Kapitel 12
Rosen, Tulpen, Nelken, alle Blumen welken. Nur die eine nicht, die heißt Vergissmeinnicht. (Deutsches Sprichwort)
*
Nach dem Mittagessen ist Leni froh, auf Marthas Bitte hin nach draußen verschwinden zu dürfen. Sie schnappt sich das von der Wirtin hergerichtete Werkzeug – eine kleine Gießkanne, Handschuhe und einen Eimer mit Gartengeräten – und widmet sich damit den Blumentöpfen und Kräuterbeeten rings um die Hütte. Die Fingerspitzen tief in der dunklen Erde vergraben lässt sie die letzten Minuten noch einmal Revue passieren.
Die ganze Zeit während und nach dem Mittagessen ist Milo ungewöhnlich still gewesen. Und ziemlich unruhig. Ganz so als sei er entweder auf der Flucht oder als wäre er kurz davor zu platzen, weil er etwas sagen will, das er unbedingt loswerden möchte. Ohne recht zu wissen, wie. Wie er seine Gedanken am besten in Worte fassen kann, während er äußerlich um Lässigkeit bemüht ist.
Sie legt den Kopf in den Nacken, schließt die Augen und gönnt sich ein paar Sekunden ganz allein. Ignoriert dabei gekonnt, dass Jona sich ihr gegenüber nach wie vor reserviert verhält. Blendet aus, dass Milo ihr bislang verschwiegen hat, eine Freundin zu haben. Vergisst für einen Moment den Horror von einem Pokerabend, der ihr schon allzu bald bevorsteht. Und schöpft eine vorsichtige naive Hoffnung, dass doch alles nur halb so wild ist, wie gedacht. Die Hoffnung stirbt ja bekanntlich zuletzt. Von Sonnenstrahlen umgeben steht sie still, atmet die sommerliche Bergluft ein und lässt ihre Gedanken schweifen, bevor sie sich dann doch abwendet, um sich erneut dem Unkraut vor ihr zu widmen. Vorsichtig entfernt sie die unerwünschten Keimlinge, lockert die Erde und gibt den Pflanzen zu trinken. Sie merkt kaum, wie die Zeit vergeht, bis auf einmal unerwartet ein Schatten auf sie fällt. Instinktiv werdet sie sich um und sieht sich unvermittelt Milo gegenüber.
Die Schultern leicht hochgezogen und die Hände in den Hosentaschen vergraben blickt er sie an. ,,Da steckst du also."
,,Sieht so aus." Unsicher schenkt sie ihm ein kleines Lächeln. Kaum merklich erwidert er es. Ganz kurz. So kurz, dass sich Leni nicht ganz sicher ist, ob sie es sich vielleicht doch nur eingebildet hat.
Er räuspert sich. ,,Ist denn", er zögert kurz, ,,ist denn alles okay bei dir? Ich hatte vorhin den Eindruck, dass du dich nicht so wirklich über Mellis Einladung freuen kannst."
Leni schließt gequält die Augen. Lässt sie geschlossen, als sie mühevoll eine Antwort hervorquetscht: ,,Das stimmt. Ich bin mir nicht ganz sicher, was es zu bedeuten hat, dass du mir verschwiegen hast, eine Freundin zu haben. Ich finde es einfach ziemlich uncool, dass ich beinahe jemanden betrogen hätte. Also du weißt schon, wegen der Sache mit dem Eis. Falls es denn überhaupt ein Date hätte werden sollen." Kaum dass ihr die Worte über die Lippen gerollt sind, wird ihr siedend heiß klar, dass Milo nie eindeutig von einem Date gesprochen hat. Sie ist schlichtweg davon ausgegangen, weil sie es sich so sehr gewünscht hat. Wie peinlich! Noch immer ohne ihn anzusehen, macht sie Anstalten sich umzudrehen und zu gehen, um sich davon abzuhalten, sich weiter ins Verderben zu plappern. Sie würde gerade am liebsten im Erdboden versinken.
,,Leni, warte!" Sanft hält Milo sie an ihrer Schulter zurück, lässt dann aber sofort seine Hand sinken, als hätte er sich verbrannt. ,,Entschuldige." Er atmet tief durch. ,,Würdest du mir bitte einfach kurz zuhören?"
Leni nickt.
,,Danke. Also erstens", er unterbricht sich kurz und spricht dann hastig weiter, wie um es hinter sich zu bringen, ,,ich habe keine Freundin. Ich weiß nicht, wie du darauf kommst oder von wem du das hast, aber ich bin im Moment mit niemandem zusammen. Und zweitens", es hört sich so an als würde er lächeln, ,,würde ich mich immer noch sehr gerne mit dir zu zweit treffen. Auf ein Date".
Leni ist wie erstarrt. Zögerlich dreht sie sich zu ihm um. ,,Ehrlich?" Sie kann und will nicht verhindern, dass er sieht, wie wichtig ihr seine Ehrlichkeit ist. Wie hoffnungsvoll und verletzlich sie sich bei ihrer Frage fühlt.
Er hält ihren Blick fest und antwortet: ,,Ehrlich."
Und sie glaubt ihm. Ein breites Grinsen erhellt ihr ganzes Gesicht und sie muss sich auf die Lippe beißen, um nicht loszukichern.
,,Und", Milo schmunzelt, ,,wann hättest du denn Zeit? Für unser Date?"
,,Ich weiß nicht. Vielleicht morgen? Ich werde Martha fragen und dir dann schreiben, okay?"
,,Okay."
Sie lächeln einander an. Schweigend. Halten sich gegenseitig mit ihren Blicken fest. Auch dann noch, als Milo einen kleinen Schritt auf sie zu macht. Und noch einen. Und noch einen. Aber nicht, um sie zu küssen oder zu umarmen, sondern um eine Blüte aus einem der Blumenkästen zu pflücken und sie Leni hinters Ohr zu stecken. Sanft streichen seine Finger über ihre Haarspitzen, bevor er wieder zurücktritt.
Leni räuspert sich. ,,Ich schätze, ich sollte dann mal weitermachen." Sie lächelt verlegen.
,,Klar, ich wollte mich auch eigentlich nur verabschieden. Ich hatte vor, heute noch zu springen." Er deutet vage zum Gipfelkreuz, das vereinzelt von bunten Fallschirmen umgeben wird.
Lenis Augen werden groß. Voller Faszination und Bewunderung sieht sie ihn an. ,,Sag bloß, du bist einer dieser Verrückten, die sich hier regelmäßig vom Berg stürzen."
Milo lacht. ,,Sieht so aus." Und so als ob er nicht sicher ist, ob sie seine nächsten Worte hören soll, fügt er etwas leiser hinzu: ,,Vielleicht willst du ja irgendwann mal mitkommen."
Lenis Augen werden, wenn möglich, sogar noch größer. ,,Meinst du das ernst? Du würdest mich mitnehmen?"
,,Klar!"
,,Dann gerne. So unglaublich gern!" So fühlt es sich also an, beinahe vor Glück zu platzen, denkt Leni bei sich. So fühlt es sich also an, wunschlos glücklich zu sein. So fühlt es sich an, wenn Hoffnungen nicht nur nicht enttäuscht, sondern maßlos übertroffen werden.
,,Cool!"
Sie lächeln einander noch einmal an, bevor sie sich endgültig verabschieden.
Verträumt blickt Leni den schmalen, gewundenen Wanderweg entlang, um deren letzte sichtbare Biegung Milo soeben verschwunden ist. Träge blinzelt sie in die schwächer werdende Nachmittagssonne und tastet vorsichtig nach der Blüte in ihrem Haar. Erst später am Abend sieht sie in der Spiegelung ihres Handydisplays, dass es die Blüte eines Vergissmeinnichts ist. Ihr Herz schmilzt beim Anblick dieser Geste dahin und Leni spürt, dass es stimmt, dass Namen Macht haben. Und dass das auch für Blumen gilt. Sie ahnt, dass sie Milo wohl niemals vergessen wird.
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