Kapitel 1
,,Die Zukunft gehört denen, die an die Wahrhaftigkeit ihrer Träume glauben." (Eleanor Roosevelt)
*
Der Zustand zwischen Träumen und Wachen ist seltsam.
Einerseits befindet sich der Geist noch ganz weit fort. An einem fernen Ort. Die Gedanken sind in einer Art Schwebe. Wenn man etwas Schönes geträumt hat, lächelt die Seele stumm vor sich hin. Sie genießt den Moment und weiß in diesen wenigen Augenblicken noch nicht, dass alles nur ein Traum war.
Andererseits spürt der Körper bereits, dass er wieder in der Wirklichkeit angelangt ist. Unsere Sinne nehmen allmählich wahr, wo wir uns befinden. Sie erspüren die warmen Laken, die Geräusche und Gerüche um uns herum. Sie schmecken den etwas pelzigen Geschmack im Mund, den man für gewöhnlich vor dem Zähneputzen hat und ahnen, ob die Sonne bereits aufgegangen ist oder ob noch immer lediglich der Mond und die Sterne den Himmel in ein sanftes Licht tauchen.
An diesem Zustand zwischen Träumen und Wachen versuchen wir uns oftmals noch ein Weilchen festzuklammern. Weil er sich so schön friedlich anfühlt. Und weil wir keine Lust darauf haben aufzuwachen und dem Alltag mit seiner schonungslosen Wirklichkeit ins Gesicht zu blicken. Weil wir lieber noch einen Moment länger in den warmen Laken verweilen und unseren Gedanken nachhängen möchten. Weil Träumen schöner scheint als Wachen.
Als Leni an diesem Morgen aufwacht, ergeht es ihr ganz ähnlich und doch gleichzeitig völlig anders. Einen Moment lang bleibt sie mit geschlossenen Lidern unter ihre Bettdecke gekuschelt liegen. Sie liebt das Gefühl der Schwerelosigkeit, wenn ihre Sinne bereits den Raum um sich herum zu ertasten und sich langsam zurechtzufinden versuchen, während ihr Geist noch ein wenig weiterträumen möchte und sich standhaft weigert zur Rationalität zurückzukehren. So lange wie möglich bemüht sie sich dieses Gefühl voll auszukosten. Die Bilder von bewaldeten Bergen und saftig grünen Weiden, von einer mit voller Kraft strahlenden Sonne vor einem wolkenlosen, blauen Himmel bewirken, dass sie seufzend die Mundwinkel nach oben biegt. Fast kichert sie, als sie vor ihrem inneren Auge die kleine Heidi nur mit einem weißen Hemd bekleidet, die Arme weit ausgebreitet, auf den Großvater zusausen sieht. Ihre Füße tragen sie so schnell, dass ihr der Wind kühl und spielerisch durch ihr Haar fährt. Endlich ist sie wieder zuhause! Joseph bellt ebenfalls freudig und der Großvater wirkt wie immer ein wenig mürrisch. Seltsam. Er schließt Heidi gar nicht in die Arme und schimpft stattdessen mit Joseph, der einfach nicht zu bellen aufhört. Das Bild beginnt zu wackeln, zu flackern und -
Leni blinzelt noch immer etwas verschlafen und seufzt verärgert. Wie gerne hätte sie noch ein wenig länger von Heidi geträumt, statt vom immerfort kläffenden Hund ihrer Nachbarn zurück in die Realität geholt zu werden. Der Traum von den Bergen ist einfach zu schön gewesen!
Es braucht ein paar Wimpernschläge, bis ihr bewusst wird, dass zumindest der Teil mit den Bergen kein reines Wunschträumen gewesen ist. Schlagartig hellwach, setzt sie sich im Bett auf.
Ihr Blick fällt auf ihre bereits so gut wie fertig gepackte Reisetasche. Auf die Reisetasche, die sie den Sommer über begleiten wird. Alles, das ihr auch nur ansatzweise nützlich sein könnte, will sie darin mitnehmen. Leni ist gern für alle Eventualitäten gerüstet und empfindet bereits beim Gedanken daran, womöglich doch nicht ausreichend vorbereitet zu sein, leichte Bauchschmerzen. Ein flaues Gefühl breitet sich in ihrer Magengegend aus. Instinktiv tastet sie auf dem Nachtkästchen nach ihrer Packliste.
Sie weiß schon jetzt, dass sie die nächsten Stunden noch mindestens fünfmal alles durchgehen wird, um ganz sicher sein zu können, dass sie auch wirklich alles eingepackt hat. Der Gedanke an den restlichen Tag macht sie ganz kribbelig. Vermutlich wird sie ihr Frühstücksmüslie vor Nervosität kaum herunterkriegen. Vor der endgültigen Abreise wird ihr wohl, wie meistens, leicht übel sein. Sie wird sich Sorgen machen, ob sie auch sicher an alles gedacht, nichts verwechselt und richtig entschieden hat. Und doch wird wahrscheinlich vor allem ein Gefühl überwiegen: Die Vorfreude. Vorfreude auf diesen einzigartigen Sommer. Auf diese einzigartige Chance. Den Ferienjob ihrer Träume. Auf die schöne Zeit an diesem traumhaft schönen Ort. Auf etwas, von dem sie schon so lange geträumt hat.
Denn Leni ist sich sicher: Es gibt nichts Schöneres, als wenn Träume wirklich wahr werden.
*
,,Versuch die Zeit einfach zu genießen!" Ein solcher Rat ist typisch für Lenis Mutter. Sie ist eine Künstlerin durch und durch und hat es sich zum Ziel gemacht jeden Moment voll auszukosten. Egal, welche Gelegenheit sich ihr bietet, sie ist immer gerne bereit sie zu ergreifen – ungeachtet der Konsequenzen. Kaum jemand lebt wohl so intensiv und leidenschaftlich wie Nora.
,,Ich gebe mein Bestes", verspricht Leni. Sie schluckt die leichte Enttäuschung entschlossen herunter und versucht sich an einem wackeligen Lächeln. Leni liebt ihre Mutter. Sie respektiert sie für ihre Ideale und kann gut verstehen, warum sie ihr Leben so lebt, wie sie es nun einmal tut. Und dennoch kann sie sich kaum dagegen wehren, dass sie sich manchmal eine weniger impulsive Mutter wünscht. Eine, die mehr um sie besorgt ist. Die sie bitten würde jeden Tag anzurufen und bloß nichts Unüberlegtes zu tun. In Momenten wie diesen, wäre sie froh, wenn Noras Handeln etwas mehr von Vorsicht als von Spontanität bestimmt würde.
Leni ist wieder flau im Magen. Alle möglichen irrationalen Sorgen wirbeln in ihrem Kopf herum. Angefangen dabei, ob sie wohl ihre Anschlusszüge erwischen wird, bis hin zu Bedenken ihre zukünftigen Kollegen betreffend. Ob sie sich dort auch wohl fühlen wird?
,,Hör schon auf so viel nachzudenken. Das wird toll! Da bin ich sicher." Nora schenkt ihrer Tochter ein warmes Lächeln und breitet einladend die Arme aus.
Seufzend sinkt Leni ein letztes Mal an die Brust ihrer Mutter. Kuschelt sich an sie. Tankt Kraft in ihrer Umarmung. Dann atmet sie einmal tief durch, strafft den Rücken, wirft sich ihre Tasche über die Schulter und bewegt sich zielsicher auf den Bahnhof zu. Ein letztes Mal kontrolliert sie ihre Taschen auf Handy und Geld, überprüft die Abfahrtszeiten und Gleisnummern und winkt dann ihrer Mutter noch einmal zum Abschied zu. Mit langen Schritten eilt sie auf die Türen ihres Zuges zu und lässt sich auf einen leeren Sitz am Fenster fallen. Als sich wenig später der Zug in Bewegung setzt, ist sie einfach nur froh es so weit geschafft zu haben. Denn jetzt gibt es kein zurück mehr. Jetzt kann sie sich endlich ein bisschen entspannen. Oder es zumindest versuchen. Vielleicht gelingt es ihr ja sogar ein wenig an ihrem aktuellen Buch weiterzulesen. Vielleicht. Leni lächelt beim Anblick ihrer Stofftasche, die neben ihrer Reisetasche auf dem Sitzplatz neben ihr liegt. Der Stofftasche, die sie ganz bestimmt mit ausreichend Lesestoff versorgen würde.
Jetzt kann der Sommer beginnen.
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