4. Kapitel: Die Neue
Während der kompletten Mathestunde ignoriert Maya mich geflissentlich.
Und auch ich bin nicht der Typ, der sofort ein Gespräch mit einer Fremden anfangen würde.
Also schweigen wir die gesamten 60 Minuten lang.
Erstaunlicherweise werden wir beide kein einziges Mal aufgerufen.
Was mich sehr verwundert, denn Mr Hamilton hat es sonst vor allem auf mich abgesehen.
Ob es daran liegt, dass ich neu bin,
in der letzten Reihe sitze oder, dass er mich immer wieder blamieren will, weil ich eine Antwort nicht weiß,
ich habe keine Ahnung.
Und so kritzelt Maya die ganze Zeit in ihr Heft.
Ich schiele zu ihr rüber, Unterrichtsmitschriebe sind das auf jeden Fall nicht.
Ich schaue oft zum Fenster raus.
Unser Schulhof ist zwar nicht besonders spannend, aber alles ist besser, als immer nur Mr Hamilton anzuschauen, der vorne an der Tafel irgendwas mit monotoner Stimme erklärt.
"Rrrrrrring!"
Das schrille Klingeln der Pausenglocke lässt mich erschrocken zusammen-fahren.
Endlich!
"Also, Hausaufgabe ist auf der Seite 53 die Nummer 2. Schönen Tag euch."
Maya springt auf, sobald unser Lehrer geendet hat und stürmt, ohne sich irgendetwas zu notieren, aus dem Klassenraum.
"Na ja, mein Problem ist es nicht, wenn sie die Hausaufgaben nicht hat", denke ich, mache mir eine kleine Notiz und gehe ebenfalls aus dem Zimmer, allerdings wesentlich gemächlicher als Maya.
Als ich meine Tasche bei den Kunsträumen, wo wir gleich Unterricht haben, abgestellt habe, trotte ich auf den Pausenhof.
Die Luft ist schwül und es kündigt sich Regen an. Doch im Moment lugt noch die Frühlingssonne zwischen den grauen Wolken hervor und kitzelt mich an der Nase.
Ich bleibe stehen und recke mein Gesicht in die Sonnenstrahlen, deren Wärme ich begierig aufsauge.
Hier in Amerika ist es um diese Zeit noch sehr kühl und aus Kenia bin ich Hitze gewöhnt, weshalb ich fröstele, als sich eine Wolke vor die Wärmequelle schiebt.
Als Mia und ich im Februar hier her kamen, war es erstmal eine große Umstellung für uns, was das Klima und die Temperaturen betraf.
Während es in Kenia eigentlich das ganze Jahr über sehr warm ist, war es bei unserer Ankunft kühl und ungewohnt feucht gewesen.
Und selbst jetzt im April überwiegen noch die Regentage.
Ein derber Stoß reißt mich aus den Gedanken.
Ich taumele und kann einen Fall im letzten Moment noch abfangen.
"Hey, Wüstenmädchen!", tönt eine männliche Stimme hinter meinem Rücken.
Wie gestern im Gang droht die Panik mich zu überwältigen.
Geht das schon wieder los?
Die Stimme klang nicht besonders liebenswürdig.
Das Beste wäre wohl zu verschwinden, doch bevor ich losrennen kann, krallt sich eine Pranke in meine Schulter und hält mich mit eisernem Griff fest.
"Wen haben wir denn da?", fragt die Stimme spöttisch.
"Kennen wir uns?"
Der Junge, dessen riesige Hand immer noch fest auf meiner Schulter liegt, dreht mich gewaltsam zu sich herum.
Der Schrank, der vor mir steht, ist ein Musterbeispiel für einen Muskelprotz und er sieht aus, wie man sich einen Schlägertypen eben so vorstellt:
Groß, breit, und ein hämisches Grinsen im Gesicht.
Hinter ihm bauen sich noch mehr große Jungen auf.
Ein Zittern überläuft meinen Körper und der Junge lacht.
"Ist dir etwa kalt?"
Er stinkt nach Schweiß und etwas, das ich nicht identifizieren kann.
Ist das vergammelter Käse?
"Soll ich dich wärmen?", fragt er zuckersüß. "Pass auf!"
Und im nächsten Moment hat er mich in den Schwitzkasten genommen.
Ich schreie, trete um mich und versuche verzweifelt, seinem Griff zu entkommen, doch es nutzt nichts.
"Und, gefällt dir das?", fragt mein Widersacher hämisch und seine umstehenden Kumpels lachen.
"Nun, wenn du das nicht nochmal erleben willst, solltest du dich benehmen.
Leg dich nicht mit uns an.
Wir mögen nämlich keine Neger!"
Das Wort trifft mich härter als ein Faustschlag ins Gesicht.
Ich hatte so gehofft, es würde ausbleiben, doch natürlich musste es irgendwann kommen.
Ich krümme mich und versuche verzweifelt, die heißen Tränen, die in mir aufsteigen, zu unterdrücken.
Auf keinen Fall will ich mir vor den Typen die Blöße geben zu weinen.
Dann hätten sie nur erreicht, was sie wollen.
Auf einmal lockert sich der Würgegriff um meinen Hals und der Junge, der mich festhält, sagt mit säuselnder Stimme:
"Hi Lydia!"
Lydia? Den Namen habe ich doch schonmal gehört!
"Hi Mike", gibt sie herablassend zurück.
"Wer ist das denn?"
Ich kann sie nicht sehen, denn mein Gesicht zeigt zum Boden, doch ich bin mir ziemlich sicher, dass sie mich meint.
"Ach die", sagt Mike, als hätte er mich gerade erst bemerkt, und lässt mich los.
Ich stolpere ein paar Schritte zurück.
"Die hat grad 'n bisschen Probleme gemacht. Wir haben ihr bloß gezeigt, wer hier das Sagen hat."
Er grinst sie an.
Wie bitte? Ich habe Probleme gemacht?
Wer hat denn damit angefangen, mich zu verprügeln???
"So so."
Lydia, eine hübsche hochgewachsene Blondine in High Heels und Designerklamotten, mustert mich abfällig.
Um sie scharen sich ihre Anhängerinnen, drei Mädchen, die offensichtlich sehr darum bemüht sind, genauso auszusehen und wahrscheinlich auch genauso zu sein wie sie.
Alle starren sie mich angewidert an.
"Na dann, du Miststück. Alles geklärt?
Eigentlich", sie geht einen Schritt auf mich zu, "weißt du ja jetzt Bescheid.
Nur, dass Mike vergessen hat dir zu erklären, dass ich eigentlich das Sagen habe.
Also komm mir ja nicht in die Quere.
Außer, du willst Stress."
Damit dreht sie sich um und stöckelt mit wackelndem Hintern in Begleitung ihrer Clique davon.
Mike starrt ihr verträumt hinterher, und scheint mich ganz vergessen zu haben.
Ich nutze die Gelegenheit und mache mich schnell aus dem Staub.
Als ich mich noch einmal umdrehe und zurückblicke, um mich zu vergewissern, dass keiner von den Typen mir folgt, sehe ich eine bekannte Person in der Nähe der Jungen stehen.
Er schaut zu mir herüber und für einen Moment kreuzen sich unsere Blicke.
Leo.
Ich weiß sofort, dass er alles beobachtet hat.
Er stand dabei, in einer günstigen Position, und hat meine öffentliche Demütigung mitangesehen.
Schnell wende ich den Blick ab, denn ein plötzlicher Schmerz zuckt durch meine Brust.
Warum fühle ich mich so schlecht?
Und warum ärgere ich mich darüber, dass Leo mir nicht zu Hilfe gekommen ist?
Ich kenne ihn kaum und bis auf die Begegnung gestern habe ich noch nie ein Wort mit ihm gewechselt.
Und anscheinend ist er ein ganz hohes Tier hier an der Kennedy High.
Warum wäre er sonst mit Lydia zusammen durch die Schule gelaufen?
Ich weiß nämlich wieder, woher ich ihren Namen kenne:
Gestern im Flur hat sie unsere Unterhaltung unterbrochen, als sie nach Leo rief.
Aber warum fühlt es sich dann so an?
Warum fühle ich mich von Leo verraten?
Ich seufze tief und weil ich merke, dass ich die Tränen immer mühsamer zurückhalten muss, setze ich mich in eine abgelegene Ecke des Schulhofs, schlinge die Arme um die Knie und fange lautlos an zu weinen.
Warum?
Warum mussten sie das tun?
Jetzt weiß die ganze Schule, wie sie mich laut Lydia und Mike zu behandeln hat. Und es wird nicht besser werden, wie ich seit meinem allerersten Tag hier inständig hoffe.
Es wird noch schlimmer werden.
In dieser abgelegenen Ecke bin ich ungestört. Beinahe jede Pause verbringe ich hier, und es hat mich noch nie jemand gefunden.
Trotzig wische ich mir die Tränen vom Gesicht.
"Wegen so einer Kleinigkeit fängt man doch nicht gleich an zu heulen, September Makoye!", sage ich laut.
"Du bist doch keine Heulsuse."
Doch ich weiß, dass das nicht stimmt.
Es war keine Kleinigkeit.
Und seit ich hier in Amerika bin, weine ich öfter, als ich es je zuvor getan habe.
"Führst du Selbstgespräche, oder was?"
Ich zucke zusammen.
Wer ist das? Und wie hat er mich gefunden?
Das ist doch nicht einer der Typen von vorhin? Noch so etwas würde ich nicht aushalten.
Doch es ist kein Junge, der da um die Ecke biegt und vor mir stehen bleibt.
Es ist die Neue, Maya.
"Also, was ist?", will sie wissen und schaut mich mit einer Mischung aus Gleichgültigkeit und Neugier an.
"Heulst du?", fragt sie, als ich nicht antworte.
Ein Blick in mein verquollenes Gesicht reicht ihr, um zu sehen, dass ich tatsächlich geweint habe.
"Nein", sage ich abweisend.
Ich will einfach nur alleine sein.
Maya sieht mich spöttisch an.
"Lüg mir nichts vor. Ich sehe es ganz genau. Möchtest du mir sagen, was passiert ist?"
Wow, dass ist aber eine interessante Wandlung:
Erst ignoriert sie mich komplett, und jetzt mach sie einen auf vertrauensvoll.
"Nein", antworte ich knapp.
Eine Weile sagt keine von uns etwas.
Dann sage ich leise:
"Ich hatte ein bisschen Stress mit so Jungs."
"Ach, das kenne ich", sagt Maya leichthin, als wäre es die normalste Sache der Welt.
"Sie haben heute morgen auch schon versucht, mich fertig zu machen.
Solche Leute musst du einfach ignorieren."
"Ach ja, und wenn sie mich 'Neger' nennen, und in den Schwitzkasten nehmen?", brause ich auf.
"Wie soll ich sie dann ignorieren?"
"Hm, das ist natürlich etwas anderes", entgegnet sie nachdenklich.
"Ich... Ich lass mir was einfallen, wie wir es ihnen zurückgeben können."
Ihre Augen blitzen unternehmungslustig und sie schlägt die Faust in die Handfläche.
Ich blinzele verwirrt.
Wie wir es ihnen heimzahlen können?
Will sie sich etwa für mich eine Racheaktion ausdenken?
Aber warum?
Auch sie kennt mich kein bisschen.
"Und wie willst du das anstellen?", frage ich vorsichtig.
"Ach, ich lasse mir schon was einfallen, keine Sorge," meint sie fröhlich.
"In solchen Sachen bin ich sehr kreativ."
Sie grinst mich an.
"Und jetzt lass uns mal reingehen, es hat gerade geklingelt."
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