bevölkerungsstruktur, wo auf jede Frau ungefähr drei Männer kamen. Manchmal sogar weniger. Da sollte sie eigentlich die freie Auswahl haben. Eigentlich.

Bis jetzt war sie noch keinem Mann begegnet, der so verzweifelt zu sein schien, sich eine tickende Zeitbombe wie Seraphin McLoo ans Bein zu binden, und sie konnte es ihnen nicht einmal übel nehmen. Weil sie sich selbst hasste. Sie hasste es, äußerlich perfekt zu sein und im Inneren so kaputt. Sie hasste es, dass es ihr etwas ausmachte, dass es notwendig war.

Fairerweise musste sie sich eingestehen, dass niemand in ihrer Familie ihr dahin gehend besonders viel Druck ausübte, aber sie machte sich nichts vor. Sie war eine Investition für die Familie McLoo, die sich auszahlen musste. Denn wenn sie es nicht schaffte, Nachkommen zur Welt zu bringen, würde die Familie mit ihr aussterben. Ein Horrorszenario für jeden einzelnen Menschen auf diesem Planeten. Und dazu war ein Mann nötig, und wenn sie bedachte, dass eine erfolgreiche Schwangerschaft bis zu einem Jahrzehnt dauern konnte, wollte sie sich langsam, aber sicher sputen, diesen Mann zu finden.

Sie wollte das alles. So sehr. Dabei wusste sie nicht einmal, ob sie der Welt damit einen Gefallen tat, sich fortzupflanzen. Sie war einfach so unerträglich.

So schloss sich der Teufelskreis und obwohl sie sich diesem bewusst war, schaffte sie es nicht, daraus auszubrechen, schaffte es nicht, ihren überragenden Intellekt dafür einzusetzen, ihm zu entkommen, und das machte sie wieder wütend. Es war zum Verzweifeln. Sie war ein hoffnungsloser Fall!

Ihre Eltern schienen das allerdings anders zu sehen, denn sonst würde Seraphin vor ihren digitalen Bildschirmen hocken und sich auf die Podiumsdiskussion für das morgige Seminar vorbereiten, statt hier zu sitzen und sich irgendwie davon abzuhalten, es einmal mehr zu versauen.

Der bedauerliche Mann für dieses Wochenende war Christoph Biney, der Sohn einer Immobilienbesitzerin, die nicht mal annähernd so angesehen war, wie sie es gerne sein würde. Immobilien brachten in einer Welt mit nicht einmal einer Milliarde Menschen und weiter schrumpfenden Bevölkerungszahlen wenig Gewinn, und das durfte der junge Mann vor ihr nun ausbügeln, indem er sich dafür geopfert hatte, mit Seraphin diesen Abend zu verbringen. In der Hoffnung, es mit ihr auszuhalten und damit in einer großen Familie Fuß zu fassen, die zu den fünfzehn größten Familien dieses Kontinents gehörte. Theoretisch waren sie sogar DIE einflussreichste Familie dieses Planeten, denn sie hatten Kontakte bis nach ganz oben in die Weltregierung, aber diese Tatsache behielten die McLoos lieber für sich. Es war sicherer so.

„Du willst also in die Politik?", fragte Christoph und trank etwas von dem Rotwein, wahrscheinlich, um sich die Situation schönzutrinken.

Sie saßen hier erst seit dreißig Minuten. Seraphins Mutter hatte diese Verabredung organisiert, und Seraphin war ihr dafür sehr dankbar. Sie selbst hatte seit einem halben Jahr kein Date mehr ausmachen können.

Seraphin war im dritten Semester, und langsam hatte sich in der Universität und wahrscheinlich in der gesamten Stadt bereits herumgesprochen, wie unausstehlich sie war, sodass es niemand mehr wagte, sie anzusprechen. Mittlerweile lehnten die Männer sogar direkt ab, wenn Seraphin sie fragte, und sie fragte viele Männer. Wirklich viele. Einen besonderen Anspruch hatte sie längst nicht mehr. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass sie sich das nicht leisten konnte.

„Ja. Du doch auch, sonst würdest du es doch nicht studieren?", fragte sie und wusste, dass ihre Stimme etwas zu forsch klang. Schnell warf sie ein Lächeln hinterher, das aber immer etwas unheimlich auf die Männer wirkte und dafür sorgte, dass sie die Stirn runzelten. Verdammt, sie musste sich zusammenreißen!

Christoph studierte nicht an ihrer Universität. Natürlich nicht, sonst hätte er nie zugestimmt, sie zu treffen.

Dennoch schien ihm langsam zu dämmern, warum alle Männer einen großen Bogen um Seraphin machten, und seine anfängliche Freude, über ihre Schöhnheit, verflog in Rekordgeschwindigkeit. Dabei war noch nicht mal das Essen gekommen und das war wahrlich alles, was diesen Abend noch retten konnte.

Callahan Nolans Essen war unvergleichlich, und einen Tisch hier zu bekommen, sprach dafür, wie viel Mühe sich Seraphins Mutter machte, um diesem Abend zum Erfolg zu verhelfen. Seraphin hatte jedes noch so kleine Hilfsmittel auch bitter nötig.

„Na ja, ich will nicht ins Immobilienbusiness und ich hoffe auf einen halbwegs guten Job in einer Behörde. Als Mann habe ich sowieso wenig Chancen, in der Regierung aufzusteigen", sagte er und lächelte verlegen.

Ja, als Mann blieb ihm eine Machtposition an der Spitze des Staates selbstverständlich verwehrt. Frauen regierten diese Welt, denn sie waren es, die die Menschheit vor dem Aussterben retten konnten. Sie bekamen die Kinder und sorgten für Frieden. Ihre Rechte auszubauen und die der Männer zu beschneiden, hatte dazu geführt, dass die schrumpfende Weltbevölkerung das 22. Jahrhundert überhaupt überstanden hatte.

Männer hatten die Spezies an den Rand der Auslöschung gebracht, erst die Klimakatastrophe zu Beginn des 21. Jahrhunderts, dann die Zeit der Panik, als die Geburtenrate, insbesondere von weiblichen Föten, extrem sank. Die berühmt berüchtigten dreißig Jahre von Folter und Missbrauch bei angeblicher Gleichberechtigung hatte die gesamte Welt vollkommen traumatisiert und war der historische Anlass gewesen, das zu ändern. Doch würde es langfristig zum Erfolg führen? Seraphin bezweifelte es.

Die schrumpfende Weltbevölkerung hatte zwar den Klimawandel eingedämmt und verhindert, dass der Planet unbewohnbar wurde, hatte es allerdings auch notwendig gemacht, dass die Gesellschaft sich vollkommen veränderte. Der Umbau war hart und beschwerlich und die richtige Entscheidung zu treffen, war immer mit einem gewissen Maß an Verlust verbunden.

Die Länder waren in dem Chaos von Klimawandel und mangelndem Nachwuchs untergegangen und die Weltregierung übernahm Stück für Stück die Aufgabe, über den Fortbestand der Menschheit zu wachen. Dazu notwendig war vor allem der Schutz der Frauen, die bis dahin aufgrund ihrer Seltenheit drei Jahrzehnte unter katastrophalen Bedingungen hinter sich hatten. Die Gewalttaten der Männer hatten ein Ausmaß angenommen, das an schlimmste Kriegszustände erinnert hatte.

Frauen wurden versklavt, waren ständigen Übergriffen ausgesetzt und Mädchen bereits so jung entführt und in Massen brutal vergewaltigt worden, dass ihre Lebenserwartung auf weit unter dreißig gesunken war.

So lange, bis die Regierung zu drakonischen Maßnahmen hatte greifen müssen. Sie hatten Feuer mit Feuer bestraft. Trotz der sinkenden Weltbevölkerungszahlen wurden Männer exekutiert, die sich an Frauen vergriffen, und die wenigen anständigen Männer, die ihre Frauen, Schwestern, Mütter und Töchter beschützen wollten, waren zu dem Entschluss gekommen, dass nur eines half, um so was in Zukunft zu verhindern. Indem man den Frauen die Macht überließ.

Nun, zweihundert Jahre später, blühte die Menschheit wieder auf, ihr Aussterben wurde verlangsamt, es gab sogar Jahre, da blieb die Zahl stabil, dennoch war das Problem mit dem fehlenden Nachwuchs längst nicht geklärt.

Christoph war jung, ein typischer Mann, der in einer Welt aufgewachsen war, in der die Gesellschaft von ihnen verlangte, Frauen zu ehren, zu beschützen und sein Leben für ihres zu opfern. Ein brutales Verlangen von der Gesellschaft, in der das Individuum mehr und irgendwie auch weniger zählte. Es ging nur noch um das Überleben der Spezies Mensch. Wenn man Seraphin fragte, würde das alles anders sein. Allein für den Fortbestand der Familie zu sorgen, nur weil sie als Frau geboren war und damit automatisch die Verantwortung trug, war erdrückend, und der Frust der Männer, die sich nicht davor scheuten und gerne geholfen hätten, war deutlich zu spüren. Es war für keine Seite besonders schön.

Doch eine Wiederbelebung der formellen Gleichberechtigung war erst vor sechzig Jahren auf einer der wenigen noch existierenden Inseln im Südpazifik grandios gescheitert. Die überzähligen Männer waren in der Mehrzahl und hatten es innerhalb von nur drei Jahren geschafft, ihren Frauen wieder ihre Rechte zu entziehen. Es fing klein an. Mildere Strafen für Männer, die gegen Frauen agierten, Männer, die sich zusammentaten, um sich von der „Unterjochung" der Frauen zu befreien. Die Mehrheit sollte regieren und die Mehrheit, das waren eben die Männer. Nur die Männer.

Seraphin war froh, dass die Weltregierung die Reißleine gezogen hatte, bevor es komplett ausgeartet war. In dem Geschrei des tobenden Mobs war die Stimme der Vernunft einfach verhallt.

„Neben einem Wolf kann ein Reh niemals gleichberechtigt sein. Wenn du willst, dass beide nebeneinander überleben, muss der Wolf einen Maulkorb erhalten. Denn wie der Wolf neigt der Mensch dazu, seine Vormachtstellung auszunutzen, und wenn er auch noch die Mehrheit hinter sich hat, dann wird aus der Vormachtstellung eine Diktatur zur Unterdrückung von Minderheiten."

So hatte es einmal in einem philosophischen Aufsatz gestanden, den Seraphin hasste und gleichzeitig nicht widerlegen konnte. Sie hasste es, dass Frauen mit Rehen gleichgesetzt wurden, als wären sie nur Futter und Opfer. Und sie hasste es, dass auch gute Männer als triebgesteuerte Wölfe dargestellt wurden, die nur darauf warteten, sich loszureißen. Doch die Realität, die Statistik und die Historie sprachen genau dafür.

Trotz der Vormachtstellung gab es Übergriffe, Vergewaltigungen und Misshandlungen und die Opfer waren, wie all die Jahrhunderte zuvor, statistisch gesehen überproportional die Frauen, obwohl es mehr Männer auf der Welt gab.

An der körperlichen Unterlegenheit konnte kein Gesetz der Welt etwas ändern.

Der natürliche Testosteronüberschuss der Männer wurde mit Pflichtsport in Schach gehalten, und Männer waren in die Position gekommen, um Frauen buhlen zu müssen oder sich auch eine mit einem oder mehreren Männern zu teilen. Doch das reichte immer noch nicht. Nicht ganz und würde es wohl nie.

Christoph studierte Politik. Er verstand die Umstände, die zu diesem System geführt hatten, und dass es immer noch notwendig war, aber Seraphin hörte deutlich die Missbilligung heraus.

Leider konnte keine Gesellschaft der Welt verhindern, dass Männern bewusst wurde, wie leicht es mit ihrer körperlichen Überlegenheit war, einer Frau dennoch etwas aufzuzwingen, und sich zu fragen, wie die Männer die Macht verlieren konnten, die sie so lange innegehabt hatten. Es hatte doch Jahrhunderte davor geklappt, warum sollte es jetzt nicht mehr so sein?

„Verstehe. Also tust du es nicht aus Leidenschaft und dem Wunsch, zu helfen, die Menschheit zu retten?", fragte Seraphin, und etwas blitzte in Christophs Augen auf, das ihr ganz und gar nicht gefiel. Und wenn ihr etwas nicht gefiel, weckte das wiederum ihr Temperament, und das war nie gut.

„Ist das nicht eure Aufgabe?", fragte er und nahm noch einen Schluck von seinem Glas.

Seraphin lächelte bösartig. „Ja, stimmt, es ist die Aufgabe der Frauen, euch den Hintern zu retten. Entschuldige, ich vergaß, dass Männer sich stets nur wie hormongesteuerte Platzhirsche benehmen und wie Kleinkinder an der Vergangenheit festhalten, während sie die Verantwortung auf die Frauen abladen!"

Natürlich waren ihre Worte maßlose Übertreibung und nichts davon entsprach der Wahrheit. Diese bockige Haltung von Christoph kotzte sie einfach an.

Ja, die Frauen hatten die Macht.

Ja, das hatte seine Gründe. Trotzdem bedeutete das nicht, dass ihr Leben rosig und einfach war. Denn genauso wie die Männer standen die Frauen unter einem gesellschaftlichen Druck, vor allem Kinder zur Welt zu bringen und eine Familie zu führen – etwas, das Seraphin wirklich sehr gerne tun würde, wenn sie nicht ständig Männer vergraulte.

Männer waren nicht unwichtig in dieser Welt.

Sie beschützten, sie behüteten und übernahmen alle Aufgaben, die Frauen nicht mehr wagten zu übernehmen, weil sie unbedingt gesund gehalten werden mussten. Männer brachten die Opfer des Soldatenlebens, Frauen war der Militärdienst streng verboten. Sogar in der Polizei war ihnen nur der Innendienst gestattet. Alles, was ihr Leben oder ihre Gesundheit gefährden konnte, aber getan werden musste, wurde von den Männern erledigt. Sie galten als entbehrlich, und jede Frau musste sich dieses Opfers bewusst sein. Genauso wie eine Frau ihren Stolz herunterschlucken und eben auf bestimmte Berufszweige verzichten musste. Dass sie offiziell die Welt regierten, bedeutete nicht, dass sie alles durften. So blieb die Gleichberechtigung etwas, das sich zwar beide Gruppen herbeisehnten, aber erst funktionieren würde, wenn das Mengenverhältnis wieder ausgeglichen war. Erst dann wäre wirklich alles wieder fair.

„Wow, hasst du eigentlich alle Männer?"

Das tat sie nicht, aber dieses Bild bekam man wohl unweigerlich von ihr, wenn man ihr in politischen Debatten zuhörte. Dabei tat sie das wirklich nicht, ganz im Gegenteil. Sie schätzte den Einsatz und das Opfer, welches einige Männer vor allem an den Rändern des Einflussgebietes der Weltregierung brachten.

Dort, wo Männer versuchten, ihre patriarchalischen Reiche wieder aufzubauen, Frauen verschleppten und ermordeten, um ihre Macht nicht abgeben zu müssen. In Gebieten wie Afrika und dem Orient war das aufgrund der Weitläufigkeit ein gewaltiges Problem, und es waren Männer, die die Weltregierung in diese Gebiete schickte, um sich durch unwegsames und verwildertes Gefilde zu kämpfen, Frauen und auch andere Männer zu retten und sie zurück in Gebiete zu bringen, wo sie heilen konnten.

Es war schwer, solch dünn besiedelte Gebiete zu halten, und erforderte hohe Verluste, die sich die Spezies Mensch eigentlich nicht leisten konnte. Dennoch stimmte sie ausdrücklich für diese Einsätze, was den Eindruck erweckte, sie würde Männerleben als weniger wertvoll einschätzen.

„Nein, nur die, die meckern, obwohl sie hier in Nordamerika leben dürfen. Friedlich und in Wohlstand."

„Ich habe nicht gemeckert!", entfuhr es ihm, und ja, Seraphin hatte ihm Unrecht getan. Wahrscheinlich.

Sie hatte einen Blick interpretiert, eine Tonlage ausgewertet, obwohl sie ihn nicht kannte und nichts von seinen wahren Gedanken wusste. Allerdings war sie gut darin, Menschen zu lesen, und sie täuschte sich selten in ihnen.

Christoph fühlte sich ungerecht behandelt und machte dafür das System verantwortlich, das dafür sorgte, dass er zu essen hatte, friedlich schlafen konnte und dass er lebte.

„Aber wenn wir schon dabei sind: Ja, ich finde es unfair, dass man aufgrund seines Geschlechtes bestimmte Positionen nicht einnehmen kann."

Na ja, so richtig stimmte das nicht. Es gab einige Männer in der Politik, das war aufgrund der wenigen Frauen sogar notwendig. Sie waren Bürgermeister, Abgeordnete und Bürokraten. Nur ein Platz im direkten Regierungsorgan der Weltregierung, dem Weltrat, war ihnen versagt. Also genau zwanzig Sitzplätze. Unter dem Strich hatten sie damit sogar weniger berufliche Nachteile als die Frauen, die von hunderten vermeintlich schädlichen Jobs ferngehalten wurden.

Dass den Männern diese zwanzig Sitze verwehrt blieben, sollte nachhaltig dafür sorgen, dass die Frauen nicht wieder unterdrückt werden konnten. Schließlich war das hier immer noch ein demokratisches System, und die Männer waren mit ihren Stimmen immer in der Überzahl. Es wäre leicht, die Herrschaft der Frauen zu kippen. Zu leicht. Um sie dennoch zu erhalten, erforderte es Gesetze, die das sicherstellten.

„Es sind genau zwanzig Jobs, die dir verwehrt bleiben", korrigierte Seraphin ihn mit den Fakten, doch das gefiel ihm nicht.

„Ach ja? Wann wurde das letzte Mal ein männlicher Abgeordneter gewählt?", fragte Christoph und sprach damit etwas an, das tatsächlich eher positiv zu bewerten war. Es wurden oft Frauen gewählt, die mit Kompromissen für sich warben, anstatt Männer, die sich als Alphamännchen aufspielten und mit einfachen Strohmann-Argumenten für sich werben wollten.

Es ging natürlich auch umgekehrt, wie Seraphin sehr wohl wusste. „Vor zwei Tagen in Paris. Eine kluge Wahl, muss ich zugeben. Joule Granuielle hat zumindest einen realistischen Plan für die Umsiedlung der verbliebenen Grönländer, der nicht ein ganzes Volk verärgert, anstatt, wie von seiner Konkurrentin Maisie Williams gefordert, kurzen Prozess zu machen und die Männer und Frauen einfach dazu zu zwingen, ihr Land zu verlassen", nahm sie ihm den Wind aus den Segeln.

Umsiedlungen waren ein notwendiges Übel.

Vor fünfzig Jahren hatte man den gesamten südamerikanischen Kontinent zum Naturschutzgebiet erklärt und die letzten Einwohner dort umsiedeln müssen. Zum einen, um die Verwaltung der Menschen einfacher zu machen, und zum anderen, um zu verhindern, dass sie keine eigenen Reiche bildeten wie in Afrika, wo wegen der mageren Bevölkerung einige Menschen dachten, sie könnten tun und lassen, was sie wollten.

Grönland war nicht in Gefahr gewesen, seine Rechtssysteme einzubüßen. Die Verwaltung der Insel hatte schlichtweg keinen Sinn mehr gemacht bei dieser geringen Bevölkerungsdichte.

So hatte die Weltregierung beschlossen die wenigen Einwohner auf das Festland ihrer Wahl umzusiedeln. Sie bekamen Abfindungen und Wohnungen gestellt und würden irgendwo neu anfangen müssen. Nun näher an der Zivilisation. Dennoch hatte das zu Reibereien geführt. Niemand verließ gerne sein Zuhause.

„Ja. Natürlich. Entschuldige. Ich will mich nicht streiten", knickte Christoph ein, und obwohl Seraphin das mit Wohlwollen betrachtete, gefiel es ihr nicht.

Es war merkwürdig. Sie mochte einerseits keine Männer, die ihr widersprachen, allerdings auch keine, die ihr immer nur recht gaben. Sie wusste nicht einmal, was ihr an einem Mann überhaupt gefiel.

Vielleicht hatte ihre Mutter recht und es brauchte nur etwas Zeit, um den Mann zu finden, den sie wollte, um zu wissen, was sie wollte. Aber welche Art von Mann sollte das sein? Sie hatte doch überall gesucht, und es war ja eher das Problem, dass man sie ablehnte und nicht sie die Männer.

Würde es so laufen, wie ihr Vater es ihr gesagt hatte? Wenn sie einen Mann fand, den sie mochte, würde er der Typ Mann sein, der auch sie mögen würde? Oder blieb das lediglich eine dieser romantischen Vorstellungen, denen sich ihr Vater gerne einmal hingab?

Seraphin lächelte matt und nahm einen Schluck aus ihrem Weinglas, um nichts erwidern zu müssen.

Sie mochte Christoph nicht, dabei kannte sie ihn erst seit ein paar Minuten. Er sah eigentlich nicht übel aus. Groß, athletisch und mit Grübchen in den Wangen. Er wirkte wie der nette Kerl von nebenan, aber er schien das Gefühl zu haben, die Welt hätte sich gegen ihn verschworen.

„Ich meine aber, machen die Frauen nicht dasselbe wie die Männer zuvor mit ihnen? Ist Gleichberechtigung so schwer?", fragte er etwas bockig, und Seraphin lächelte verschlagen. Er war im selben Semester wie sie, die Antwort sollte er kennen.

„Wenn die Zahlen ausgeglichen wären, sicherlich. Obwohl uns das im ausgehenden 21. Jahrhundert auch nichts genützt hat, oder? Wir waren gleichberechtigt, auch in den dreißig Jahren des Chaos und wurden dennoch verschleppt, vergewaltigt und versklavt."

„Das waren andere Zeiten", widersprach er absolut ohne Argumentation.

„Ich glaube, zu Beginn des 21. Jahrhunderts hätte das auch niemand für möglich gehalten. Frauen waren in Chefetagen, Regierungsvierteln und im Militär und dennoch ist alles zusammengebrochen. Gesetze, komplexe Strukturen und die Macht des Staates halten es zusammen, das war damals so und ist auch heute nicht anders. Die Gleichberechtigung von Mann und Frau ist eine Illusion gewesen, denn die Natur hat den Mann zum im Regelfall körperlich stärkeren Geschlecht gemacht. Um dagegen bestehen zu können, gerade jetzt, in Zeiten, in denen wir Frauen so fassungslos in der Unterzahl sind, sind solche Gesetze notwendig. Und um auf deinen Vorwurf zurückzukommen: Nein, die Männer sind wesentlich besser gestellt als die Frauen von damals, vor der Gleichberechtigung. Ihr seid weder Eigentum einer Frau, noch braucht ihr die Erlaubnis von uns, um Jobs auszuführen oder Unternehmen zu gründen. Besitz geht zwar nur zu dreißig Prozent an männliche Nachkommen, aber ihr geht nicht leer aus wie die Frauen damals, die nicht mal die Schule besuchen durften und Jahrtausende lang nicht mal ein Wahlrecht hatten. Dass ich dir das erklären muss, ist übrigens eine Schande und der Beweis dafür, dass du nicht halb so sehr unterjocht wirst, wie du es andeutest."

Mit diesem Satz stellte sie das Glas hin und griff nach ihrer kleinen Tasche, die sie mitgebracht hatte. Christoph sah sie erschrocken an.

„Moment, wo willst du hin?", fragte er fassungslos. Ihre Predigt gerade schien vollkommen an ihm abgeprallt zu sein, der Mann hatte in der Politik definitiv nichts zu suchen.

„Ich fahre nach Hause. Ich mag einen Partner suchen und bin mit meinen Anforderungen ziemlich weit nach unten gegangen, doch wenn ich schon auf so etwas wie Liebe und Vertrauen verzichten muss, will ich zumindest an rationalen Dingen festhalten dürfen", erklärte sie, drückte einige Knöpfe auf dem Esstisch, wodurch die Rechnung digital auf der Oberfläche erschien und sie mit dem Ablegen ihres Handgelenkes ihren Teil der Rechnung beglich, obwohl das Essen noch nicht mal fertig war. Sie würde es am Tresen mitnehmen. Darauf zu verzichten, erschien ihr unsinnig. Das Essen war das, worauf sie sich heute am meisten gefreut hatte. Essen würde sie es jedoch in ihrem Apartment, nicht hier mit diesem Mann.

„Du gehst, weil ich kein riesiges Vermögen habe?", fragte er angesäuert, und Seraphin grinste ihn höhnisch an. Das könnte ihm so passen, sie war hier nicht die Böse. Ausnahmsweise.

„Nein, Christoph. Ich werde so viel erben, dass ich mir um finanzielle Sicherheit keine Sorgen machen muss. Das Vermögen eines Mannes interessiert mich einen Scheiß. Ob der Kerl, mit dem ich ausgehe, allerdings ein Weltbild vertritt, das so rückständig ist wie deines, kümmert mich dafür umso mehr. Auf Wiedersehen!", sagte sie und erhob sich von ihrem Stuhl, um zu der Theke zu gehen, wo ein junger Mann gerade die Bestellungen eines anderen Paares aufnahm.

Finger schlangen sich um ihr Handgelenk und drückten so fest zu, dass jede andere Frau mit Seraphins Statur wohl erschrocken gewesen wäre, aber Seraphin war nicht wie andere Frauen.

Sie mochte in dieser Gesellschaft aufgewachsen sein, doch im Gegensatz zu anderen Frauen, die nicht mal wirklich daran glaubten, dass ein Mann ihnen jemals etwas Böses tun könnte, war Seraphin sich dessen sehr wohl bewusst.

Sie hatte im Rahmen ihres Studiums die bittere Realität erkannt und sich dazu entschieden, diese zu verändern. Frauen waren immer noch Opfer, sie benötigten Schutz und eine sichere Umgebung, in der sie erblühen konnten. Männer waren dieser Schutz und manchmal auch das, wovor sie geschützt werden mussten. Umgedreht dasselbe, es gab Machtstrukturen, die Frauen zu größeren Monstern machten, als es ein Mann wohl je sein könnte.

Seraphin wirbelte herum, griff nach einem dieser Finger, die sie hielten, und verdrehte ihn, bis Christoph aufjaulte und in die Knie ging. Mit dem Selbstverteidigungstraining hatte sie angefangen, als man ihr Temperamentsproblem erkannte. Weitergemacht hatte sie, weil sie die unverblümten Statistiken gesehen hatte, die Gewalttaten gegenüber Frauen und auch Männern dokumentierten. Soweit sie es verhindern konnte, für sich selbst und andere, würde sie kein Teil davon werden! Das hatte sie sich geschworen!

Sie ließ ihn los, sobald er mit den Knien auf dem Boden aufkam und das gesamte Restaurant sie anstarrte. Allerdings nur kurz, da erhoben sich die Männer um sie herum und sahen sie besorgt an.

„Geht es Ihnen gut, Miss? Brauchen Sie Hilfe? Hat er Ihnen etwas getan?", fragten sie, und Seraphin beachtete sie nicht. Wahrscheinlich hatte sie Christoph den Finger ausgekugelt, so wie er immer noch jammerte.

Eine übertriebene Reaktion. Ihn verbal in die Schranken zu weisen, hätte definitiv ausgereicht.

Wieder fühlte sie sich schlecht. Das hätte sie anders lösen müssen.

„Nein, vielen Dank, ich habe überreagiert und wollte sowieso gerade gehen", meinte sie mit aufeinandergepressten Zähnen.

Der Mann hinter der Empfangstheke sah sie kurz erschrocken an, dann ihre Begleitung und tat das, was jeder Mann tat, wenn eine Frau sagte, es sei in Ordnung. Er nahm es hin und wagte es nicht, ihr zu widersprechen.

Für einen Augenblick erfasste Seraphin eine Enttäuschung, die sie nicht zuordnen konnte. Oder doch? Sie fühlte nicht wegen Christoph so, sondern weil die Männer ihre Einschätzung einfach hinnahmen. Es gab keinen sturen Beschützer, dem sie wichtig genug war, dass er ihre Worte zumindest anzweifelte. Keiner, der ihr widersprach oder mit dem sie diskutieren konnte, wie ihre Mutter es ständig mit ihrem Vater tat.

Keiner, der es wagte, ihr die Stirn zu bieten, und sie dennoch mit Respekt behandelte. Natürlich nicht, solche Männer gab es nicht und sollte es auch nicht geben. Sie widersprachen dem System. Genau wie schöne, junge, reiche Frauen, die keinen Mann finden konnten. Das waren Anomalien, die es nicht geben durfte.

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Huhu^^^

DAMIT habt ihr jetzt nicht gerechnet. 

Leide wird mir ja die Woman's World reihe gerne mal gelöscht, wegen der Thematik. Aber diese Thematik hat ja Seraphin nicht, also warum war die Geschichte weg? 

Weil sie veröffentlicht wurde. 

Seit ein paar Tagen ist sie komplett überarbeitet als E-Book, Taschenbuch und Hardcover verfügbar. Links dazu gibt es in meiner Bio, wenn wer interesse hat.

ABER jetzt genießt erstmal die Leseprobe. 

Eure Jacky 🤗

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