Kapitel 11

Alles beginnt mit der Sehnsucht. (Nelly Sachs)

*

,,Mammina? Hat sich Martha eigentlich schon wieder gemeldet?" Milo gibt sich alle Mühe, seine Frage beiläufig klingen zu lassen und kommt sich deswegen im selben Moment unglaublich blöd vor.

,,Nein, wieso?"

,,Ich dachte, weil gestern wieder so gutes Wetter war und Jona und sie bestimmt wieder einiges verkauft haben ... " Er lässt das Ende des Satzes absichtlich in der Luft hängen in der Hoffnung, dass sie darauf eingeht. In der Hoffnung, dass es ihm außerdem nicht auf die Stirn geschrieben steht, wieso er nach einem Vorwand sucht, um Jona zu besuchen. Jona? Na ja, nicht ganz. Argh, wieso verhält er sich auf einmal so schrecklich erbärmlich? Als bräuchte er einen besonderen Anlass, um einen Abstecher zur Berghütte zu machen. In all den vielen Sommern zuvor ist der schließlich auch nie nötig gewesen.

Als Ella Milo kurz prüfend über die Theke hinweg mustert, hat er das Gefühl, dass ihm seine Emotionen klar und deutlich vom Gesicht abzulesen sind. Ganz gleich, ob er versucht, sie zu verbergen. ,,Ruf doch einfach kurz oben an. Und selbst wenn sie nichts brauchen, sie freuen sich doch immer dich zu sehen."

,,Hast Recht, mach ich." Er stieß sich mit beiden Händen an der Theke ab und schiebt rückwärtsgehend noch nach: ,,Soll ich unterwegs noch was erledigen?"

,,Mir fällt gerade nichts ein, aber falls doch gebe ich Bescheid. Viel Spaß!" Ella wirft ihrem Sohn ein Luftküsschen zu. Es sieht beinahe so aus, als würde sie sich nur mit Mühe zurückhalten können, Milos seltsames Verhalten genauer zu hinterfragen.

Um mögliche weitere Peinlichkeiten zu vermeiden, flüchtet Milo deshalb geradezu aus dem Raum. Wirft lediglich noch ein letztes ,,Ciao! Bis später!" ins Innere der Trattoria.

Und war doch nicht schnell genug. Denn anders als Milos Mammina hat seine Schwester Eliana weniger Hemmungen. ,,Ja, viel Spaß Bruderherz! Wie heißt sie denn?" Ein lautes Lachen folgt und wird dann von der ins Schloss fallenden Tür verschluckt. Auch ohne es zu hören, weiß Milo, dass auch Ella in das Lachen miteinsteigen wird und unwillkürlich zupft auch an Milos Lippen ein Grinsen. Eines, das sich trotz allem viel zu gut anfühlt, um es sich aus dem Gesicht zu wischen.

*

Es fühlt sich seltsam an, als Milo den Kickstarter am Quad durchtritt und sich kurz darauf ein zweites Mal innerhalb von zwei Tagen die Serpentinen zur Berghütte emporschlängelt. Er kann kaum glauben, wie viel allein während der letzten 24 Stunden passiert ist. Erst gestern ist er dieselbe Strecke mit einer unbeschreiblichen Wut im Bauch entlanggerast. Zutiefst verletzt, innerlich kochend und wie blind. Ohne seine Umgebung um sich herum richtig wahrzunehmen. Zu unverstanden hat er sich gefühlt. Ausgenutzt. Das Gewitter in seinem Inneren ist so laut gewesen, dass es auch all die Melodien außerhalb seines Körpers übertönt hat. Der Schleier vor seinen Augen so grau, dass er alle Farben verdunkelt. Seine Gefühle so giftig, dass neben ihnen kein Platz mehr für etwas Anderes gewesen ist. Bis dann Leni auf der Bildfläche erschienen ist oder, sagen wir, bis sie ihn beinahe umgerannt hat.

Jetzt im Moment spürt er hingegen nichts als kribbelnde Vorfreude. Er nimmt alle Geräusche, Farben und Gerüche unfassbar intensiv wahr. Spürt das Kitzeln der Sonnenstrahlen auf seiner Nase, bewundert das Schattenspiel der Bäume und riecht den intensiven Duft frisch gefällter Fichten, deren Farbe ihn an Lenis Iriden erinnert. Er ärgert sich noch nicht einmal darüber, dass ein paar Spaziergänger*innen ihm für kurze Zeit den Weg versperren.

Oben angekommen parkt Milo schwungvoll vorm Lieferant*inneneingang. Eine Handvoll Kies spritzt auf. Er grinst lausbubenhaft. Es mag merkwürdig klingen, aber er fühlt sich ungelogen, als könnte er Bäume ausreißen.

,,Na, hast du uns schon vermisst?" Milo lächelt, als er die vertraute Gestalt im Türrahmen lehnen sieht. Frech grinsend und tiefenentspannt nimmt sie genüsslich einen Zug von ihrer Zigarette.

,,Auf keinen Fall, ich hab nur das gute Essen hier vermisst", kontert Milo und lacht. Natürlich hat er sie alle vermisst. Melissa, Jona und Martha sind, seit er denken kann, ein fester Bestandteil in seinem Leben. Für ihn gehören die drei wie selbstverständlich zu seiner Familie. Doch trotzdem kann er nicht leugnen, dass dieses Mal eher jemand anderes der Grund für seinen heutigen Besuch ist. ,,Pass bloß auf, dass Jona dich nicht so sieht'', versucht er sich selbst von dieser Tatsache abzulenken.

,,Ach sei bloß still! Wehe du verrätst mich!"

Milo nickt bloß, schließt Melissa in eine kurze Umarmung, quetscht sich dann an ihr vorbei durch die Hintertür und hofft im Stillen, dass Jona und Melissa diese Sache zwischen ihnen ganz bald geregelt kriegen. Melissa kann sich noch so taff geben, Milo weiß einfach, dass es auch ihr damit nicht allzu gut geht. Von Jona ganz zu schweigen. Trotzdem wird Milo sich da nicht einmischen. Das hat er sich geschworen.

*

Martha hat Milo, wie könnte es anders sein, direkt nach einer herzlichen Begrüßung an den Stammtisch verfrachtet und ihm versprochen, dass sie für ihn gleich etwas zu essen organisieren wird. Wogegen Milo definitiv nichts einzuwenden weiß. Er liebt einfach alles, was es in Marthas Hütte zu essen gibt. Ausgenommen vielleicht die Linsensuppe. Die ist ihm einfach zu sauer, was er ihr gegenüber allerdings niemals erwähnen würde.

Lässig und ganz so als würde er hierhergehören, lehnt sich Milo zurück, die Arme selbstbewusst auf die Rückenlehne der Sitzbank gelegt und lässt seinen Blick entspannt durch den Gastraum wandern. ,,Ist Jona gerade im Keller?", ruft er fragend in Richtung Küche.

,,Ja, er wechselt gerade die Fässer aus."

Überrascht richtet sich Milo etwas auf. So sehr er doch die ganze Zeit auf diesen Moment gewartet hat, so hat es ihn jetzt doch ganz schön kalt erwischt. Wie gebannt klebt sein Blick auf Leni, die wie eine Erscheinung im Türrahmen aufgetaucht ist. Drei voll beladene Teller auf ihren hübschen Händen balancierend, die sie wenige Wimpernschläge später auch schon schwungvoll vor ihm platziert.

,,Hier, bitteschön. Lass es dir schmecken. Bloß vorsichtig, ist noch ein bisschen heiß. Wahrscheinlich musst du erst blasen."

Milo hebt eine Augenbraue. ,,Blasen?"

,,Blasen, pusten, was auch immer du willst. Wegen mir kannst du deiner Currywurst auch Luft zufächeln." Leni rollt die Augen und lässt sich geräuschvoll neben ihn plumpsen.

Melissa, die ihre Raucherinnenpause wohl inzwischen beendet hat, schnaubt grinsend, als sie zu ihnen schlendert. ,,Recht so, Leni! Von mir aus soll Milo sich einfach die Zunge verbrennen, wenn sein vorpubertäres Gehirn sich nicht dazu überwinden kann."

Leni lacht. Und allein dieses Lachen hilft ein bisschen dabei, dass sich Milo nicht allzu blöd vorkommt. Allzu blöd, weil er, seit Leni den Raum betreten hat, keinen einzigen sinnvollen Satz herausgebracht hat. Allzu blöd, weil er noch immer seine Augen kaum von ihr lösen kann. Aber allzu blöd vor allem deshalb, weil er sich heute wirklich schon den ganzen Tag wie ein hormongesteuerter Vierzehnjähriger fühlt, der sich zum ersten Mal im Leben verknallt hat.

,,Apropos vorpubertär. Ich habe Leni übrigens überreden können, auch zum Pokerabend zu kommen", nimmt Melissa den Faden wieder auf. ,,Ihr Jungs werdet schon sehen, wir machen euch sowas von fertig! Stimmts, Leni?"

Wenn Milo nicht alles täuscht, droht das Lächeln auf Lenis Lippen gefährlich zu wackeln.

,,Stimmt'', murmelt sie nur und zieht wie schützend ihren Teller zu sich heran. Demonstrativ belädt sie ihre Gabel und pustet geräuschvoll darauf.

,,Siehst du Milo, so geht das!", kommentiert Melissa frech.

Milos Konter besteht lediglich aus einem Lachen, in das beide junge Frauen miteinstimmen, und er glaubt fast, sich den leisen Schmerz auf Lenis Zügen nur eingebildet zu haben.

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