11. Kapitel: Ich bin Schuld
Direkt am nächsten Morgen knöpfe ich ihn mir vor.
"Also, was ist passiert?", führe ich nahtlos das Gespräch von gestern weiter.
Nach dem Englischunterricht ist Connor nämlich schnell verschwunden, da er noch Gitarrenstunde hatte, wie er behauptete.
Ich hatte jedoch den Eindruck, dass er mir noch nicht sagen wollte, warum
"er das kannte", das Gefühl, eine wichtigen Menschen zu verlieren.
Wenn er das überhaupt gemeint hat.
Sein Gesichtsausdruck bestätigt meinen Verdacht, denn er sieht alles andere als begeistert aus.
"Wie wär's erstmal mit einem 'Guten Morgen Connor, hast du gut geschlafen'?", fragt er etwas hilflos.
Ich verdrehe die Augen.
"Guten Morgen, Connor, ich gehe einfach mal davon aus, dass du gut geschlafen hast, also", ich stemme die Hände in die Hüften.
"Willst du mir erzählen, was passiert ist, oder nicht?", frage ich ein wenig freundlicher, als ich bemerke, dass ich nicht besonders nett gewesen bin.
Ich hätte ihn nicht anmeckern sollen.
Ich weiß doch selbst, wie das ist.
Da würde ich auch nicht so ruppig angesprochen werden wollen.
Ich berühre ihn vorsichtig am Arm.
"Tut mir leid.
Wenn du nicht darüber reden willst, dann ... dann lass es eben.
Nur hast du gestern davon angefangen, und, ich bin eben neugierig."
"Na gut", erwidert er mit einem kleinen Lächeln.
"Du würdest mich ja doch nicht in Ruhe lassen."
Ich lege den Kopf schief.
"Ja, kann sein", sage ich so unschuldig ich kann.
Er lacht, doch dann verdüstert sich sein Gesicht.
Ist es so schlimm?
"Na ja, als ich gestern gesagt habe, 'schönes Viertel', da ... war ich wohl etwas neidisch.
Denn meine Familie könnte nie dort wohnen.
Wir ... wir haben nicht viel Geld", sagt er leise und schaut zu Boden.
"Aber Connor, das ist doch nicht schlimm", sage ich erstaunt.
"Wenn du wüsstest, unter welchen Bedingungen wir in Afrika gelebt haben ... da käme dir euer Haus bestimmt wie ein Palast vor."
"Wir leben in einer Wohnung", sagt er tonlos, den Blick stets zu Boden gerichtet.
"In einer winzigen Wohnung.
Und Gitarrenunterricht habe ich auch nicht.
Fürs Judo reicht das Geld nur grade so.
Dabei wäre das mein größter Wunsch, Gitarre spielen, meine ich.
Das ist so ein wunderschönes Instrument.
Wobei, eigentlich wäre es mein größter Wunsch, dass Amy wieder ganz gesund wird."
Er blickt mich an und die unendliche Traurigkeit in seinen Augen trifft mich wie ein Schlag.
"Wer ist denn Amy?", frage ich vorsichtig.
"Meine kleine Schwester", antwortet er seufzend.
"Sie ist sieben. Und ..."
Er bricht ab.
"Und?", ermuntere ich ihn.
"Und sie ... sie ist querschnittsgelähmt."
"Querschnitts ... gelähmt?", wiederhole ich ratlos.
"Was ist das?"
"Das ist, wenn in deiner Wirbelsäule irgendwas ... ach, keine Ahnung.
Jedenfalls kann sie nicht mehr laufen."
Entsetzt sehe ich ihn an.
"Nie mehr?"
"Nie mehr."
"Aber ... das ... das ist ja schrecklich!
Oh, das tut mir leid.
Das tut mir so leid, Connor!"
Ich drücke seinen Arm.
"Wie ist es denn ...?"
Bevor ich die Frage zu Ende sprechen kann, beginnt er schon hastig zu erzählen.
"Es passierte vor zwei Jahren, ich war dreizehn und sie fünf.
Wir wollten einen Ausflug machen.
Amy und ich saßen hinten im Auto, Mum und Dad vorne.
Plötzlich sagte Amy:
'Conny, ich bin nicht angeschnallt!'
Dad drehte sich um, wahrscheinlich um mit mir zu schimpfen, kam von der Fahrbahn ab und fuhr in einen Graben.
Meinen Eltern und mir ist nichts passiert, weil wir eben anschnallen waren.
Aber Amy ..."
Seine Stimme bricht.
"... hat sich verletzt und ist jetzt quer... kann nicht mehr laufen", ergänze ich leise.
"Ja."
Aus tieftraurigen grauen Augen schaut er mich an, und ich bin mir sicher, darin Tränen glitzern zu sehen.
"Sie lag wochenlang im Krankenhaus und es war nicht klar, ob sie überleben wird.
Das meinte ich gestern.
Ich hatte mich schon damit abgefunden, sie ... zu verlieren.
Sie galt als tot.
Aber sie hat überlebt und hat jetzt eine Behinderung, die es ihr nicht ermöglicht, ein normales Leben zu führen.
Und ich bin Schuld, September."
Seine raue Stimme klingt hart.
"Ich habe sie nicht angeschnallt.
Ich habe es vergessen.
Und ich habe ihr damit das Leben versaut.
Wegen mir kann sie nicht mehr laufen.
Nie wieder.
Ich habe diese Phase schon oft durchgemacht, dass ich nur an sie denke und schon fast heulen muss.
Ich weiß, ich bin ein Weichei."
"Nein."
Er sieht mich an.
"Doch", sagt er schroff, und die Härte und der Selbsthass in seiner Stimme werfen mich fast um.
"Nein!", widerspreche ich ebenso energisch.
"Du bist der tollste Mensch, den ich kenne.
Und das meine ich ernst, Connor.
Du nimmst dich, ohne mich zu kennen, meiner an,
hilfst mir, als ich in Schwierigkeiten bin,
bringst mich zum Lachen, wenn ich nicht mehr weiterweiß;
lebst mit dieser Bürde.
Es gibt viele Menschen, die an soetwas zerbrechen und psychisch krank werden.
Aber glaub mir, deine Schwester liebt dich immer noch.
Ich kenne sie nicht, aber so, wie ich das verstanden habe, schaut sie zu dir auf, bewundert dich.
Und liebt dich.
Der Unfall war ... na ja, eben ein Unfall.
Und die Folgen sind fatal.
Aber wie hast du neulich auf dem Jungsklo zu mir gesagt?
'Es geht weiter. Du musst weitermachen.'
Du kannst es nicht rückgängig machen, und ich weiß, du würdest es liebend gerne tun.
Aber das geht nicht.
Vergiss jedoch nicht, wie es ist, zu leben.
Lebe weiter, Connor, und versuch, das Beste draus zu machen.
Und vor allem: Hör auf, dich selbst so hart zu kritisieren.
Das ist unnötig, und ich kann es überhaupt nicht ertragen.
Ja, du hättest sie eigentlich anschnallen müssen, aber es sind immer noch deine Eltern, die die Hauptverantwortung haben.
Sie hätten es überprüfen müssen.
Und dein Vater hätte sich nicht umdrehen sollen.
Selbst deine Schwester hätte sich früher melden können und nicht dann, wenn ihr schon fahrt.
Hör also bitte auf, dich zu hassen.
Ich bin für dich da.
Du bist nicht alleine."
Ein paar Sekunden sagt keiner ein Wort, wir lassen meine kurze Rede sacken.
Ich fühle mich ein bisschen an mein letztes Gespräch mit Erwaen erinnert.
Nur hatte ich diesmal die andere Rolle.
Dann sagt Connor leise:
"Weißt du, dass das, was du da gerade gesagt hast, verdammt weise geklungen hat, September?"
Erstaunt sehe ich ihn an.
Ich fand eigentlich nicht, das es so besonders war.
Aber für ihn war es das anscheinend.
"Vielen Dank.
Ich weiß, wir kennen uns noch nicht lange, aber ich bin verdammt froh, dich als Freundin zu haben.
Und das meine ich genau so.
Darf ... darf ich?"
Unsicher öffnet er die Arme.
Und ich nicke lächelnd.
Das tat gut.
Uns beiden.
Wir sind beide irgendwie ... ruhiger.
Erleichterter.
Glücklicher.
"Darf ich deine Schwester denn mal kennenlernen?", frage ich, als wir langsam in Richtung Schulhaus zurück gehen.
"Klar", sagt er und lächelt wieder.
Endlich wieder.
"Allerdings ... wie gesagt, wir leben in einer winzigen Wohnung, stell dich drauf ein."
Besorgt schaut er mich an, doch ich lache nur leise.
"Weißt du, gar nicht lange her, und ich lebte in etwas besser situierter Armut.
Mach dir darüber mal keine Gedanken.
Meine Schwester und ich mussten sogar in einem Zimmer auf einer Matratze schlafen.
Auf einer Matratze für eine Person, wohlgemerkt."
"Oh, ok, da sind wir ja doch besser dran", sagt er erleichtert.
"Und September", er bleibt kurz stehen und hält mich am Ärmel fest.
"Nochmals danke."
Er schaut mich ernst an.
"Danke.
Das hat mir echt geholfen.
Wirklich."
Ich lächele.
"Kein Problem, echt.
Dafür sind Freunde schließlich da, oder, Conny?"
Unsicher warte ich seine Reaktion ab.
Hoffentlich ist er nicht sauer, dass ich den Spitznamen verwende, den Amy ihm anscheinend gegeben hat.
Aber er grinst nur.
"Das stimmt", sagt er.
Das Lächeln bleibt.
Wie angefroren ist es in meinem Gesicht, doch ich fühle mich alles andere als gefroren.
Die Flamme ist mittlerweile zum Feuer ausgeartet, das von Connor mit ausreichend Brennholz versorgt wird.
Es brennt in meinem Inneren, angenehm warm, und vermittelt ein wundervolles Gefühl.
Sicherheit, Gesellschaft, Freundschaft.
Das alles gibt Connor mir.
Und ich hoffe, ich kann ihm dies in gleichem Maße zurückgeben.
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