Kapitel 6

,,Kennst du den Unterschied zwischen Wut und Enttäuschung? Ich erkläre es dir. Wenn du wütend bist, schreist du, du weinst, du streitest, aber dann beruhigst du dich und alles geht vorbei. Wenn du enttäuscht bist, schreist du innerlich, äußerlich zeigst du dich ruhig, aber es geht nicht vorbei. Die Enttäuschung bleibt in dir und verändert dich!" (Isaak Öztürk)

*

,,Buongiorno, mia bella! Womit kann ich dich glücklich machen?"

Milo verdreht entnervt die Augen über seinen älteren Bruder. Auch ohne hinzusehen, hat er ein ziemlich klares Bild davon vor Augen, wie Enzo lässig auf die Theke zu schlendert, den Blick auf eine junge Frau gerichtet, die fraglos seinem Beuteschema entspricht: Vermutlich wasserstoffblond und die Lippen zu einem vermeintlich verführerischen Schmollmund verzogen.

Sein Bruder beherrscht die Mischung aus unverhohlener Unverschämtheit und scheinbarer Selbstvergessenheit perfekt. Seine dennoch tadellosen Manieren und die seltsam seriös wirkende Brille trägt er zur Vervollständigung ironisch zur Schau. Seit Enzo in der achten Klasse bemerkt hat, dass man als Mann mit blaugrauen Augen, dunklem Haar, italienischem Akzent und einem verwegenen Lächeln auf den Lippen in der Frauenwelt keine allzu schlechten Chancen hat, gefällt er sich in seiner Rolle als Frauenheld ganz gut. In den letzten Jahren hat er fleißig an seinem Image gefeilt und sich neben einem ausgeprägtem rollenden ,,r" auch noch ein Motorrad zugelegt. ,,Die Mädels stehen auf Widersprüchlichkeiten. Sie finden es sexy, wenn ihr Ammiratore nicht direkt durchschaubar ist", pflegt Enzo gern zu sagen, um anschließend sein persönliches Lebensmotto zu zitieren: ,,Arrogant, aber charmant."

Es ärgert Milo, dass es immer wieder Frauen gibt, die auf die Masche seines Bruders hereinfallen. Noch mehr ärgert ihn jedoch, dass Enzo während seiner Verführungsversuche zu einem verabscheuungswürdigen Arschloch mutiert. Wem auch immer er damit etwas zu beweisen versucht, Milo weiß eines ganz sicher: Wenn Enzo nicht bald zulässt etwas dabei zu fühlen, droht er sich endgültig selbst zu verlieren. Doch jedes Mal, wenn Milo versucht wegen dieses Verhaltens mit Enzo zu reden, wird er abgeblockt. Als er es das letzte Mal versucht hat, ist Enzo sogar regelrecht in die Luft gegangen. ,,Als ob ich mir ausgerechnet von dir etwas sagen lassen müsste, du Heiliger! Im Gegensatz zu dir versuche ich meine Sexpartnerinnen wenigstens nicht mit im Grunde bedeutungslosen Beziehungen zu tarnen, sondern betitle es schlicht als genau das, was es ist: Sex. Nicht mehr und nicht weniger." Seitdem hat er es nicht noch einmal versucht.

Ihre Mammina geht über das Thema zumeist mit einem traurigen Lächeln hinweg und versucht ihre Enttäuschung darüber zu verbergen, dass ihr Ältester immer noch keine Freundin mit nach Hause gebracht hat, Eliana hat an ihrem Bruder vermutlich noch nicht einmal eine Veränderung bemerkt, und sein Papà befindet sich ebenfalls nicht gerade in der perfekten Verhandlungsposition, wie er Milo immer wieder erinnert. Er war früher keinen Deut besser, bis er seine Ella kennengelernt hat.

Das nicht sonderlich subtile Geflirte seines Bruders zu ignorieren versuchend, widmet sich Milo erneut dem Stapel Papiere vor sich.

,,Biongiono, mio figlio! Könntest du bitte nachher noch zu Martha, um ihr ihre Bestellung vorbeizubringen? Ich muss jetzt nämlich noch zum Markt, wir haben schon wieder kein Obst mehr, und danach sollte ich eigentlich noch bei deiner Nonna vorbeischauen. Nicht, dass sie mir wieder wochenlang damit in den Ohren liegt, wie selten wir sie besuchen kommen." Die raue Hand seines Vaters legt sich warm auf Milos Schulter, gerade als es ihm endlich gelungen ist seine Gedanken wieder auf seine Arbeit zu konzentrieren.

,,Ciao, Papà! Kein Problem, geh nur!" Milo unterdrückt ein Seufzen. So hat er sich seinen Tag nun wirklich nicht vorgestellt. Seinem Papà diese Bitte auszuschlagen, kommt für ihn jedoch trotzdem nicht in Frage. Milo hat seinen Eltern schließlich erzählt, dass er noch nicht sofort anfangen möchte zu studieren, um ihnen noch ein bisschen in der Trattoria helfen zu können. Er hat also im Grunde gar keine andere Wahl als später noch zu Martha zu fahren. Womöglich tut es ihm sogar ganz gut etwas an die frische Luft zu kommen. Das ist es zumindest, was seine Mammina bestimmt behauptete, wenn sie bei diesem Gespräch dabei wäre.

,,Grazie, Emilo! Auf dich ist Verlass!" Wenn er sich da einmal nicht täuscht.

Mit einem leisen Klingeln fällt die Eingangstür hinter seinem Vater ins Schloss.

,,Grazie, Emilo. Mille grazie, figlio preferito!" Enzos Stimme klingt verbittert, als er seinen Papà nachäfft. ,,Weißt du was, perfekter Milo? Wenn Papà dir so rückhaltlos die Trattoria anvertraut, macht es dir bestimmt auch nichts aus, wenn ich jetzt gehe. Ich bin noch verabredet."

Milo schweigt. Einzig sein verkrampfter Kiefer lässt erahnen, welche Selbstbeherrschung ihn dies kostet. Es passt ihm kein bisschen in den Kram, dass seine Tagesplanung so sehr durcheindergebracht wurde. Und noch weniger passt ihm, dass er ziemlich genau zu wissen glaubt, was Enzo für so unaufschiebbar hält es jetzt gleich erledigen zu müssen. Er verflucht den Stolz seines großen Bruders, der es ihnen beiden unmöglich macht, normal miteinander zu sprechen.

,,Na los, sag schon! Raus damit, Signore Moralapostel!" Herausfordernd hebt Enzo eine Augenbraue.

Milos Nerven sind zum Zerreisen gespannt. So viele Worte liegen ihm auf der Zunge, die jeden Moment aus ihm herauszuplatzen drohen. Es kostet ihn all seine Kraft nichts zu sagen. Aber er weiß, dass es ohnehin nichts bringen würde. Und er hat jetzt einfach nicht die Kraft sich schon wieder deswegen mit seinem Bruder zu streiten.

Wenig später knallt eine Tür. Die Glöckchen klingeln energischer als kurz zuvor. Und ein Wort schwebt so klar und deutlich durch die Luft, als sei es voller Zorn herausgebrüllt worden: ,,Feigling!"

*

Milo glaubt, dass kein Hass zerstörerischer sein kann als Selbsthass. Er hasst sich selbst dafür, dass er so mit sich umspringen lässt. Er hasst sich dafür, dass er seinem Bruder durchgehen lässt sich so zu verhalten. Er hasst sich dafür gegenüber seinen Eltern nicht ehrlich sein zu können. Doch am meisten hasst er sich dafür, dass Enzo Recht hat mit dem, was er ihm so unmissverständlich vorgehalten hat. Er ist wahrhaftig ein Feigling! Wütend tritt Milo den Kickstarter des Quads ein zweites Mal durch, mit dem sie problemlos direkt die Serpentinen entlang zur Berghütte fahren können. Na endlich! Der Motor ist angesprungen. Vermutlich wäre es besser er würde den Weg laufen, um etwas Dampf abzulassen, aber bis Milo oben ankäme, wäre das Eis vermutlich längst geschmolzen.

So gerne Milo auch normalerweise zu Martha geht, so wenig kann er die Landschaft um sich herum heute genießen. Er hat einfach keinen Blick dafür, weil seine schwarzen Gedanken zu mächtig sind, um die spätsommerliche Stimmung zu ihm durchdringen zu lassen. Wut und Enttäuschung brodeln noch immer in ihm und explodieren, als er sich, die Eisboxen in der Hand, schwungvoll umdreht und mit voller Wucht gegen einen fremden Körper prallt.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top