Kapitel 5
,,Ich mag Köpfe, die mitdenken können, einen Mund, der argumentieren, lachen, küssen, Blödsinn quatschen kann... Ich mag Ohren, die einfach mal zuhören können und auch Zwischentöne registrieren... Ich mag Augen, die mehr sehen als den ersten Eindruck..." (Autor unbekannt)
*
Im Gastraum oben angekommen trifft Leni auf Martha, die ebenfalls bereits geschäftig herumwuselt. ,,Morgen!"
,,Guten Morgen, Leni." Mit einem Stapel Servietten in der Hand dreht sich Martha zu ihr um. Ihr Gesicht ist dabei freundlich und offen, während ihre Augen gleichzeitig etwas abgelenkt eine innere Checkliste durchzugehen scheinen. ,,Na? Hast du gut geschlafen?"
,,Auf jeden Fall. Ich liebe das Zimmer."
,,Das freut mich ehrlich. Und ich hoffe wirklich es macht dir nichts aus die meisten Nächte hier oben allein verbringen zu müssen."
,,Nein, alles gut", versichert ihr Leni und fügt mit einem Lächeln hinzu: ,,Manchmal ist so ein bisschen Stille auch gar nicht so schlecht."
Martha schmunzelt. ,,Da hast du wohl Recht." Mit einem Nicken zum Tresen hin bietet sie Leni an die Musik auszuwählen, bevor sie beginnt die Terrasse herzurichten.
Einen kleinen Moment lang zögert Leni das Angebot anzunehmen. Musik ist für sie schlicht etwas sehr Persönliches und kurz hat sie deshalb Sorge für ihre Auswahl belächelt zu werden. Gleich darauf schilt sie sich jedoch selbst. Martha und Jona würden so etwas niemals tun, da war sie sich sicher, und was die Gäste über ihre Musik denken würden, sollte ihr nun wirklich ausnahmslos egal sein. Sie antwortet Martha daher auf die einzig richtige Art und Weise: ,,Gerne." Und als sie wenige Herzschläge später draußen das Regenwasser von den Biertischen und -bänken abzieht und die einzelnen Plätze mit Karten, Platznummern und Blumen dekoriert, summt sie die zauberhaften Melodien des Brooklyn Duo mit und träumt sich einmal mehr weit weg von allem, was um sie herum geschieht.
*
,,Hey, du bist bestimmt Leni", erklingt plötzlich dicht hinter ihr eine fremde, weibliche Stimme.
Vor Schreck zuckt Leni zusammen. ,,Oh Gott." Eine Hand an die Brust gepresst dreht sie sich noch immer etwas atemlos zu der Unbekannten um. ,,Ich war gerade in Gedanken und habe dich nicht kommen hören."
,,Oh nein, das tut mir leid. Das war echt nicht meine Absicht." Reuevolle schokoladenbraune Augen blicken ihr entschuldigend entgegen.
,,Kein Problem. Wie du sagst, es war ja keine Absicht." Leni pustet sich die Fransen ihres kastanienbraunen Haars, die ihr durch ihre hektische Bewegung in die Stirn gefallen sind, aus dem Gesicht und lächelt die junge Frau vor sich beruhigend an. ,,Und genau, ich bin Leni", besinnt sie sich wieder auf die ursprüngliche Aussage ihres Gegenübers und streckt ihr zur Begrüßung die Hand hin.
,,Puh, da bin ich aber froh", entgegnet sie mit warmherziger Ernsthaftigkeit in der Stimme. ,,Ich bin übrigens Melissa", stellt sich die junge Frau schließlich vor. ,,Herzlich willkommen hier!" Sie ignoriert Lenis ausgestreckte Hand und zieht diese stattdessen in eine feste Umarmung, sodass die Strähnen aus Melissas weißblondem Bob Lenis Wange kitzeln.
Unwillkürlich stielt sich ein Schmunzeln auf Lenis Lippen. Nachdem sie sich wieder soweit von ihrem ersten Schock erholt hat, kann sie nicht umhin zu bemerken, dass sie Melissa rein äußerlich betrachtet wohl gänzlich anders eingeschätzt hätte. Ohne ihre freundlichen Augen, hätten die akkurat gezupften Augenbrauen, die gerade Nase und der perfekt aufgetragene, pinkfarbene Lippenstift wohl mehr als hochnäsig gewirkt. Melissas aufgeweckter Art gelingt es zudem sogar etwas so Spießiges wie einen Bob frech aussehen zu lassen. Die scheinbare Widersprüchlichkeit ihres Charakters fasziniert Leni. Ob sie ihr Äußeres wohl teilweise bewusst einsetzt, um einen bestimmten Eindruck bei anderen Leuten zu erzielen?
,,Schön, dass du diesen Sommer hier bist", ergreift Melissa noch einmal das Wort und erklärt: ,,Ich muss jetzt zwar wieder hineingehen, um Martha beim weiteren Herrichten zu helfen, aber wenn du möchtest, können wir gerne in der Mittagspause oder am Abend noch ein bisschen zusammen quatschen."
Leni gelingt es gerade noch diesem Vorschlag freudig zuzustimmen, bevor ihre Kollegin wie ein weißer Wirbelwind auch schon wieder verschwunden ist. Und ja, ein weißer Wirbelwind beschreibt ihren Auftritt Lenis Meinung nach mehr als treffend.
*
Aus dem Zusammensitzen in der Mittagspause ist zwar nichts geworden – es ist Martha auch so schon kaum gelungen alle ihre Mitarbeiter nacheinander zu Mittag essen zu lassen, so gut ist die Berghütte an diesem Tag besucht gewesen – dafür aber klappt es am Abend sogar, dass sich die anderen ebenfalls zu den Mädchen setzen können, um den Feierabend gemeinsam ausklingen zu lassen. Lediglich Marthas Freundin Lotte, die, wie Leni nun weiß, so wie heute hin und wieder auf der Hütte in der Küche aushilft, hat leider nicht mehr länger bleiben können. Lotte wirkt mit ihrem braunen Lockenkopf und den hinter einem Kassenmodell versteckten türkisfarbenen Augen wie das komplette Gegenteil von Melissa. Laut Martha fühlt sich Lotte in der Küche – und damit weit weg von den Forderungen der Gäste – am wohlsten. Dort kann sie weitgehend ungestört vor sich hin werkeln und muss sich weder mit Nörgeleien noch mit Small Talk herumschlagen. Melissa dagegen geht beim Kellnern draußen auf der Terrasse voll in ihrem Element auf. Mit Leichtigkeit unterhält sie sich mit den Leuten und schafft er scheinbar mühelos immer freundlich und zuvorkommend zu sein. Ganz besonders bewundert Leni sie dafür, dass sich Melissa äußerlich kein Stück aus der Ruhe bringen lässt. Wie eine unwirkliche Erscheinung, die auf den ersten Blick in einer hippen Szene-Bar wohl besser aufgehoben wäre als in dieser verschlafenen Berghütte, gelingt es ihr selbst nörgelige Zeitgenossen mit ihrem Lächeln zu verzaubern.
Leni lächelt, als sie sich daran erinnert, wie ein älterer Herr sich beschwert hat, dass er angeblich schon unverschämt lange auf sein Essen warten muss.
,,Was ist?", erkundigt sich Jona neugierig.
,,Ach, da war heute ein ganz besonderer älterer Herr da", meint Leni nur und schenkt Melissa ein verschwörerisches Lächeln.
,,Oh, ja, allerdings." Melissa lacht und schafft es nur mit sichtlicher Anstrengung ihre Cola dabei im Mund zu behalten.
Als Jona fragend eine Augenbraue hebt, beschreibt Leni bildhaft die Beschwerde des Mannes und erzählt, dass sie selbstredend direkt in die Küche geeilt ist, um nachzusehen, ob die Bestellung eventuell aus Versehen untergegangen ist. Als sie dann jedoch auf den Bestellzetteln nachgeschaut und festgestellt hat, dass der Herr erst eine einzige, geschlagene Minute auf seinen Kuchen warten hat müssen, sind Leni für einen Moment ernsthafte Zweifel an der Welt gekommen. Melissa, die die Auseinandersetzung mit dem Gast mitgekriegt hat, hat sich daraufhin erkundigt, ob etwas nicht stimme und ihm dann erklärt, dass die Küche sich eine Bestellung nach der anderen vornimmt, er sich aber gerne, sofern er nicht mehr warten möchte, seinen Kuchen auch jetzt schon am Tresen geben lassen könne. ,,Der ältere Herr ist so baff von Melissas Reaktion gewesen, dass er, glaube ich, sogar vergessen hat sich über ihre Dreistigkeit aufzuregen."
,,Ich war doch nicht dreist", empört sich Melissa grinsend. ,,Ich hab ihm nur ganz freundlich angeboten, dass er seine Wartezeit unter Umständen selbstverständlich verkürzen darf."
Martha lächelt nur und droht Melissa gespielt tadelnd mit dem Zeigefinger. Jonas Blick kann Leni dagegen schwer deuten. Erst jetzt fällt ihr auf, dass er sich aus den allgemeinen Erzählungen noch stärker zurückgehalten hat als Leni selbst. Ob das womöglich an Melissas Anwesenheit liegt?
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top