10. Kapitel: Freunde

"Hey, September", begrüßt mich eine warme Stimme.
Ich drehe mich um und sehe Connor, der den Gang entlang auf mich zukommt.
Ich warte vor dem Klassenzimmer, in dem wir gleich Mathe (schon wieder!)
haben.
Eigentlich hatte ich mich auf einen weiteren Schultag ganz alleine eingestellt.
Doch in meinem Inneren keimt nun ein Funken Hoffnung auf, der immer größer wird, je näher Connor kommt.
"Hey", erwidere ich leise, als er vor mir steht.
"Willst du ... willst du nicht zu deinen Freunden gehen?"
Erstaunt schaut er mich an.
"Ich dachte eigentlich, da wäre ich schon."

Der Funke ist wächst zu einer Flamme.
Nun schaue ich verwirrt drein.
"Ich ... also ... ich meinte eigentlich..."
"Machte es dir was aus, wenn ich bei dir bin?"
Connor zieht eine Augenbraue in die Höhe.
"Nein ... ich ... ach, Connor, so habe ich das doch nicht gemeint!
Natürlich macht es mir nichts aus, wenn du mir Gesellschaft leistest.
Die hatte ich nämlich schon lange nicht mehr."
Na ja, eigentlich erst vorgestern. Aber das war ja nun nicht für sooo lange, füge ich in Gedanken hinzu.
"Aber ich dachte, du ..."
Doch Connor lässt mich nicht ausreden.
"Denk nicht immer so viel!", sagt er lachend.
"Das kannst du nachher im Unterricht noch genug."

Das ist die unausgesprochene Besiegelung unserer Freundschaft.
Mit Connor an meiner Seite geht es mir nun um einiges besser.
Er reißt einen Witz nach dem anderen und bringt mich damit so zum Lachen, dass ich Bauchweh bekomme.
Wenn wir im Unterricht sitzen und er mir etwas wie "Hat Mr Hamilton da etwa einen Knutschfleck?!" ins Ohr flüstert, kann es vorkommen, dass ich mitten in der Stillarbeit laut losprusten muss.
Als sich das häuft, setzt Mr Hamilton uns auseinander.
Doch ich muss auch am anderen Ende von Klassenzimmer noch den Fleck anstarren, sodass mein Mathelehrer irgendwann fragt, ob er denn einen riesigen Pickel im Gesicht hätte, oder warum ich ihn die ganze Zeit so anstarren würde.
Ich senke peinlich berührt den Kopf und werde bestimmt tomatenrot.
Doch das ist ein Vorteil meiner dunkleren Haut:
Man sieht das Rot nicht so sehr wie bei Weißen.

Sogar Judith fällt auf, dass sich etwas verändert hat.
Dass ich mich verändert habe.
Eines Donnerstagabends nimmt sie mich nach dem Essen beiseite und fragt:
"September? Es geht dir besser, oder?
Du bist viel fröhlicher als am Anfang."
Ich lächele sie an.
"Ja, es geht mir gut."
Ist das denn so offensichtlich?
"Hast du schon Anschluss gefunden? Ich weiß, dass es an den High Schools ziemlich schwer ist, sich zu integrieren, vor allem, wenn man mitten im Schuljahr kommt.
Ich war schließlich auch mal auf einer."
Ich antworte erneut mit einem schlichten "Ja".
Und Judith belässt es dabei.

Auch Connor bewundert meine Zeichenkünste.
Maya hat sich in Kunst demonstrativ ganz weit weg von mir hingesetzt, doch das ist mir gerade recht, denn so kann Connor neben sitzen.
Da er hier anscheinend auch keine anderen Kumpels hat, sitzen wir jetzt immer nebeneinander.

Wie Maya entfährt auch ihm ein "Wow!", als er meine halbfertige Trauerweide sieht.
"Das ist ... wunderschön."
"Aber sie ist doch noch gar nicht fertig", widerspreche ich.
"Na, dann wird sie wunderwunderschön sein, wenn du erst fertig bist."

Ich darf kurz auf die Toilette gehen, weil ich schon weit mit der Zeichnung bin.
Als ich fertig bin und aus der Tür trete, stoße ich fast mit jemandem zusammen, der aus der Jungentoilette gegenüber kommt.
"Tut mir ... oh, du bist es", sagt eine Stimme.
Muss es immer er sein?, denke ich verbittert, als ich Leo erkenne.
Verlegen steht er vor mir und knetet wie bei unserer ersten Begegnung die Hände, anscheinend eine Angewohnheit, wenn er nervös ist.
Aber warum ist er jetzt nervös?
Hat er etwa ein schlechtes Gewissen?

"Macht nichts", murmele ich und wende ich mich zum Gehen.
Bloß weg hier, weg von ihm!

"September! W ... warte bitte kurz!"
Was?
Warum?
Langsam drehe ich mich um.
Leo guckt hastig nach rechts und links, wie, um sich zu vergewissern, dass uns niemand sieht.
Oder wahrscheinlich eher, dass niemand IHN sieht, wie er mit dem Wüstenmädchen, dem Mobbingopfer Nummer 1, redet.
"Was willst du?", frage ich fordernd.
Jegliche Schüchternheit wäre jetzt unangebracht.
Unsicher tritt Leo auf der Stelle.
Ich mustere ihn.
Jeder Millimeter seines Körpers scheint angespannt zu sein,
es ist offensichtlich, dass er sich ganz und gar nicht wohl in seiner Haut fühlt.

"Ich ... ich wollte ..."
Er bricht ab, fährt sich durch die blond-braunen Haare und seufzt gequält.
Als er neu anfängt, schaue ich zu ihm auf, da er gut einen halben Kopf größer ist als ich.
Das bemerke ich erst jetzt.
Genauso wie die hellen Sommersprossen, die Stupsnase und die grünen Augen, die im Moment sehr verunsichert dreinschauen.
Wenn ich es nicht besser wüsste, könnte ich ihn, zumindest auf den ersten Blick, glatt mit Connor verwechseln.
Bis auf die Haare. Und die Augen.
Und den Charakter.

"Ich ... ich wollte nur etwas erklären, also, das mit dem Kennenlernen und ... ach, egal."
Ungeduldig wippe ich auf den Fersen.
Will er dann jetzt mal anfangen?
"Also." Erneut holt er tief Luft.
"Jedenfalls wollte ich dir erklären, warum ich dich neulich angesprochen habe.
Es war eher eine ... nun ja, unüberlegte Aktion.
Aber ich habe dich gesehen, und, da ich wusste, dass - "
"Leo!"
"Mist!", flucht er, wie zu sich selbst.
"Das kann doch nicht wahr sein."
Er schaut mich entschuldigend an.
"Sorry, aber Liam ruft mich. Ich muss gehen."
Er hebt die Hand und wendet sich zum Gehen.
"Also, bis - "
"Ist Liam auch so einer von deinen Schlägerfreunden?"
Die Frage fliegt nur so aus meinem Mund heraus.
Irritiert lässt Leo die Hand sinken.
"Ich habe keine - "
"Lüg mich nicht an!"

Meine Stimme hallt den leeren Gang entlang, doch es ist mir egal, ob Liam oder irgendjemand anderes mich auch hören kann.
Es ist mir auch egal, dass Leo bis auf diese zwei Wortwechsel ein völlig Fremder ist und dass es sich eigentlich nicht gehört, quasi Fremde anzuschreien.
Aber ich kann mich einfach nicht mehr beherrschen.
Eine plötzliche Hitze steigt in mir auf.
Eine Hitze der Wut.

"Ich habe genau gesehen, dass du dabei warst!
Und erzähl mir ja nichts anderes!
Außerdem", meine Stimme klingt nun gepresst, "habe ich dich zusammen mit Mike gesehen.
Gestern!
Auf dem Sportplatz!
Na, habt ihr schön über mich gelästert?
Wie toll seine Quälerei war?
Wie lustig es war, als ich um mich getreten habe?
Hm?
Habt ihr über mich gelacht?"
"Wir haben nicht - "
Doch ich lasse ihn nicht ausreden.
"Weißt du was?!
Das ist mir egal!
Ich habe keine Lust mehr, mir noch mehr Lügengeschichten anzuhören!"
Ich mache auf dem Absatz kehrt, lasse Leo stehen und renne den Gang entlang, als wäre der Teufel persönlich hinter mir her.

Ich habe keine Ahnung, woher dieser plötzliche Wutausbruch kam.
Anscheinend konnte ich meine Gefühle nicht mehr zurückhalten.
Sie sind einfach aus mir herausgeplatzt.
Aber ich bereue meine Worte nicht.
Kein bisschen.
Soll er sich doch jetzt schlecht fühlen!
Das ist mir sowas von egal!
Und wenn nicht, ist es mir auch schnuppe.

Zurück im Kunstsaal lasse ich mich schwer atmend auf meinen Platz plumpsen.
Besorgt schaut Connor mich an.
"Ist alles okay mit dir?
Du klingst so, als wärest du gerade einen Halbmarathon gelaufen."
Das bringt mich zum Glucksen.
"Na ja, so ähnlich..."

Er ist der Erste, dem ich mich anvertraue, sogar noch vor meiner Schwester.
Da im Klassenzimmer zu viele Menschen um uns herum sind, warte ich bis zur Pause.
Wir stellen uns in einen stillen Winkel auf dem Schulhof und ich erzähle ihm von Leo.
Von unserer ersten Begegnung und dem überraschenden Gespräch,
davon, wie er bei den Aktionen von Mike und Mattew in der Nähe gelehnt hatte, und nun von meinem Ausbruch vor den Toiletten.
Ich lasse nichts aus, auch nicht, wie sehr ich unter den Angriffen leide, aber noch mehr darunter, dass niemand eingreift und keiner der Schaulustigen einen Erwachsenen einschaltet.

"Tja, das wird auch niemand tun, da bin ich mir sicher", sagt Connor, als ich geendet habe.
"Weißt du, derjenige, der Hilfe holen würde, wäre das nächste Opfer.
Und das will keiner riskieren, auch wenn vielen der Gedanke kommt, dass die Show, die diese Idioten abziehen, komplett daneben sind."
"Aber wenn das tatsächlich mehrere sind, dann sind sie nicht alleine!
Und ich glaube nicht, dass man so doof ist und eine ganze Gruppe angreift", widerspreche ich.
"Das ist wahr. Aber diese Leute haben trotzdem Angst, etwas zu sagen.
Ein falsches Wort, und du bist bei den 'Coolen' unten durch.
Und wenn du erstmal ganz tief im Keller der Schulhierarchie bist, dann werden sie dir deine Schulzeit zur Hölle machen."
"Na toll, da kann ich mich ja auf die nächsten Jahre freuen", sage ich sarkastisch.
"Wahrscheinlich bin ich doppelt froh, wenn ich endlich aus der Schule raus bin.
Vorausgesetzt, ich lebe dann noch und wurde in einem Schwitzkasten erwürgt."
Connor grinst.
"Genau, oder zu Tode beleidigt."
"Oder so oft bespuckt, dass ich daran ersticke."
Trotz der ganz und gar unlustigen Situation müssen wir lachen.

"Ihr habt aber einen schwarzen Humor", sagt da plötzlich jemand und wir fahren herum.
Maya steht vor uns und schaut uns skeptisch an.
"Na, im wahrsten Sinne des Wortes", bemerke ich.
Da erst fällt ihr auf, was sie gerade gesagt hat, und sie wird rot.
"Sorry, ich wollte nicht..."
"Keine Sorge. Was anderes geht bei mir ja gar nicht.
Wie kann ich einen weißen Humor haben?"
Sie senkt den Blick.
"Ja, das war dumm von mir.
Tut mir echt leid, ich wollte nicht ..."
Sie bricht ihren Satz ab, dann murmelt sie etwas mir komplett Unverständliches.
Wahrscheinlich ist es Deutsch.
"Hör mal, Maya, das ist nicht ..."
Doch sie hat sich schon umgedreht und sucht nun fluchtartig das Weite.
Ratlos schaue ich Connor an.
"Was war das denn?"
Er zuckt mit den Schultern.
"Keine Ahnung", antwortet er ehrlich.

Plötzlich wird mir die Ironie dieser Situation bewusst:
Unbeabsichtigt bin ich vorhin genau an die gleiche Stelle gegangen, wo ich mich nach Mikes Attacke zurückgezogen habe.
Und genau an die gleiche Stelle, wo Maya dann aufgetaucht war und mich gefragt hatte, ob ich denn Selbstgespräche führen würde.
Nun ist Maya erneut hier aufgetaucht.
War das Zufall?

Ich schüttele den Kopf. Über sowas muss ich im Moment nicht nachdenken.
Ich habe echt andere Sorgen.
Und Maya hat ja selbst gesagt, sie bräuchte Zeit.
Dann werde ich ihr die mal geben.
Sicher kommt sie bald raus aus ihrem Schneckenhaus.
Und bis es soweit ist, habe ich ja immer noch Connor.
Der mich gerade wieder grinsend mustert.
"Was grinst du denn so?", frage ich.
Hab ich was verpasst?
"Nun ja, ich habe dich nun schon zum dritten Mal was gefragt."
Ups.
"Sorry", murmele ich schuldbewusst, doch er lacht nur.
"Keine Sorge, ich verliere mich auch oft in meinen Gedanken", meint er versöhnlich.
"Jedenfalls, möchtest du mal mit mir ins Judo gehen?"
Als er meinen ratlosen Blick bemerkt, fügt er hinzu:
"Das ist so eine Art Selbstverteidigung. Viel mit treten und fallen und werfen.
Aber nicht wirklich brutal.
Ich mache das seit letztem Jahr.
Ich denke, es wäre kein Problem, wenn du mal dazukämest.
So weit sind wir noch nicht.
Und wir wollen doch dafür sorgen, dass du die Schulzeit überlebst, oder?"
Da ist es wieder, das schiefe Lächeln, das mir schon gestern so gut gefallen hat.
Ich weiß nicht genau, ob es daran liegt, doch jedes "Aber", das ich dagegen hätte
(wie soll ich das Judith beibringen? Außerdem habe ich nicht wirklich eine Ahnung, was man da genau macht),
wird plötzlich von dem Willen überlagert, "ja" zu antworten.
Also tue ich das auch.
"Ja, ich hätte Lust, mal mit dir hinzugehen."
"Super!" Connor wirkt ehrlich erfreut.
"Und ich versichere dir, es macht echt Spaß. Zwar nicht nur, aber meistens.
Also, Montag um halb fünf.
Ich hole dich ab.
Wo wohnst du denn?"
"In der Martin Luther King Road", antworte ich.
"Weißt du, wo das ist?"
Kurz legt er die Stirn in Falten und ich kann förmlich sehen, wie es in seinem Gehirn arbeitet.
Dann glätten sich die Falten wieder und machen den überrascht hochgezogenen Augenbrauen Platz.
"Das ist doch in Roseburry, oder?"
Als ich nicke, pfeift er anerkennend.
"Wow. Hübsches Viertel.
Deine Eltern haben wohl viel Geld."
"Meine Adoptiveltern.
Und ja, sie sind nicht arm."
"Adoptiveltern?"
Geschockt sieht Connor mich an.
"Was ist denn mit deinen ... richtigen Eltern passiert?"
"Sie sind an AIDS gestorben.
Nun ja, noch nicht, aber sie sind so gut wie tot", sage ich bitter.
Das ist ein Detail, das ich Leo nicht verraten habe.
Ihm gegenüber habe ich gesagt, meine Eltern wären tot.
Doch das stimmt nicht.
Sie leben noch.
Schwer krank und ohne Hoffnung auf eine Heilung und die damit verbundene Rückkehr ins Leben.
Und für mich ist das eigentlich noch schlimmer.
Zu wissen, dass sie irgendwo leiden müssen, bis sie irgendwann durch den Tod von ihren Qualen erlöst werden.
Connor schaut mich aus seinen grauen Augen traurig an.
"Das tut mir leid."
Kein Schock, kein einfach nur dahergesagtes "Tut mir leid für dich":
Es gibt einen Unterschied zwischen ihm und den anderen.
Das spüre ich.
Und das sehe ich.
In diesen grauen Augen sehe ich  Verständnis.
Und echtes Mitgefühl.

"Ich kenne das. Weißt du, ich ..."
"Rrrrrrring!"
Bedauernd bricht Connor ab.
"Tja. Dann erzähle ich es dir eben wann anders.
Komm, wir haben jetzt Englisch, da sollten wir nicht zu spät kommen."

Noch nie habe ich mich weniger über die Schulklingel gefreut.

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