Kapitel 2


Lero hatte einen Arm schützend um meine Schultern liegen, während wir mit hastigen Schritten auf dem Weg nach Hause waren. Ich hatte sofort gemerkt, dass er einen Umweg nahm, offensichtlich das Meer meidend. Wahrscheinlich wollte er sich keine zusätzlichen Probleme einhandeln, bei einer möglichen Begegnung mit den Männern des Schiffs. Und so, wie er und alle anderen sich benahmen, bekam auch ich langsam den Eindruck, dass eine solche Begegnung wohl nicht allzu angenehm verlaufen würde.

»Hast du Angst?«, fragte ich, als wir einige Minuten später endlich an der Türschwelle zu dem gemütlichen, kleinen Häuschen ankamen. Von außen war es weiß gestrichen, die Tür war grün. Innen konnten wir nicht mit viel Luxus prahlen, im Gegenteil, es war alles sehr einfach gehalten. Aber ich mochte es und außerdem war es mehr als nur ausreichend für zwei Personen.

Lero öffnete die Tür und trat ein, bevor er sich schließlich mit fragendem Gesicht zu mir drehte. »Vor was?«

»Vor dem Schiff, vor den Männern?«, konkretisierte ich meine Frage. Ich sah, dass er versuchte, jegliche Regung seines Gesichtes zu verbergen, doch das kurze Zucken seines Kiefers war nicht spurlos an mir vorbeigegangen. Ich wusste, dass ihn dieses Thema mindestens genau so sehr beschäftigte wie mich. Vielleicht auf eine andere Art und Weise, aber er machte sich auf jeden Fall Gedanken.

»Ich würde nicht von Angst sprechen«, antwortete er dann. »Ich versuche nur, vorsichtig zu sein, was sie betrifft.« Ich trat hinter ihm in den Eingangsbereich und legte meine Jacke ab, nachdem ich meine Schuhe ordentlich auf die Seite gestellt hatte. Die braunen, kurzen Stiefel hatte Lero mir im letzten Jahr zum Geburtstag geschenkt, obwohl sie wirklich teuer gewesen waren. Ich musste jedes Mal lächeln, wenn ich mich daran erinnerte, wie er mich mit strengem Blick bedacht und gesagt hatte, dass ihm kein Geld der Welt zu schade für mich wäre und ich gefälligst aufhören solle, mir Gedanken darüber zu machen.

»Denkst du, es stimmt, was man über sie sagt? Du weißt schon, das mit den grausamen Taten?« Ich biss mir unwillkürlich auf die Lippe bei diesem Gedanken. Es behagte mir nicht, solch gefährliche Menschen in meiner unmittelbaren Nähe zu wissen, doch andererseits löste es ein Gefühl in mir aus, das ich mit aller Kraft zurück zu drängen versuchte: Neugier – das war schon immer meine große Schwäche gewesen. Ich hatte noch nie in meinem Leben mit einem Sträfling zu tun gehabt oder mit Kriminellen. Noch nicht einmal mit einem Dieb. Das war wahrscheinlich auch gut so. Ich konnte mir schwer vorstellen, dass ich mit solchen Menschen gut klarkommen könnte. Andererseits fragte ich mich immer, was es war, das solche Menschen dazu brachte, solche Dinge zu tun. Es musste Gründe geben. Vielleicht hatte der Dieb keine Mittel, um sich zu versorgen. Vielleicht hatte der Mann, der einen anderen geschlagen hatte, es nur getan, weil der andere ihn provoziert hatte. Natürlich rechtfertigte es die Taten dieser Menschen nicht. Aber es war ein Anfang, diese Taten zu verstehen.

Als Lero mir nicht sofort antwortete, hob ich meinen Kopf und fand ihn mit gerunzelter Stirn auf dem hölzernen Küchenstuhl sitzen und mich mit wachsamen Augen betrachten. Fragend hob ich eine Augenbraue.

»Wieso interessiert dich das alles so sehr?« Seine Stimme hatte er unnatürlich gesenkt und seine Arme verschränkt. Ich kannte diese Haltung und jedes Mal machte sie mich völlig grundlos nervös. Als hätte ich etwas zu verbergen oder etwas falsch gemacht und müsste mich jetzt vor ihm verantworten.

»Es interessiert mich nicht«, entgegnete ich daraufhin viel zu schnell. »Ich möchte nur wissen, ob es Grund zur Sorge gibt. Und das kannst du mir nicht verübeln, nachdem du selbst völlig aufgelöst im Lokal aufgetaucht bist.« Ich versuchte, mich zu verteidigen und gleichzeitig auch von mir abzulenken. Denn je mehr Lero fragen würde, desto mehr würde ich in Versuchung kommen, ihm von dem brennenden Gefühl in der Nähe meines Herzens zu erzählen.

»Solange du dich für die nächsten Tage so wenig wie möglich draußen aufhältst und immer schön in meiner Nähe bleibst, kann nichts passieren.« Wahrscheinlich wollte er mich damit beruhigen. Nach einem letzten, intensiven Blick in meine Richtung erhob er sich schließlich, seufzte und trat ein paar Schritte an mich heran.

»Du weißt, wie viel du mir bedeutest, nicht wahr? Du bist wie eine Tochter für mich, die ich nie hatte. Also tu' einem alten Mann den Gefallen und halte dich an seine Bitten.«

»Alten Mann? Jetzt übertreibst du aber.« Ich grinste ihn leicht an. Lero war tatsächlich nicht mehr der Jüngste mit seinen achtundfünfzig Jahren, aber noch weit davon entfernt, ein alter Mann zu sein.

Er schenkte mir ein Schmunzeln und ging schließlich zu den Kleiderhaken nahe der Eingangstür. Mit einem unvorsichtigen Ruck riss er seine Jacke herunter, als ein Zettel aus einer der Taschen herausfiel. Ich trat bereits einen Schritt nach vorne, um ihn aufzuheben, als Lero plötzlich mit einem lauten, dumpfen Stampfen drauftrat. Sofort beugte er sich nach unten und verstaute den Zettel schließlich wieder in der Innentasche seiner braunen Jacke, die er gegen keine andere eintauschen würde – ich hatte schon oft versucht, ihm eine neue schmackhaft zu machen, doch vollkommen erfolglos.

»Was war das?«, wollte ich wissen und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn.

»Eine Liste von Dingen, die ich diese Woche noch erledigen muss. Nichts Besonderes.« Ich antwortete nicht, absolut davon überzeugt, dass nichts, was ich sagen würde, etwas an seiner Antwort ändern würde. Lero log mich nie an und ich wollte daran glauben, dass es auch in diesem Moment so war, aber seine beschleunigte Atmung sprach für etwas ganz anderes. Hatte er etwas zu verbergen? Vor mir?

»Wohin gehst du?«, fragte ich aber stattdessen, als er bereits eine Hand auf die Türklinke gelegt hatte.

»Wir haben kein Brot mehr«, erklärte er und warf mir ein schmales Lächeln zu. Ich nickte und starrte ihm in der offenen Tür stehend hinterher, bis er kurze Zeit später aus meinem Sichtfeld verschwand.

***

Ich war mir sicher, dass es schon tief in der Nacht sein musste. Es fühlte sich nämlich an, als wären bereits einige Stunde vergangen, seit ich ins Bett gegangen war. Doch dank meinen viel zu lauten Gedanken konnte ich einfach nicht einschlafen. Stattdessen hatte ich mich die ganze Zeit umhergewälzt, die Decke zurückgeschlagen, nur um mich dann wieder in sie einzuwickeln. Schließlich war ich einfach regungslos liegen geblieben war, den Blick starr nach oben gerichtet.

Ich konnte den leichten Wind spüren, der durch das offene Fenster auch mich erreichte. Seit meiner Kindheit schlief ich bereits jede Nacht mit offenem Fenster, es war eine komische Angewohnheit. Lero hatte mir einst erzählt, wie verbissen ich die ersten Tage, nachdem ich bei ihm eingezogen war, darauf bestanden hatte, es nachts nicht zu schließen. Im Winter konnte das manchmal echt problematisch werden.

Unbewusst schweifte mein Blick nach draußen, bevor ich langsam meine Augenbrauen zusammenzog. Irgendetwas war anders – es war heller als sonst. Ungewöhnlich hell. Sofort schwang ich meine Füße über die Bettkante, bevor ich mich aufrichtete und mit leisen, aber schnellen Schritten zum Fenster lief. Ich wollte Lero, der im Nebenzimmer schlief, auf keinen Fall aufwecken.

Meine Hände legten sich auf den Fenstersims und ohne darüber nachzudenken, stellte ich mich auf meine Zehenspitzen. Strähnen meines Haares, die mir wegen dem Wind ins Gesicht fielen, strich ich hinter mein Ohr. Und dann öffnete ich meine Augen, die ich, ohne es bemerkt zu haben, geschlossen gehalten hatte.

Ich musste nicht nach der Ursache der ungewöhnlichen Helligkeit suchen, denn sofort erkannte ich das Schiffsheck. Meine Augen weiteten sich, als mir klar wurde, was ich da vor mir sah.

Das war es.

Und es nun von einer solchen Nähe zu sehen, machte das Schiff noch viel schöner, als es dort draußen, weit entfernt, auf dem Meer ausgesehen hatte. Das warme, etwas bläuliche Licht, eine Art Schimmern, weckte in mir die Sehnsucht, mich direkt davor zu stellen. Ich wollte mich an die Reling lehnen, ich wollte es berühren, einmal das Steuerrad umfassen und ich wollte mich frei fühlen.

Als mir bewusst wurde, was ich da dachte, schüttelte ich sofort, schockiert von diesen Gedanken und Wünschen, den Kopf und versuchte, mich zusammenzureißen und auf den Boden der Tatsachen zurück zu bringen. Ich durfte noch nicht einmal an so etwas denken, geschweige denn es tatsächlich in Erwägung ziehen. Sofort schossen mir Leros Worte durch den Kopf, an die ich mich doch unter allen Umständen halten wollte.

Ich drehte mich um, sodass ich mich mit dem Rücken anlehnen konnte, fasste mir in die Haare und kniff die Augen fest zusammen.

»Was ist nur los mit dir?«, flüsterte ich vor mich hin. Das alles sah mir nicht ähnlich. Ich hielt mich an Regeln, denn so konnte ich mir keine Probleme einhandeln. Und nur wegen einem verdammten Schiff würde ich diese Einstellung nicht über Bord werfen. Ich seufzte, als ich merkte, dass ich selbst in Gedanken Worte formte, die mit Schiffen zu tun hatten. Über Bord – die Ironie dieses Tages hatte nun ihren Höhepunkt erreicht.

Langsam, als würde ich Angst haben, jemand könnte mich dabei erwischen, drehte sich mein Kopf schließlich doch noch einmal zu dem Schiff. Dieses Leuchten faszinierte mich mehr, als es sollte – eine Feststellung, die mich zum Seufzen brachte. Was hatte dieses Ding nur an sich?

In einigen Tagen würde das Schiff wieder verschwunden sein und die Männer ebenfalls. Dann würde dieses nervenaufreibende Gefühl in meinem Inneren mit Sicherheit nachlassen. Das war es jedenfalls, was ich mir versuchte, in diesem Moment einzureden.

Eigentlich sollten diese Aussichten mich beruhigen, mich dazu verleiten, einfach ein paar Tage auszuhalten. Doch stattdessen überkam mich eine unfassbare Traurigkeit bei dem Gedanken, diese Chance zu verpassen. Die Chance, ein einziges Mal dieses wunderschöne Werk aus Holz näher zu betrachten. Wer wusste schon, wann die Männer wieder hier anlegen würden? Ob sie es überhaupt wieder tun würden? Schließlich war es das erste Mal seit mindestens fünfzehn Jahren, dass sie hier an Land kamen, andernfalls hätte ich mich mit Sicherheit daran erinnern können. Denn ein Schiff dieser Art gab es nur einmal – da war ich mir sicher. Und zu guter Letzt: Sollte man Chancen, die das Leben einem bat, nicht nutzen? Sollte man sie nicht ergreifen?

»Ich werde das sowas von bereuen«, murmelte ich mit stressgetränkter Stimme, während ich mich umzog und meine Schlafsachen achtlos aufs Bett warf. »Du bist tot, wenn Lero davon erfährt. Da braucht es auch keine furchteinflößenden Sträflinge ...« Ich wusste nicht, ob ich das sagte, um mich selbst davon abzuhalten, etwas zu tun, was ich eigentlich auf gar keinen Fall tun sollte. Ich würde mich damit in Gefahr begeben – in unmittelbare Gefahr.

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Männer auf dem Schiff befanden, war relativ groß. Mindestens einer von ihnen musste doch dort sein, oder? Jemand musste doch diesen Schatz bewachen.

Und trotzdem schlich ich mich aus dem Haus. Ich ließ mir lange Zeit, um die Türe zu schließen, gut darauf bedacht, möglichst wenig Krach zu machen. Denn eine spontane Ausrede für meinen nächtlichen Ausflug hatte ich leider nicht parat. Als die Tür dann schließlich ins Schloss fiel, atmete ich tief durch.

Aufgeregt auf meiner Unterlippe kauend erinnerte ich mich selbst daran, dass ich jeden Moment einen Rückzieher machen konnte, wenn ich es nur wollte. Doch genau da lag wahrscheinlich der verdammte, riesige Haken: Ich wollte es nicht.

Als ich mit zögernden Schritten, die Arme um meinen Oberkörper geschlungen, durch die leeren Straßen lief, konnte ich spüren, dass sich mein Herzschlag deutlich beschleunigte. Ich wusste nicht, ob mein Körper mir sagen wollte, dass ich umkehren sollte, weil ich gerade wahrscheinlich meinem Verderben entgegen lief. Aber ich wusste, dass ich gerade dabei war, dieses Verderben mit offenen Armen zu empfangen.

Von Leros Haus aus war es nicht weit bis zum Meer und so kam ich bereits kurze Zeit später dort an. Ich drehte mich nach rechts und konnte das Schiff in all seiner Pracht sehen. Keine hundert Meter trennten mich davon, doch ich zögerte.

»Ich sollte zurückgehen.« Die Worte vor mich hin murmelnd, machte ich die ersten Schritte Richtung Schiff. »Ich sollte wirklich zurückgehen.«

Und doch lief ich weiter.


Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top