8. Kapitel: Die Rettung
"September?", fragt die mir gänzlich unbekannte Stimme erneut, als ich nicht antworte.
"Ich weiß, dass du da drin bist!"
Ich wage kaum zu atmen.
Wie kann das sein?
Wer ist das?
Und woher weiß er meinen Namen?
Eine hoffnungsvollen Moment lang hatte ich gedacht, es wäre Leo, der kommt, um mir zu helfen.
Doch natürlich ist er es nicht.
Das wäre auch zu schön gewesen.
Was soll ich denn jetzt machen?
"Weißt du, ich kenne dieses Gefühl auch", fährt der Unbekannte fort.
"Und Mattew ist echt ein Arschloch.
Aber es geht weiter.
Du musst weitermachen.
Du kannst dich nicht ab jetzt jede Pause auf dem Klo verstecken."
Warum nicht?, möchte ich am liebsten schreien.
Einen Moment lang hatte ich das tatsächlich erwogen, denn aufs Mädchenklo kommen keine Jungs, die mich niedermachen oder in den Schwitzkasten nehmen.
Doch natürlich geht das nicht.
Und selbst wenn mich keiner erwischen würde, würden meine Piesacker mich auch wann anders finden als in der Pause.
"Ich war auch mal neu. Und mir ging es genauso wie dir: Ich wurde geärgert und verspottet, wegen ... nun ja ... wegen einer Sache, die mich von ihnen unterscheidet.
Bei dir ist das eben die Hautfarbe.
Das kennen sie nicht, deshalb sind sie verunsichert.
Und manche Idioten reagieren dann halt so wie Mattew oder Mike."
Also hat er das gestern auch mitbekommen.
Ich vergrabe das Gesicht in meinen Händen.
Eine kurze Pause folgt.
Dann fragt der Junge vorsichtig:
"Kommst du? Wir sind spät dran für Physik.
Ich hab auch extra drauf geachtet, dass niemand mehr auf dem Gang ist.
Wenn du rauskommst, kann ich auch nochmal schauen, ob die Luft rein ist.
Also, was ist, kommst du?"
"Und was ist, wenn du nur so tust, als wolltest du mir helfen?
Wenn du in Wahrheit ein genauso großer Idiot bist wie die anderen?
Warum sollte ich dir vertrauen?
Ich weiß noch nicht mal, wer du bist."
Dieses Gespräch ist äußerst seltsam.
Ich meine, wir unterhalten uns durch eine Toilettentür hindurch...
Aber ich komme erst raus, wenn ich ganz sicher bin, dass er mich nicht in einen Hinterhalt lockt.
"Also, wer bist du?" frage ich fordernd.
"Ich bin Connor Weltinghouse.
Falls du dich nicht erinnerst:
Ich bin in deiner Klasse.
Groß, auffällige feuerrote Haare, viel zu viele Sommersprossen, Himmelfahrtsnase...
Macht's langsam klick bei dir?"
Connor Weltinghouse...
"Ach ja!", rutscht es mir raus.
"Du warst der, der letzte Woche zu Mrs Ludmill gesagt hat, sie solle doch mal scharf nachdenken und sich dabei am Kopf kratzen, vielleicht würde sie ihre Brille dann finden."
Ich gluckse.
Wie Mrs Ludmill geguckt hat...
"Ja, genau der bin ich."
Connor lacht leise.
"Und wirklich, ich schwöre bei ... bei der Leo - Brille meiner verrückten Kunstlehrerin, dass ich auf keinen Fall vorhabe, dich in eine Falle zu locken.
Denn, wie gesagt, ich kenne dieses Gefühl.
Und es ist ein Scheiß-Gefühl."
"Ja", sage ich andächtig, eher zu mir selbst,
froh, jemanden gefunden zu haben, der mich versteht.
"Na dann, komm raus, wenn du dich traust!", ruft Connor mit tiefer verstellter Stimme und klingt dabei wie ein Kämpfer, der seinen Gegner herausfordert.
Ich kichere.
Und öffne den Riegel.
Zwei Sekunden später bemerke ich die Veränderung:
Ich habe gekichert.
Ich habe tatsächlich gekichert.
Doch als ich die Person ansehe, die mich das erste Mal seit Langem dazu gebracht hat zu kichern, ist mir das gerade recht.
Denn Connor ist einfach Einer, über den man kichern muss, das sehe ich auf den ersten Blick.
Er sieht so nett und lustig aus mit seinem hellroten Haar und dem spitzbübischen Blick, dass man ihn sofort gernhat, ohne ihn näher zu kennen.
"Du bist also September", sagt er nun und legt den Kopf ein bisschen schief, als er mich neugierig ansieht.
"Jetzt aber los, wir wollen doch nicht noch größeren Ärger bekommen."
"Aber du, du guckst doch nochmal, od...?", frage ich unsicher, da hat Connor schon die Tür geöffnet und späht vorsichtig nach rechts und links.
Dann bedeutet er mir mit einem Wink, ihm zu folgen.
"Komm schnell, die Luft ist rein!"
Das lasse ich mir nicht zweimal sagen, ich bin so froh, endlich diesem stinkenden Ort zu entkommen.
Ich husche unter seinem Arm, mit dem er mir die Tür aufhält, auf den Gang, Connor folgt mir.
Dann laufen wir, wieder normal, nebeneinander her.
Ich schaue ihn von der Seite an.
"Danke", sage ich nur.
Und Connor versteht, was ich mit diesem einen Wort alles sagen will.
"Gern geschehen.
Weißt du, ich rette jeden Tag Mädchen von der Jungstoilette, langsam bekomme ich Routine."
Er grinst.
"Aber was wollen wir Mrs... Ich weiß nicht mehr, wie die Physiklehrerin heißt...
Was wollen wir ihr erzählen?
Die Wahrheit, nun, die würde ich lieber unter uns lassen, ehrlich gesagt."
"Klar", meint Connor verständnisvoll.
"Ich schwöre, dass ich niemandem davon erzähle.
Wenn doch, dann ... dann darfst du auch was über mich erzählen."
An seinem plötzlich ernsthaft gewordenen Tonfall merke ich, dass er das er das auch so meint.
Neugierig mustere ich ihn.
"Und was wäre das?
So wirklich viel weiß ich ja nun nicht über dich."
"Tja, das lässt sich ändern.
Aber nicht jetzt.
Wir sind da."
Ohne, dass ich es bemerkt habe, kommen wir schon am Physiksaal an.
Mir fällt immer noch keine gute Lüge ein, aber bevor ich ihn aufhalten kann, klopft Connor auch schon an.
"Mist! Connor, ich ..."
Die Tür öffnet sich.
"Aha, Mr. Weltinghouse und Fräulein Makoye haben sich auch mal dazu bequemt, im Unterricht zu erscheinen", sagt Mrs Taylor - ihr Name ist mir wieder eingefallen - säuerlich und ihr ohnehin schon strenges Gesicht ist noch eine Spur ärgerlicher.
"Haben Sie irgendeine Entschuldigung vorzubringen außer 'Die Pause war zu kurz, um auf die Toilette gehen'?"
Wenn sie wüsste, dass sie damit gar nicht so falsch liegt...
Ich setze zu einer Antwort an:
"Tut mir leid, aber ich ... ich habe den Raum ... nicht gefunden."
Doch selbst ich merke, dass das wenig glaubhaft geklungen hat.
"So so, Sie haben den Raum nicht gefunden", sagt Mrs Taylor spitz.
"Wie kommt das, wo Sie doch schon seit zwei Monaten hier sind?
Sollten Sie da nicht langsam die Räume kennen?"
"Ähh...", stammele ich.
Doch da springt Connor für mich ein:
"Aber Madam", sagt er besänftigend.
"Sie wissen doch, am Anfang findet man sich nicht so gut zurecht.
Und da Miss Makoye mitten im Schuljahr kam, sind die Umstände bestimmt auch nicht die besten."
Na, das kannst du laut sagen!
"Also ist es doch verständlich, wenn man mal den Raum nicht findet.
Zumal ich Sie darauf aufmerksam machen möchte, dass wir heute nicht im gewohnten Physiksaal sind."
Er schaut sie bedeutungsvoll an, woraufhin Mrs Taylor unruhig einen Schritt zur Seite macht.
Danke, Connor! Das ist mir ja gar nicht aufgefallen. Hoffentlich schluckt sie es...
"Das kann passieren", fährt Connor eindringlich fort.
"Ich habe sie völlig verzweifelt auf dem Gang gefunden.
Also seien Sie bitte nachsichtig.
Es kommt bestimmt nicht wieder vor."
Er wirft mir einen Blick zu, der zu fragen scheint:
War das gut so?
Aber kein bisschen überheblich oder so, als habe er nun etwas gut bei mir.
Auch wenn er das definitiv hat.
Ich erwidere seinen Blick und lege allen Dank und alle Erleichterung hinein, die ich aufbringen kann.
Mrs Taylor schnaubt.
"Na dann", sagt sie kühl.
"Setzen Sie sich.
Wobei, Miss Makoye, Sie können gleich hier vorne bleiben und uns Ihre Hausaufgabe an der Tafel präsentieren."
Mist!
Nachdem ich die Hausarbeit mehr schlecht als recht an die Tafel geschrieben habe, setze ich mich unter dem überwachenden Blick von Mrs Taylor auf den letzten freien Platz neben ein Mädchen namens Grace.
Ich konnte mir ihren Namen nur merken, weil sie eine auffällige gelockte Haarpracht hat.
Manchmal wünschte ich, ich hätte auch so schöne Locken.
Doch nach einer Weile frage ich mich, ob das wirklich echte Naturlocken sind oder ob sie dafür jeden Morgen eine Stunde im Bad zubringt.
Wir haben glücklicherweise nur eine Stunde Physik.
Allerdings schweifen meine Gedanken immer wieder ab von der physikalischen Leistung, zur vergangenen Pause.
Erst Mattew, dann Connor;
wieder einmal wird mir bewusst, wie unterschiedlich Menschen sein können.
Mattew, der ohne Grund auf mich losgeht und mich zum Fallen bringt,
Connor, der mir wieder aufhilft.
"Wie gut, dass es Menschen wie Connor gibt", denke ich gerade, da steht er neben meinem Tisch.
Der Unterricht ist um und ich packe gerade meinen Rucksack, als er plötzlich dasteht.
Als ich aufschaue, bekomme ich einen ordentlichen Schreck.
"Boah Connor, hast du mich erschreckt!", sage ich vorwurfsvoll.
"Tut mir leid", sagt er schuldbewusst und lächelt mich schief an.
Das sieht so niedlich aus, dass ich ihm nicht böse sein kann.
Gemeinsam gehen wir auf den Schulhof.
Zuerst sagt niemand von uns ein Wort.
Kein Wunder, wir sind es beide nicht gewöhnt, die Pause in Gesellschaft zu verbringen.
Dann räuspert sich Connor.
"War ... ähm ... war das vorhin ok so, wie ich das gesagt habe?", fragt er zögerlich.
"Weil ... vielleicht ... vielleicht war das mit dem 'völlig verzweifelt' ein wenig zu viel des Guten ..."
Er sieht ehrlich besorgt aus.
Als ich nichts erwidere, senkt er den Blick.
"Tut mir leid", murmelt er.
Ich muss grinsen.
Als er den Kopf wieder hebt, schaut er mich erstaunt an.
"Warum grinst du?", will er wissen.
"Das war ... super, Connor.
Ehrlich.
Ich weiß nicht, wie ich da wieder raus gekommen wäre.
Deine kleine 'Notlüge' war genial!
Ich danke dir, Connor!
Und nicht nur für das.
Ich erkläre es dir ein andermal, wenn ich so weit bin, aber du bist der Erste, der mich seit längerer Zeit mal wieder zum Lachen gebracht hat.
Und das ist echt nicht leicht."
Während ich spreche, heben sich Connors Mundwinkel wieder.
"Na, da bin ich aber erleichtert", sagt er und man merkt sichtlich, wie er sich wieder entspannt.
"Und bitte schön." Er grinst.
"Du musst wissen, im Erfinden von 'Notlügen' bin ich erste Sahne."
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