Kapitel 4


Mit den Ellbogen auf dem Tisch abgestützt, saß Lero einige Stunden später in der Küche und versuchte, sich Tavias Verschwinden irgendwie zu erklären. Vielleicht hatte er etwas vergessen? Etwas übersehen? Er wollte zunächst gut darüber nachdenken und sich vergewissern, dass er tatsächlich keine Ahnung hatte, bevor er im Dorf fragen und unnötig Unruhe verbreiten würde. Er war sich sicher, dass nicht nur er in Sorge und Panik verfallen würde, denn Tavia war unheimlich beliebt bei den Menschen in Jirus und hatte einen sicheren Platz in ihren Herzen. Das war kein Wunder, denn ihre liebevolle Art und die Wärme, die sie mit jedem Lächeln, mit jeder Umarmung und jedem Wort schenken konnte, waren ein guter Weg, um sich in ein Herz zu schleichen – nicht nur in seines.

Doch so lange er auch nachdachte, ihm fiel einfach nichts ein. Mit einem Seufzen erhob er sich von dem Stuhl und lief zur Eingangstür. Er durfte keine Zeit verlieren, je früher sie nach ihr suchen würden, desto schneller würden sie sie finden. Das hoffte er jedenfalls.

Er griff nach seiner geliebten Jacke und warf sie sich locker über die Schulter. Doch als er bereits die Hand auf die Türklinke gelegt hatte, blieb er starr stehen. Mit gehetzten Bewegungen nahm er die Jacke wieder in die Hände und kramte in der Innentasche, bis er den Zeitungsartikel in der Hand hielt.

Was, wenn sie ihn gesehen hatte? Wenn sie ihn gelesen hatte? Erst gestern war der Zettel ihm aus Versehen heruntergefallen und gerade noch hatte er sich herausreden können. Vielleicht war sie misstrauisch geworden und hatte in der Nacht noch einmal nachgeguckt?

Lero wollte sich noch nicht einmal ausmalen, wo sie jetzt war, wenn sie es tatsächlich getan hatte. Denn so, wie er Tavia kannte, hätte sie mit Sicherheit versucht, den Jungen, von dem die Möglichkeit bestand, dass er auf dem Schiff war, ausfindig zu machen. Schon alleine, um Antworten auf ihre Fragen zu erhalten. Fragen, die nach dem Lesen des Artikels massenweise in ihrem Kopf herumschwirren würden.

Lero war sich nicht sicher, ob Tavia sich an den Jungen erinnern konnte. Er hatte nie mit ihr darüber gesprochen – absichtlich. Anfangs hatte sie noch einige Male nach ihm gefragt, aber er hatte diese Fragen geschickt umgangen, bis sie aufgehört hatten. Doch vielleicht war das ein Fehler gewesen. Denn nun plagte ihn die Ungewissheit. Und er war sich nicht sicher, ob es ein schlimmeres Gefühl gab.

Die unschönen Gedanken an ihren möglichen Aufenthaltsort zur Seite schiebend, öffnete er entschlossen die Tür und machte sich auf die Suche nach dem einzigen Mädchen, das je in der Lage gewesen war, sein Herz für sich zu gewinnen.

***

Mein Kopf pochte wie wild. Ich fühlte mich, als wäre ich mehrmals absichtlich gegen eine Wand gerannt. Und zwar so lange, bis ich bewusstlos umgefallen war. Ich stöhnte vor Schmerz, der sich wie ein viel zu spitzer Speer durch meinen Kopf bohrte, als ich mich langsam aufsetzte und die Augen zusammenkniff. Leute sprachen immer von Orientierungslosigkeit, wenn sie in Ohnmacht fielen – und nun konnte ich das sowas von bestätigen.

Wo zu Rhonirs Göttern war ich?

Als ich die Augen öffnete, erkannte ich fast genau so viel wie Sekunden zuvor – also gar nichts. Nur das kleine, runde Fenster, das aber so schmutzig war, dass kaum Licht durchkam, ließ einige Sonnenstrahlen in den verstaubten Raum eindringen.

Ich versuchte, nicht in Panik auszubrechen und mich stattdessen zu erinnern, was ich als Letztes getan hatte. Und als die Erinnerung einige Zeit später nach und nach wiederkam, konnte ich es nicht verhindern, dass sich meine Augen erschrocken weiteten.

Gerade als ich – die alte Optimistin, die ich doch war – mich wieder beruhigen und mir einreden wollte, dass ich bestimmt nicht mehr auf dem Schiff war, machte der Raum einen Schlenker zur Seite, sodass ich nach vorne kippte und nur mit Mühe einen Aufschrei unterdrücken konnte.

Verflucht, Räume bewegten sich nicht.

Nun ja, außer es waren Räume im Inneren eines Schiffes, das gerade eine Runde auf dem Meer drehte. Ich konnte spüren, wie meine Atmung sich allmählich beschleunigte, denn je länger ich über meine Situation nachdachte, desto bewusster wurde mir, in was für Schwierigkeiten ich steckte. Das Bedürfnis, mir die Seele aus dem Leib zu schreien, überfiel mich, doch ich wusste, dass mir das nicht helfen würde. Im Gegenteil: Wahrscheinlich würde es sogar alles nur noch schlimmer machen und genau deswegen hielt ich den Mund.

Ich wartete, bis die Schwankungen aufgehört hatten, bevor ich mich mit einer Hand auf einer nahe platzierten Holzkiste abstützte und schließlich auf die Beine kam. Kaum hatte ich eine vertikale Position eingenommen, schoss erneut ein stechender Schmerz durch meinen Hinterkopf. Sofort tastete ich Letzteren vorsichtig ab. Als ich das getrocknete Blut spüren konnte, das zu allem Überfluss auch an meinen Haaren klebte, kochte der Zorn in mir auf. Der Zorn auf mich selbst, dieses Schiff und auf denjenigen, der es gewagt hatte, mich bewusstlos zu schlagen und an diesen Ort zu verfrachten.

Ich hätte einfach im Bett bleiben und das Verlangen in mir unterdrücken müssen. Denn nun wusste ich nicht, wie ich dieses riesen Schlamassel wieder in Ordnung bringen sollte.

Als der Gedanke an Lero durch meinen Kopf fuhr, schob ich ihn so schnell es ging wieder beiseite. Die Sorge darum nun auch noch zuzulassen, würde mich nicht den kleinsten Schritt weiterbringen, sondern den Stresspegel nur bis ins Unendliche steigern. Falls eine Steigerung überhaupt noch möglich war.

Die Kopfschmerzen mühsam ignorierend, versuchte ich zunächst, so rational und logisch wie irgend möglich zu denken. Das Erste, was mir einfiel, war: Ausgang. Ich musste einen Ausgang finden, etwas, was mich aus diesem Raum bringen würde. Also ließ ich meinen Blick über mein Umfeld schweifen und erst nach genauem Hinsehen erkannte ich die Tür, auf die mir die Sicht von dort, wo ich stand, durch ein paar der Holzkisten versperrt wurde. Als mein Blick sich auf eine dieser Kisten heftete, stellten sich mir die Nackenhaare auf. Ein alles andere als freundlich schauender und auch nicht allzu hübscher Totenkopf war mit schwarzer Farbe auf die Kiste gemalt. Ich entschied mich dagegen, den Inhalt des Ganzen näher zu erkunden.

Gut darauf bedacht, nicht zu fallen, lief ich gebückt zu der kleinen Tür. Ich war nicht sehr groß, doch selbst ich musste mich aufgrund der niedrigen Decke ducken. Und anscheinend war der Schlag doch etwas fester gewesen als befürchtet, denn für einen kurzen Moment stolperte ich fast über meine eigenen Füße und rempelte dabei aus Versehen einen Stapel Kisten an, sodass die oberste polternd zu Boden fiel.

»Verdammt!«, fluchte ich leise. Wie erstarrt blieb ich stehen, hielt den Atem an und lauschte auf mögliche, beunruhigende Geräusche. Doch als auch nach einer Minute keine Schritte oder Ähnliches zu hören war, atmete ich erleichtert aus. Das war knapp.

Als sich meine Hand kurze Zeit später auf den Türknauf legte, durchfuhr mich mit einem Mal Panik. Was, wenn sie mich eingesperrt hatten? Mit diesem Gedanken riss ich mit mehr Schwung als beabsichtigt die – überraschenderweise – offene Tür auf. Auch wenn ich mich freute, runzelte ich gleichzeitig verständnislos die Stirn. Wieso würden sie mich in diesen Raum bringen, aber nicht sicherstellen, dass ich ihn nicht verlassen konnte? Wollten sie, dass ich raus kam? Wollten sie mich überraschen mit einem erneuten Schlag gegen den Hinterkopf? Oder wussten sie, dass ich mich so oder so nicht gegen sie wehren könnte, selbst wenn ich es versuchte? Tausende Fragen durchfluteten meinen Kopf, doch die Antworten fehlten mir. Und so misstrauisch ich in diesem Moment auch war, es gab nur eine einzige Möglichkeit, diese zu erhalten.

Langsam hob sich mein Blick und richtete sich auf die Treppe vor mir, die nach oben zu einer Falltür führte. Wenn man genau hinsah, konnte man sehen, wie immer wieder mal jemand auf diese trat. Dabei wirbelten einige der Dreck- und Staubpartikel in der Luft umher, die man aufgrund des Lichtes, das in kleinen Strahlen durch Schlitze im Holzboden durchkam, erkennen konnte. Stimmen konnte ich keine hören. Sprachen sie nicht miteinander? Oder hatte ich bloß einen stillen Moment an Deck erwischt?

Als ich dort stand, wurde mir bewusst, dass ich eigentlich noch nie wirklich darüber nachgedacht hatte, wie ich mal sterben würde. Wenn man es genau nahm, hatte ich eigentlich auch nicht vorgehabt, in absehbarer Zukunft das Reich der Lebenden zu verlassen. Doch nun, dort am Treppenansatz, fühlte es sich fast so an. So, als würde ich jeden Moment einen Schritt in die Nähe meines Todes machen.

Vielleicht schien es übertrieben, doch diese unheimliche Ruhe, die in meinem Kopf herrschte, erinnerte mich an eben das: Den Tod.

Aber wem machte ich schon was vor? Eigentlich war ich ganz und gar selber schuld. Vielleicht war es auch mein Schicksal, so jung zu sterben. Vielleicht vermissten mich meine Eltern ja. Ein kleines Lächeln erschien auf meinen Lippen bei dem Gedanken an sie. Die Tränen, die mich in schwachen Momenten früher noch heimgesucht hatten, waren schon lange versiegt. Wenn ich ehrlich war, konnte ich mich noch nicht einmal mehr an ihre Gesichter erinnern. Aber ich wusste noch, wie sich das Lachen meines Vaters angehört und wie der Kuchen meiner Mutter gerochen hatte. Es waren Kleinigkeiten, die ich mit meinen leiblichen Eltern verband. Doch an eben diesen Kleinigkeiten, die einem vielleicht so unbedeutend erscheinen könnten, hielt ich mit aller Kraft fest. Denn manchmal, in Momenten wie diesem, gaben diese Kleinigkeiten mir ein Stück Hoffnung. Ein Stück Glauben.

Und mit dem Gedanken, im schlimmsten Fall meine Eltern vielleicht wiedersehen zu können, kam mir der Weg zu der Falltür fast gar nicht mehr so schrecklich vor. Aber nur fast. Denn mit jedem Schritt, der mich dem Deck näher brachte, setzte mein Herz für einen Schlag aus. Ich wusste nicht, ob ich wirkliche Angst empfand, aber das Zittern meiner Hand, die sich, oben angekommen, auf das Holz legte, erschien selbst mir sehr verdächtig.

Ich zögerte nicht, die Tür zu öffnen. Im Gegenteil, denn kaum war sie offen, war ich bereits fast hervorgeklettert. Wahrscheinlich wollte mein Unterbewusstsein es nicht länger hinauszögern, sondern endlich damit abschließen und es hinter sich bringen.

Zunächst musste ich die Augen zusammenkneifen, da das Sonnenlicht so unheimlich blendete und ich mich bereits an die Dunkelheit dort unten gewöhnt hatte. Doch nach einiger Zeit und mehrmaligem Blinzeln konnte ich langsam, aber doch erkennen, was sich um mich herum befand.

Und wahrscheinlich wäre mir der Atem gestockt, wegen der Schönheit des weiten, offenen und unendlichen Meeres, das durch die Sonnenstrahlen zu glitzern schien und als erstes in meinem Sichtfeld auftauchte. Doch leider konnte ich mich nicht lange auf diesen tollen Ausblick konzentrieren.

Denn geschätzt zwanzig Männer hatten in ihren Bewegungen innegehalten und sich zu mir gedreht, die Ausdrücke auf ihren Gesichtern absolut unbezahlbar. Wenn ich nicht gerade in der Position gewesen wäre, in der ich es war, hätte ich vielleicht sogar gelacht. Im selben Moment stellte sich mir jedoch die Frage, warum sie so überrascht schienen. Hatten nicht sie mich auf dieses Schiff gebracht?

»Ich würde meinen kleinen Zeh darauf verwetten, dass das kein Mann ist.« Kaum hatten diese Worte meine Ohren erreicht, drehte ich mich nach hinten, um zu sehen, wer der Besitzer dieser war.

Dabei hegte ich die tiefe Hoffnung, dass es sich nicht um meinen persönlichen Henker handeln würde.

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