Kapitel 13

,,Ich glaube, dass glückliche Mädchen die schönsten Mädchen sind." (Audrey Hepburn)

*

Noch am selben Abend fragt Leni Martha, wie ihr grober Arbeitsplan für die kommenden Tage aussieht und kann Milo daraufhin für den kommenden Abend grünes Licht geben. So kommt es, dass sie am Freitagabend hinter Milo auf sein Quad steigt, die in einer Jeansjacke steckenden Arme um seine Hüften schlingt und sich an seinen warmen Rücken schmiegt. Während er die Maschine mit sicheren Bewegungen die Serpentinen entlang ins Tal hinabmanövriert, flattert ihr sommerliches Kleid auf aufregende Art und Weise um ihre nackten Beine. Glücklich lächelnd fühlt sie sich schön, ohne Selbstzweigel zu hegen und kommt sie sich ein bisschen vor wie Babi in Drei Meter über dem Himmel. Sie macht sich ungewohnt wenige Gedanken über den weiteren Verlauf ihres Dates. Stattdessen genießt sie das Gefühl von Freiheit und ist gespannt darauf, was Milo mit ihr vorhat. Genießt es, die Kontrolle abzugeben und darauf zu vertrauen, dass Milo weiß, was er tut. Genießt die rauen Nähte seiner Jeans an ihren Schenkeln und das Spiel seiner Muskeln unter der enganliegenden Kleidung. Da ist diese unglaubliche Nähe zwischen ihnen, die ihre Nervenenden zum Vibrieren bringt und ihr ein wenig Angst macht. Wie es sich wohl erst anfühlt, wenn noch mehr passiert? Wenn sie sich ganz auf dieses Abenteuer einlässt und Milo erlaubt, ein Teil ihres Lebens zu werden? Möchte sie das überhaupt? Und noch wichtiger: Ist sie bereit, das zuzulassen? Leni weiß es nicht. Aber vorerst interessiert sie das auch nicht besonders. Denn jetzt, beschließt sie, wird sie zuerst einmal jede Sekunde dieses gemeinsamen Abends voll auskosten.

*

Etwa zwanzig Minuten später bleibt das Quad in der Nähe eines etwas mitgenommenen Blechschildes stehen, das in schnörkeligen Buchstaben von einem Wort geziert wird. ,,Wolkental'', liest Milo, als er Lenis Blick bemerkt und reicht ihr die Hand, um ihr beim Absteigen zu helfen. ,,Man sagt, wer sich hier ineinander verliebt, bleibt für immer verbunden."

Ihre Finger ruhen sicher auf seinen und in ihrer Brust breitet sich Wärme aus, als er ihr verschmitzt zulächelt. Lenis Lippen verziehen sich zu einem breiten Lächeln und sie kann nicht verhindern, dass ihr ein leises Kichern entschlüpft. Oh Gott, wie süß! Ob Milo das gerade frei erfunden hat oder nicht, es kommt ihr in diesem Moment wie das Romantischste vor, das sie jemals gehört hat. Die Geschichtenliebhaberin in ihr leckt Blut und kann es nicht lassen, nachzuhaken: ,,Stimmt das denn wirklich? Also kennst du Pärchen, auf die das zutrifft?"

,,Oh, glaub mir", lacht Milo, ,, da gibt es sogar mehr, als du dir vorstellen kannst." Kurz lässt er ihre Hand los, um ihr die Tür ins Innere des Wolkentals aufzuhalten. Doch kaum, dass sie eingetreten ist, umschließen seine Finger erneut die ihren. ,,Schau mal", sagt er und führt sie auf eine Wand in der Nähe des Eingangs zu.

Sofern Leni das auf die Schnelle und in der schwachen Beleuchtung erkennen kann, wird die Wand – wie alle anderen auch – zu zwei Dritteln von einer dunklen Holzvertäfelung umschlossen, während das letzte Drittel freigelassen und lediglich weiß gestrichen worden ist. Doch das eigentlich Interessante ist weder der Putz an der Wand noch das hübsch gemaserte Holz, sondern die vielen, vielen Fotos. Die Ecke, vor der sie jetzt Hand in Hand mit Milo steht, wird über und über davon bedeckt. Unzählige Schnappschüsse bedeckten beinahe jeden verfügbaren Zentimeter Holz und eine kleine Box mit unbenutzten Reisnägeln deutet darauf hin, dass die Besitzer*innen des Wolkentals mit weiteren Fotos rechnen.

,,Alle Pärchen auf den Fotos hier haben sich in dieser Bar verliebt und nie getrennt. Zumindest erzählt man sich das hier so. Ob es auf alle zutrifft, kann ich natürlich nicht sagen, aber bei den beiden hier stimmt es auf jeden Fall." Fast schon zärtlich deutet Milos Finger auf ein Foto, das etwas tiefer hängt als die meisten. Es sieht auf den ersten Blick eher unscheinbar aus, weil die Farben nicht ganz so kräftig sind und die Gesichter des Pärchens ein wenig im Dunkeln liegen. Doch seltsamerweise macht es das nur umso ausdrucksstärker. ,,Das hier ist meine Schwester und ihr Mann. Eliana und Michael haben sich schon in ihrer Schulzeit hier verliebt. Inzwischen sind sie verheiratet, haben zwei unglaublich freche Jungs auf die Welt gebracht und ich kann mir echt nicht vorstellen, dass sie sich jemals trennen werden."

,,Wow, wie schön!" Leni seufzt versonnen. ,,Sie sehen echt unglaublich süß zusammen aus."

,,Ja, schon." Er schenkt Leni ein ehrliches Lächeln.

Für einen Moment verharren sie noch vor der Fotowand und Leni verliert sich in der Betrachtung der unzähligen glücklich wirkenden Gesichter. Wie sie wohl zueinander gefunden haben? Ob sie tatsächlich alle noch zusammen sind? Und ob Leni wohl eines Tages selbst auf einem Bild in dieser Bar verewigt wird? Womöglich sogar gemeinsam mit Milo?

,,Na komm, lass uns mal was zu essen bestellen." Sanft umfasst Milo Lenis Hand etwas fester, um ihr den eigentlichen Gastraum zu zeigen. Schweren Herzens reist sich Leni von der Fotowand los und lässt sich von Milo das Wolkental erklären. Scheinbar handelt es sich beim Wolkental um einen Irish Pub, bei dem an jedem Wochentag abends etwas anderes geboten wird. Montags findet immer ein Pub Quiz statt, dienstags ist student night, mittwochs cocktail night, donnerstags Karaoke, freitags spielen hin und wieder kleinere Bands in der Bar, samstags finden Live-Übertragungen der Bundesliga statt, und sonntags ist Zeit für Flohmärkte, Geburtstage und andere abwechslungsreiche Events. ,,Und einmal im Monat findet sonntags außerdem ein Poetry Slam statt", beendet Milo seine Aufzählung.

Spätestens nach dem letzten Satz hat Milo Lenis volle Aufmerksamkeit. ,,Ehrlich? Wahnsinn, das glaub ich einfach nicht. Es reicht ja nicht, dass es hier eine unfassbar romantische Fotowand und richtig viele coole Veranstaltungen gibt. Jetzt gibt's hier ernsthaft auch noch regelmäßig einen richtigen Poetry Slam? Weißt du eigentlich, wie lange ich mir schon vornehme, mal zu einem hinzugehen?" Leni kann es kaum glauben, wie sehr sie diesen Ort jetzt schon liebt, obwohl sie noch nicht einmal etwas gegessen haben. Wie sehr sie von dem gemütlichen Licht und der aus rockigen Oldies bestehenden Hintergrund-Musik in ihren Bann geschlagen wird. Und wie dann auch noch ausgerechnet das, wofür ihr Herz schon lange still und heimlich schlägt, hier an diesem Ort stattfindet. Regelmäßig. Und sich ihr damit unerwartet die Möglichkeit bietet, eine lang gehegte Sehnsucht zu stillen.

,,Na dann lass uns das doch endlich ändern, oder? Der nächste Slam findet in zwei Wochen statt. Wenn du magst, gehen wir gemeinsam hin", schlägt Milo unvermittelt vor und überrumpelt Leni damit ganz schön.

Doch entgegen ihrer Gewohnheit, ein solches Angebot in allen Einzelheiten zu zerdenken, überrascht sie sich selbst, indem sie, ohne einen Wimpernschlag zu zögern, zustimmt: ,,Unbedingt!"

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