Kapitel 10

Zwei Menschen reichen vollkommen für ein Gefühlschaos. (Ernst Ferstl)

*

Am nächsten Morgen erwacht Leni mit einem breiten Lächeln auf den Lippen. Sie muss nicht erst in den Spiegel sehen, um zu wissen, dass sie schrecklich verknallt aussieht mit ihren leuchtenden Augen und den leicht geröteten Wangen. Ob die Intensität der eigenen Gefühle wohl mit zunehmendem Alter abnimmt? Allmählich bezweifelt Leni das ernsthaft, fühlt sie sich doch gerade mindestens genauso aufgeregt wie mit dreizehn, und das nach nur einer kurzen Begegnung und zwei Textnachrichten. Probehalber hält sie sich ein Oberteil nach dem anderen vor die Brust und verzieht zweifelnd das Gesicht. Ob Milo die Bluse wohl zu spießig finden würde? Das Top zu freizügig?

Genervt von sich selbst lässt sie sich rücklings auf ihr Bett fallen und rauft sie sich die Haare. Es sollte ihr nicht so wichtig sein, wie Milo über ihre Kleidung denkt. Er soll sich schließlich nicht in ihre Bluse verlieben, sondern wenn dann in sie. Das würde Nele jetzt jedenfalls zu ihr sagen. Am liebsten würde Leni ihre Freundin anrufen, kommt sich deswegen jedoch im nächsten Moment schon wieder lächerlich vor. Sie hat heute schließlich weder ein Date, noch steht sonst ein lebensveränderndes Ereignis bevor. Vor ihr liegt einfach nur ein ganz normaler Arbeitstag am schönsten Ort der Welt. Zudem ist noch nicht einmal gesagt, dass Milo heute überhaupt auftauchen wird.

,,Stell dich nicht so an", schimpft sie leise mit sich selbst und rappelt sich mühsam wieder auf. Stöhnend blickt sie auf das Klamottenchaos vor sich, schnappt sich kurzerhand ihr Lieblingstop und die erstbeste Jeans, legt alles zusammen und bringt ihre Frisur wieder in Ordnung. Ganz bewusst entscheidet sie sich dagegen, ihren Lippenstift noch einmal nachzuziehen und beschließt, auch ihren Nagellack so zu belassen, wie er eben aussieht. Beim Anblick der abgeblätterten, pastellfarbenen Stellen, zupft ein rebellisches Lächeln an ihren Mundwinkeln und eine seltsame Mischung aus Trotz und Stolz wallt in ihr auf. Nein, sie würde sich ihren Hormonen ganz sicherlich nicht kampflos ergeben!

*

,,Na? Gut geschlafen?"

Zur Antwort erhält Leni von Jona lediglich ein Brummen. Puh, da scheint jemand aber heute gar nicht gut gelaunt zu sein!

,,Ist es wegen gestern? Bist du noch sauer auf mich?", hakt sie vorsichtig nach.

Ein Kopfschütteln, das Leni jedoch nicht so richtig überzeugt.

,,Na gut. Falls es noch irgendetwas gibt, das du mir sagen möchtest, dann tu das bitte und falls du doch sauer auf mich bist, würde ich das gerne wissen, damit ich mich entschuldigen kann. Ich möchte wirklich nicht, dass es komisch ist zwischen uns. Immerhin arbeiten wir zusammen und ich hatte eigentlich den Eindruck, dass wir uns ganz gut verstehen."

,,Ich hab nur einfach schlecht geschlafen und mich gestern mit Milo gestritten. Lass gut sein, Leni. Und bevor du frägst, worüber – das soll er dir lieber selber erzählen."

Damit ist das Gespräch für ihn beendet und die Selbstsicherheit, mit der Leni am Morgen ihr Zimmer verlassen hat, gefährlich nahe daran einzustürzen. In Gedanken geht sie den gestrigen Tag noch einmal durch und fühlt sich schrecklich, weil sie in ihrer Aufregung offensichtlich völlig ausgeblendet hat, dass Jona über ihre Begegnung mit Milo alles andere als glücklich ist. Zuerst hat sie gedacht, sein Ärger hänge damit zusammen, dass sie so lange hat auf sich warten lassen. Immerhin ist gestern wirklich viel losgewesen. Doch heute hat sie dagegen das Gefühl, dass viel mehr auf dem Spiel steht, als sie bislang vermutet hat. Die Freundschaft zwischen Jona und Milo ist dabei nur ein Punkt von vielen. Ob sie das Date wohl doch besser absagen sollte? Angestrengt runzelt sie die Stirn und kommt sich auf einmal schrecklich naiv vor. Und was genau soll Milo ihr überhaupt erzählen?

Es kostet Leni all ihre Kraft, ihre Aufmerksamkeit zurück auf ihre Arbeit zu lenken.

*

Als wenig später Melissa dazustößt und die komische Stimmung bemerkt, weist sie Jona deswegen zurecht und lässt eine Bemerkung über einen bevorstehenden Pokerabend fallen. Es fasziniert Leni, wie Melissa mit den beiden Jungs umgeht. Einerseits macht sie ihren Standpunkt unmissverständlich klar, indem sie Jona vorwirft, wie kindisch er sich ihrer Meinung nach verhält. Doch andererseits lockert sie ihre Ansage im nächsten Moment sofort wieder auf, indem sie ihn damit aufzieht, ob seine miese Laune wohl damit zusammenhängt, dass er aller Voraussicht nach auch dieses Mal wieder gegen sie im Pokern verlieren wird.

,,Du kommst doch auch, oder?", wendet sich Melissa schließlich unverhofft direkt an Leni. ,,Du musst einfach! Bitte, bitte, bitte! Hab Mitleid mit mir, ich halte es unmöglich noch einmal als einzige Frau mit Jona und seinen Kumpels aus!" Theatralisch sinkt sie vor Leni auf die Knie und blickt gespielt flehend zu ihr empor.

Leni lacht belustigt. ,,Oh Gott, steh bitte wieder auf!"

,,Und nein, Milos Freundin zählt ganz bestimmt nicht", fügt Melissa mit einem Seitenblick auf Jona hinzu, dessen Protest sie ansonsten gekonnt ignoriert.

Lenis breites Grinsen verrutscht etwas. Nun, das erklärt natürlich so einiges. Aber es war ohnehin besser so, oder? Leni schluckt den aufwallenden Schmerz tapfer hinunter und nimmt die Einladung an. Wie in Trance lässt sie Melissas stürmische Umarmung über sich ergehen, die aufgeregt auf sie einplappert. Auf was hatte sie sich da nur eingelassen?

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top