Kapitel 2
,,Die Kunst des Reisens ist nicht das Planen, sondern das Tun." (Martin Krengel)
*
Fasziniert sieht Leni aus dem Fenster. Die Landschaft huscht in rasender Geschwindigkeit an ihr vorbei. Wiesen und Felder werden bald von Städten, bald von kleineren Dörfern abgewechselt. Hin und wieder schlängeln sie sich durch schattige Waldstücke und schließlich rücken die Berge in ihrem Sichtfeld immer näher. Auf die Ferne erkennt sie sogar einige wenige vor Schnee glänzende Spitzen. So schön! Schon als sie das erste Mal vor wenigen Wochen für ihr Vorstellungsgespräch hergefahren ist, hat sie sich unmittelbar in den Ausblick verliebt. Auch jetzt wird sie innerlich wieder ganz ruhig. Irgendwie seltsam zufrieden. Sie kann noch immer kaum glauben wie unglaublich viel Glück sie gehabt hat, ihren Traumjob zu bekommen.
Fast direkt nachdem sie von Neles Geburtstag nach Hause gekommen ist, hat sie sich vor den Laptop gesetzt und angefangen nach verschiedenen Stellenausschreibungen nahe Immenstadt Ausschau zu halten. Vorzugsweise oben in den Bergen. Ihr ist jedoch recht bald klar geworden, dass die meisten Jobs in dieser Gegend wohl eher unter der Hand weitergegeben werden. Und die wenigen ausgeschriebenen Stellenangebote sind entweder auf eine komplette Saison ausgelegt – und so lange hat sie schließlich auch keine Semesterferien – oder einfach nicht auf ihre Qualitäten zugeschnitten gewesen.
Etwas ernüchtert hat sie sich durch verschiedene Websites geklickt und halbherzig auf ein paar Anfragen reagiert. Dass sie darauf, wenn überhaupt, nur Absagen kassiert hat, war nicht besonders tragisch. Sie hätte die Stellen womöglich ohnehin nie angenommen. Fast täglich hat sie immer wieder aufs Neue die Homepage der Berghütte geöffnet, auf der sie wirklich gerne hat arbeiten wollen. Die Seite hat einen eher schlichten Eindruck gemacht und ist wohl schon länger nicht mehr aktualisiert worden. Die wenigen Informationen hat Leni deshalb schon bald auswendig gekonnt und eines Tages hat sie es schließlich einfach gewagt. Sie hat eine formlose Anfrage an die Auskunftsadresse getippt, in der sie sich einfach erkundigte, ob sie sich um einen Ferienjob bewerben könne. Sie hat weder einen Lebenslauf noch ein Motivationsschreiben mitgeschickt. Kein Bewerbungsbild und keine Zeugnisse. Niemals hätte sie damit gerechnet überhaupt eine Antwort zu erhalten. Doch das hat sie. Sie hat sogar nicht nur eine Antwort bekommen, sondern auch gleich die Stelle. Einfach so. Ohne sich überhaupt richtig dafür beworben zu haben. Fast ein wenig zu schön, um wahr sein zu können.
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,,Guten Morgen, Leni", kommt es von ihrer Chefin, nachdem sie sich auf die Rückbank ihres Geländewagens hat fallen lassen. Wie schon beim letzten Mal hat Martha sie am Bahnhof aufgesammelt. Auch vom Beifahrersitz aus wird sie freundlich begrüßt.
,,Morgen", erwidert Leni lächelnd.
,,Ihr kennt euch noch gar nicht, stimmts?", ergriff Martha erneut das Wort. ,,Das ist Jona", erklärt sie und deutet neben sich. ,,Mein Sohn. An den Wochenenden und auch sonst, hilft er mir immer wieder einmal aus, wenn seine Masterarbeit es zulässt." Sie lächelt den jungen Mann unverkennbar stolz von der Seite an. Man kann quasi in ihrem Gesicht lesen, dass er für sie das Zeichen ist, in ihrem Leben doch irgendetwas richtig gemacht haben zu müssen. Mit einem Blick in den Rückspiegel stellt sie anschließend ihre neue Angestellte vor: ,,Und das ist Leni. Sie arbeitet den Sommer über bei uns. Und soweit ich mich richtig erinnere, studiert sie ebenfalls noch."
,,Hallo." Leni schenkt ihm ein etwas zögerliches Lächeln und streicht sich nervös eine Strähne ihres kastanienbrauen Haars zurück, die sich aus ihrem Zopf gelöst hat.
,,Hi." Er grinst und sie kann ein Funkeln in seinen grauen Augen erkennen, als er sich zu ihr umdreht. ,,Und du bist also verrückt genug deine Ferien hier verbringen zu wollen?"
Leni lacht überrascht auf und ihre Lippen verziehen sich unwillkürlich ebenfalls zu einem breiten Grinsen. Vergessen sind fürs Erste ihre innere Anspannung und die vielen irrationalen Sorgen. ,,Ganz genau!"
*
Die weitere Fahrt vergeht wie im Flug und Leni fühlt sich überraschend wohl. Martha und ihr Sohn sind beide sehr herzlich und bemühen sich stets Leni in ihr Gespräch miteinzubeziehen. Auf diese Weise erfährt sie auch schon die ein oder andere Anekdote über die Hütte, ihre anderen Arbeitskollegen und etwas über das Arbeitsklima generell. Eine Regel betont Martha außerdem besonders. Auf der Hütte wird sich geduzt, wie überall in den Bergen ab 1000 Höhenmetern über dem Meeresspiegel. Und das Rasthaus liegt nun einmal auf 1100 Metern. ,,Eigentlich fast ein bisschen schade, dass das nicht immer so eindeutig geregelt ist", findet Leni.
Im Laufe der Fahrt tauschen sich Jona und sie außerdem noch ein wenig über ihr Studium aus und Leni kann nicht umhin Martha insgeheim zuzustimmen. Ihr Sohn scheint wirklich beeindruckend intelligent und ehrgeizig zu sein. Jona mag auf den ersten Blick mit seinem Lockenkopf, der von einem ähnlichen Rotblond ist wie auch die Haare seiner Mutter, und den grauen Augen eher unscheinbar wirken; aber Leni merkt schnell, dass dieser erste Eindruck täuscht. Er sagt zwar nicht viel, strahlt eine innere Ruhe aus und überlässt das Reden zumeist Martha. Wenn er jedoch einmal den Mund aufmacht, so sind seine oft trocken klingenden Sätze wohl überlegt und nicht selten mit einer Prise Ironie gewürzt, die ihn Leni gleich noch viel sympathischer macht.
Erneut beginnt in Lenis Bauch die Vorfreude zu kribbeln. Sie ist sich sicher, dass der Sommer mit den beiden zumindest unmöglich langweilig werden kann.
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