Kapitel 4
,,Das Geheimnis des Vorwärtskommens besteht darin, den ersten Schritt zu tun." (Mark Twain)
*
Nach dem Gespräch mit Nele schleppt sich Leni mit letzter Kraft ins Bad, um kurz darauf mit schweren Lidern zu ihrem Bett zurückzuwanken. Nicht einmal der Stapel Bücher auf ihrem Nachttisch schafft es sie noch länger wachzuhalten. Wenig später ist sie deshalb bereits in einen tiefen, erholsamen Schlummer gesunken.
*
Wie fast immer, wenn ihrem Körper bewusst ist, dass er es sich absolut nicht erlauben kann zu verschlafen, wacht sie schon lange vor dem Wecker auf. Zuerst fühlt sie sich kurz etwas orientierungslos angesichts der ungewohnten Umgebung. Doch schon ein, zwei Herzschläge später weiß sie wieder ganz genau, wo sie sich befindet. Durch einen Spalt im Vorhang verfolgt sie, wie die ersten Sonnenstrahlen draußen mit vereinten Kräften gegen die Kühle und Kälte der Nacht ankämpfen. Von dem, was sich wohl hinter dem Glas verbirgt, angelockt, schlägt sie das weiche Federbett zurück und setzt ihre nackten Füße auf den kühlen Holzboden auf. Ihre Zehen kräuseln sich, als sie versucht die wohlige Wärme des Bettes nicht sofort zu verlieren. Noch immer ein wenig verschlafen tappst sie auf das Fenster zu und schiebt den roten Stoff etwas weiter zur Seite. Bevor sie das Bergpanorama vor sich ganz in sich aufnehmen kann, streicht sie mit den Fingern noch lächelnd über die weißen Tupfen. Es kommt Leni fast unwirklich vor, wie sehr die Hütte, in der sie den Sommer verbringen wird, einer Allgäu-Zeitschrift entsprungen sein könnte.
Minute um Minute vergeht und Leni steht einfach nur da, eine Hand ehrfürchtig an das kühle Glas gelegt, und sieht nach draußen. Noch immer kann sie kaum glauben es nun tatsächlich geschafft zu haben. Noch immer kaum begreifen, dass das alles längst wirklich kein Traum mehr, sondern traumhafte Wirklichkeit ist. Und sie weiß, dass das auch noch eine Weile dauern wird. Dass ihr das erst ganz allmählich und mit der Zeit so richtig bewusst werden wird. Dass sie es schon bald als ganz selbstverständlich hinnehmen wird jeden Morgen an diesem wirklich traumhaft schönen Ort aufwachen zu dürfen, um den Sommer ihres Lebens hier zu verbringen. Denn das hat Leni soeben beschlossen. Diesen Sommer hier wird sie ganz bestimmt nicht vergessen. Vielleicht wird es ihr sogar endlich gelingen ein klein wenig aus sich herauszukommen und sich endlich zu trauen den ein oder anderen schon lange gehegten Traum ebenfalls von ihrer Wunschliste streichen zu können. Vielleicht? Nein, ganz bestimmt. Es muss einfach so sein. Den ersten, größten und schwersten Schritt hat sie schließlich längst hinter sich. Sie ist jetzt hier. Und das wird sich so schnell ganz gewiss nicht ändern.
Weitere Minuten vergehen, in denen sich Leni mehr und mehr in Tagträumen darüber verliert, wie sie die Tage hier zuzubringen gedenkt. Sie möchte lesen, schreiben, träumen und so viel erleben. Sich Dinge trauen, die sie schon so lange endlich ausprobieren möchte. Sie seufzt schwer, als ihre Zehen langsam, aber sicher, eiskalt zu werden drohen und sie sich leise eingesteht, dass diese Wunschträume wohl vorerst doch noch genau das bleiben werden. Wunschträume. Denn so sehr sich Leni häufig wünscht mutiger zu sein, so kann sie trotzdem nicht aus ihrer Haut. Sie ist und bleibt ein nachdenklicher Kopfmensch. Zumindest alleine wird es ihr wohl nicht so schnell gelingen ihre Wünsche und Träume Schritt für Schritt in Erinnerungen zu verwandeln.
Mit einem Blick auf die Uhr stellt sie fest, dass sie zumindest noch Zeit hat sich noch einmal kurz im Bett wieder aufzuwärmen, bevor sie sich allmählich für ihren zweiten Arbeitstag fertig machen muss.
Im Bad steht Leni wenig später ihrem eigenen Spiegelbild kritisch gegenüber. Die Nase kraus gezogen überlegt sie, ob sie die Wimpertusche eher weglassen soll oder doch nicht. Mit Mascara fühlt sie sich eindeutig seriöser und zu besonderen Anlässen schminkt sie sich auch ganz gern. Aber andererseits ist sie auch gestern schon ungeschminkt gewesen und unkomplizierter ist es allemal. Unschlüssig zupft sie an ihren kastanienbrauen Ponyfransen herum und zieht das Haargummi ihres Pferdeschwanzes noch einmal nach. Innerlich schimpft sie mit sich, dass sie einer so unwichtigen Entscheidung eine derartig hohe Bedeutung beimisst. Viel Zeit bleibt ihr nicht mehr. Wenn sie sich verschminken sollte, bliebe ihr demnach kaum noch Zeit den Fehler auszubessern. Und außerdem, fällt ihr wieder ein, hat Martha sie gewarnt, dass Zwiebeln hobeln quasi zum Küchenalltag gehöre. Da würde sie ihr sorgsam aufgetragenes Make-up also wohl ohnehin gleich wieder ruinieren. Erleichterung darüber sich doch noch so schnell entschieden zu haben spiegelt sich in ihrer Iris wider, deren Farbe wohl noch am ehesten mit dunklem Moosgrün oder getrocknetem Salbei beschrieben werden kann. Ohne Zeit zu verlieren schlüpft sie in ihre bereitgelegte Jeans und das einfarbige T-Shirt und verlässt kurz darauf auch schon mit einer Stofftasche in der Hand ihr Zimmer.
*
Auf der Wendeltreppe nach oben kommt ihr bereits Jona entgegen, der offenbar gerade dabei ist die Getränkevorräte der Theke oben aufzufüllen.
,,Morgen!" Er schenkt ihr ein freundliches Lächeln. ,,Gut geschlafen?"
,,Guten Morgen! Tatsächlich schon, ja. Wie ein Stein." Sie grinst. ,,Und selbst?"
,,Och, kann nicht klagen", gibt Jona zurück und atmet geräuschvoll aus, als er ein Fass endlich sicher am oberen Treppenabsatz abstellen kann.
,,Kann ich dir damit eigentlich irgendwie helfen?", fragt Leni mit einer umfassenden Geste.
,,Das musst du wirklich nicht. Meine Mama würde mich außerdem umbringen, wenn sie dich auch nur eine halbe Kiste hier hochschleppen sähe."
,,Sicher? Also gut." Leni nickt zögerlich. ,,Du meldest dich, sofern du deine Meinung ändern solltest."
,,Mache ich. Danke, Leni." Und Jonas ,Danke' klingt dabei so ehrlich und aufrichtig, dass Leni ganz warm und gleichzeitig ein wenig schwer ums Herz wird. Es wirkt fast so, als würde er ein solches Angebot nicht alle Tage bekommen.
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top