9. Kapitel: Erinnerungen

"Mr Makoye, Mrs Makoye, es tut mir sehr leid, Ihnen sagen zu müssen, dass wir Ihnen nun nicht mehr helfen können."
Ein ersticktes Schluchzen.
"Können Sie ... können Sie wirklich gar nichts mehr tun?" Die heisere Stimme meines Vater klingt noch ein wenig hoffnungsvoll.
Doch der nächste Satz des Arztes macht diesen letzten Funken Hoffnung zunichte.
"Nein. AIDS verläuft in den meisten Fällen tödlich.
Es gibt teure Medikamente, die... die das Ganze noch ein bisschen hinauszögern können, aber für eine Heilung haben wir hier einfach nicht die Mittel.
Sie kamen spät.
Zu spät.
Wenn die Krankheit noch nicht so fortgeschritten wäre, hätten wir Sie vielleicht nach Europa oder Amerika fliegen lassen können, oder zumindest an einen Ort, wo es Mittel gegeben hätte.
Doch nun können wir Ihnen höchstens noch diese Medikamente geben, wenn Sie oder Angehörige bereit sind, das zu bezahlen."
"Aber was ist mit den Mädchen?", fragt meine Mutter mit tränenerstickter Stimme .
"Können wir sie noch einmal sehen?"
"Sie sind hier. Sie dürfen sich gleich verabschieden.
Aber bitte, so hart das klingen mag, vermeiden Sie jeglichen Körperkontakt.
Sie wollen doch nicht, dass sie auch krank werden und sterben, oder?"

Sterben.
Dieses Wort brennt sich in mein Gehirn.
Ich brauche ein bisschen, bis ich die Ausmaße dieses einzigen kleinen Wortes erfasst habe.
Bald werden Mum und Dad nicht mehr bei uns sein.
Sie werden uns nicht mehr im Arm halten, sie werden uns nicht mehr Gute Nacht sagen, sie werden gar nicht mehr mit uns reden.
Sie werden weg sein.
Für immer.

Ein Schluchzen entfährt meiner Kehle und schnell werde ich von der angelehnten Krankenzimmertür weggerissen.
Geistesgegenwärtig zieht Mia mich um die nächste Ecke und legt mir den Finger auf den Mund.
"Leise!", flüstert sie eindringlich.
"Du willst doch nicht, dass man uns erwischt."
Doch auch in ihren Augen kann ich das verräterische Glitzern von Tränen entdecken.

Dann werden wir von einer Arzthelferin aufgerufen:
"Die Töchter von Taio und Jua Makoye bitte ins Zimmer Fünfzehn."
Wir setzen uns in Bewegung und begeben uns auf den schwierigsten Weg unseres Lebens.
Dabei ahnt man das gar nicht, in diesem sauberen destillierten Krankenhausflur in Marsabit City.
Was für eine Ironie.
Das Leben unserer Eltern soll dort enden, wo das unsere begonnen hat.

Die grüne Neonlampe über der Tür zu Nummer Fünfzehn flackert und als wir den Raum betreten, geht sie aus.
"Wie das Leben unserer Eltern bald", denke ich bitter und erneut treten mir die Tränen in die Augen.
Wütend wische ich sie weg.
Dieses letzte Mal will ich stark sein vor meinen Eltern.
Dieses letzte Mal werde ich nicht weinen.
Ich möchte es ihnen nicht noch schwerer machen.
Doch als ich unsere Eltern in dem weißen Doppelbett sehe, in das sie verlegt worden waren - jetzt ist es ja egal! -, ist es um meine Fassung geschehen und ich fange an, haltlos zu weinen.
Sie sehen so klein und verletzlich aus unter den sauberen Decken,
mit Hautausschlägen und von der Krankheit geschwächt.

Aus müden, und dennoch wunderschönen dunklen Augen sieht meine Mutter mich an.
"Ich will nicht, dass ihr geht", schluchze ich.
"Lasst uns nicht alleine!"
"Schhh, September. Schhh.
Wir lassen euch nicht alleine.
Zumindest jetzt noch nicht."
Doch ich kann mich nicht beruhigen.
"September!", sagt mein Vater nun laut.
Was?
Er ist doch viel zu schwach, um seine Stimme zu erheben!
"September!", ruft da auf einmal eine Stimme von hinter mir, die wie eine Mischung aus Leo, Connor und Harry klingt.
Ich wirbele herum, doch da ist niemand.
"SEPTEMBER!"
Jetzt ist es ganz eindeutig Harrys Stimme.
Plötzlich werde ich gerüttelt ...

...und wache schweißgebadet auf.
Es ist tatsächlich Harry, der da an meiner Schulter rüttelt und mich besorgt ansieht.
Als er sieht, dass ich wach bin, seufzt er erleichtert.
"Ah, du bist wach. Ist alles in Ordnung?"
Nein, ist es nicht.
"Du hast im Schlaf 'Lasst uns nicht alleine!' gerufen", sagt er eindringlich.
"Wir lassen euch nicht alleine.
Wir sind immer für euch da, hörst du?"
Ich nicke schwach.
Wenn er wüsste, wie falsch er mit seiner Vermutung liegt.

"Ist wirklich alles ok?", fragt Harry nochmal.
Ich nicke. Im Moment will ich einfach nur alleine sein.
"Ist gut. Dann schlaf wieder.
Du hast noch ein paar Stunden, bis du aufstehen musst."
Ich schaue auf den Wecker.
Halb zwei Uhr nachts.
Harry geht zur Tür, löscht das Licht und schleicht leise aus dem Zimmer.
Als die Tür zugezogen wird, warte ich noch einen Moment, dann drehe ich mich auf den Bauch und weine stumm in mein Kissen.
Denn das waren keineswegs meine Adoptiveltern, die ich mit 'Lasst uns nicht alleine!' gemeint habe.
Es waren meine leiblichen Eltern,
Taio und Jua Makoye.

Diesen Traum hatte ich nicht das erste Mal.
Von dem Tag an, an dem klar wurde, dass es meine Eltern nicht schaffen würden, und an dem für Mia und mich die Welt zusammenbrach, träume ich öfters.
Nur habe ich wohl bisher noch nie währenddessen geschrien.
Denn sonst wäre bestimmt früher jemand gekommen.

An Schlafen ist nun nicht mehr zu denken.
Immer, wenn ich die Augen schließe und gerade dabei bin, abzudriften, erscheint ein Bild von Mum und Dad in dem Krankenhausbett von meinem inneren Auge und ich schrecke wieder auf.
Nach einer halben Stunde beschließe ich, es aufzugeben, schalte die Nachttischlampe ein und versuche zu lesen.
Doch auch das will nicht funktionieren.
Statt dem Wort "Ranke" lese ich "Kranke", statt "Kräne" "Träne",
statt "Lot" "Tot".
Gequält seufze ich auf.
Ich lege das Buch beiseite, lege mich auf den Rücken und starre an die Decke.
Ich versuche, an etwas Schönes zu denken.

Urplötzlich fällt mir der Tag nach dem letzten Besuch bei meinen Eltern ein.
Man konnte nicht voraussehen, wann genau sie sterben würden, doch wir durften sie nicht mehr besuchen, da wir das Dorf bereits bald verlassen würden.
Mit Händen und Füßen hatten Mia und ich uns dagegen gewehrt.
Und auch das Dorf wollte uns eigentlich nicht gehen lassen.
Doch wir mussten einsehen, dass es zwar nicht schöner, aber besser für uns war, wenn wir das Dorf und unsere Heimat verließen, die uns so sehr an unsere Eltern erinnerte.
Außerdem konnte uns niemand aufnehmen.
Denn auch wenn es in unserem Dorf kein riesiges Problem mit Armut gab, konnte es sich trotzdem niemand leisten, zwei zusätzliche Mäuler zu stopfen.
Zuerst kamen wir in ein Kinderheim, von dem aus wir dann adoptiert wurden.
Zum Glück, denn dort war es schrecklich.

Als Mia und ich vom Krankenhaus zurückkamen, gingen wir wie durch Nebel.
Das Dorf war überdeckt von der Hiobsbotschaft, und es kam einem so vor, als wäre sogar die Natur aus Respekt und Trauer verstummt.
Alle weinten eine Weile lang, doch als die Tränen aufgebraucht waren, blieb ein stumpfes Gefühl zurück, das mich glauben ließ, ich könne nie wieder glücklich sein.
Die Lust auf alles war mir vergangen, ich wollte weder essen noch schlafen noch Fußball spielen.
Wie im Traum wandelte ich nachts durch das Dorf, um es die letzte Zeit, die ich hier war, in mich aufzunehmen, in meinem Herz zu bewahren, es aber dort zu verschließen.

Eines Nachts bei Vollmond lief ich also wie ein Schlafwandler durch die staubigen Gassen, an den Hütten vorbei, die ich seit Ewigkeiten kannte.
Alle waren bereits zu Bett gegangen, es war niemand mehr draußen.
Bis auf Erwaen.
Erwaen wohnte in der letzten Hütte, hinter der sich die Wüste bis zum Horizont erstreckte.
Als ich dort vorbeilief, hörte ich auf einmal seine Stimme, die mich zu ihm rief.
"Septemba.
Sogea karibu, mwannaang.
Komm näher, mein Kind."
Woher wusste er, dass ich es war?

Viele im Dorf hatten Angst vor Erwaen.
Verständlicherweise, er war schon ein bisschen unheimlich mit seinem zahnlosen Lächeln, den milchigen blinden Augen und der rauen tiefen Stimme, die stets salbungsvoll und ein bisschen schauerlich klang.
Doch ich fürchtete ihn nicht.
Nun ja, als kleines Mädchen schon, aber ich lernte seine ruhige Art und den Rat, den er als erfahrener Dorfältester geben konnte, zu schätzen.

"Masalkheri,
guten Abend, Erwaen.
Hast du mich kommen hören?"
"Allerdings", antwortete der Alte,
"deine schlurfenden Schritte höre ich fast jede Nacht.
Gehst du denn nicht schlafen?"
"Nein. Ich kann nicht.
Und ich will nicht.
Ich möchte mir diesen Ort ganz genau einprägen, bevor ich ihn verlasse."
Erwaen nickte gedankenverloren.
"Du möchtest die letzten Erinnerungen an deine Eltern bewahren."
Meine Unterlippe fing an zu zittern.
"Ja", flüsterte ich mit wackeliger Stimme.
Sofort liefen mir wieder Tränen über die Wangen.
"Es ist so ... schrecklich", fuhr ich mit bebender Stimme fort.
"Alle sagen, sie bedauern mich, und dass es ihnen so leid tut, aber das ... das hilft mir nicht!
Das hilft mir kein bisschen.
Ich will, dass sie zurückkommen, Erwaen, dass sie gesund werden!
Ich will nicht, dass sie sterben!"
Erwaen wiegte den Kopf hin und her und schaute in meine Richtung, wie, als würde er mich ansehen.
Ich wusste zwar, dass er mich nicht sehen konnte, wie ich da barfuß, dreckig und schluchzend vor ihm stand, aber ich konnte mir vorstellen, dass er dennoch genau wusste, was gerade in mir vorging.
Dass er in mein Herz sehen konnte.

"Deine Eltern werden nicht weg sein.
Sie werde zwar nicht mehr physisch anwesend sein, aber ein Teil ihrer Seele wird immer da bleiben.
Hier.
Und bei euch.
Ich weiß, das bringt sie nicht zurück.
Und ich weiß, dass ihr euch genau das wünscht.
Aber es geht eben nicht.
So ist das Leben."
"Dann ist das Leben ungerecht!", rief ich laut.
"Warum muss es ausgerechnet mir die Eltern wegnehmen?
Warum jetzt?
Warum?"
Ich wusste, dass ich mich wie ein kleines Kind benahm, aber ich war so traurig und wütend, dass mir das egal war.
Erwaen erwiderte ruhig:
"Gut so.
Schrei deine Wut hinaus.
Das hilft.
Wenn du dich wieder beruhigt hast, setzt dich zu mir und ich will dir etwas erklären."

Ich wartete noch einen Augenblick, bis ich mich halbwegs beruhigt hatte, dann ließ ich mich schwer atmend auf den Stuhl neben ihm fallen.
Was wollte er mir wohl erklären?

"Septemba.
Du bist ein Kind der Sonne.
Nicht nur in Hinsicht auf den Namen deiner Mutter."

Stimmt, "Jua" bedeutet ja "die Sonne".
Ich lächelte, genauso wie Erwaen, doch dann wurde er wieder ernst.
"Doch auch Kindern der Sonne wird Leid geschehen.
So ist die Welt.
Überall geschieht Leid.
Man kann es nicht verhindern.
Das Leben ist wie die Sonne.
Es geht auf und ab, auf und ab.

Freude und Leid.
Das hängt zusammen und ist stets in irgendeiner Weise miteinander verbunden.
Doch auch wenn dir viel Leid geschehen wird, geht es wieder aufwärts, Septemba.
Es geht irgendwann wieder aufwärts.
Wie die Sonne.
Und wenn dich das Leid zu erdrücken droht, denk daran:
Du bist ein Sonnenkind.
Du kannst die Erde, oder zumindest einen kleinen Teil von ihr, zum Strahlen bringen, indem du selbst strahlst.

Gib die Hoffnung nicht auf,
September Milele Makoye.
Gib sie nicht auf, sonst bist du verloren.
Es wird wieder aufwärts gehen, und dann wirst du den schönsten Sonnenaufgang seit langem erleben.

Mungu akuweke.
Gott bewahre dich, September."

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