I

Ich betrachtete Alice, wie sie auf einem Stuhl sass, der offensichtlich zu klein für sie war, ihre Ellenbogen auf einem zu tiefen Tisch gestützt und ihre Wangen in ihren Handfläche verborgen, ausdruckslos an die Wandtafel starrend und wie sie sich, mit ihrer winzigen, mechanischen Schrift ohne auf das Blatt zu schauen, Notitzen machte.

Sie war so wunderschön, selbst eingekeilt in ihrer Schulbank.

Um sie herum war es gähnend leer, die restlichen Schüler hatten ihre Tische von ihr weggerutscht und häuften sich an den Wänden.

Alice war es, so schien es, egal und sie betrachtete mit ihrem üblichen Gesichtsausdruck eingehend ihre langen und spitzen Fingernägel.

Gestern hatte es einen erneuten "Zwischenfall" gegeben.

Ihr Zeigefinger war in den Fleischwolf geraten und es hatte eine kleine Massenpanik ausgelöst, da es wirklich hässlich ausgesehen und äusserst stark geblutet hatte.

Alice hatte ohne mit der Wimper zu zucken den zerstörten Finger wieder einigermassen gerichtet, ein Geschirrtuch darum gewickelt und die nervöse Hauswirtschaftslehrerin mit ihrer monotonen Stimme abgewiesen.

Da Alice schon genug furchterregend im ruhigen Zustand war, wollte man sie auf keinen Fall wütend machen und so liess man sie einfach alleine in der Küche. Als sie nach einer halben Stunde wieder zu den anderen stiess, war die Küche tadellos sauber, das Fleisch fertig verarbeitet und ihr Finger wieder ganz gewesen.

Schon längst nicht mehr hinter ihrem Rücken wurde spekuliert, ob sie eine Hexe war. Ihre seelenlosen Augen und ihr maschinenähnliches Denken trugen einen grossen Teil zu dieser Theorie bei.

Die Mädchen, sowie die Lehrpersonen fürchteten und bewunderten sie gleichermassen, mieden sie, beobachteten sie jedoch gerne von weitem.

Alice war höflich, kompetent und half, wenn man sie darum bat. Doch das war alles. Niemals würde sie auf jemanden anderen zugehen.

Ihre Freizeit verbrachte sie mit lesen oder zeichnen. Und Alice zeichnete unglaublich gut. Es schien, als ob all diese Gefühle, welche sie nicht hatte, auf dem Papier wiedergeben wurden.

Sie hatte bisher jede einzelnen Zeichenwettbewerb, der jährlich im Mädchenheim stattfand mit Abstand gewonnen (auf jeden Fall seit sie einen Stift halten konnte). Und somit hingen ihre Werke im Korridor und wurden jedes Jahr aufs neue von den neuhinzugekommen Schülern ausgiebig bewundert.

Alice war beinahe zu gut in der Schule, hatte drei Klassen übersprungen und schrieb noch immer ausnahmslos die volle Punktzahl.

Alle Lehrer hatten grosse Hoffnungen in sie und für Alice war es klar, dass sie Anwältin werden würde. Schon immer. Ihre überaus neutrale Sicht auf alles, war wie dafür gemacht.

Eine schrille Glocke läutete. Die Mathematikstunde war vorbei und Alice packte mechanisch ihre Bücher ein, nickte dem Lehrer knapp zu und trat aus dem Zimmer.

Als sie ein "Fräulein Alice!" Von ihrer rechten Seite her hörte, blieb sie stehen und drehte sich auf ruckartig um.

Eine Gruppe Erstklässlerinnen lief mit auf dem Rücken herumspringender Schulranzen auf sie zu, versammelten sich zu einer kleinen Horde um sie herum und starrten sie bewundernd an.

"Was möchtet ihr?" Fragte sie ohne Umschweife, mangels irgendeines Ausdrucks in den Augen.

Die Erstklässlerinnen fingen an nervös von einem Bein aufs andere zu stehen.

"Ähm, ist es wahr, dass du schon in der zwölften Klasse bist und erst fünfzehn bist?

"Ja."

Die Schülerinnen fingen an unruhig zu werden. Und traten einen Schritt zurück, stammelten unverständliche Wörter.

"Seid ihr fertig?"

Die Kinderhorde nickte schnell und verzog sich fast fluchtartig.

Alice drehte sich wieder um und marschierte im schnellen Schritt, mit klackenden Absätzen ihrer flachen Ballerinas den Lichthof entlang, zum Klassenzimmer ihrer nächsten Stunde. Wo sie auch hinging, wurde ihr Platz gemacht und verhalten geflüstert.

Desinteressiert öffnete sie die Türe des Klassenzimmers 270 und betrat einen Lichtdurchfluteten, hellen Raum mit hellgelben Kunststoffllaminatboden und stabilen Eichentischen, an denen schon ein paar Schüler sassen, die Alice anstarrten.

Sie wogen ab, an welchen Tisch Alice sich setzen würde und machten sich schon einmal bereit, die Tische zu verschieben.

Alice sah sich mit kaltem Blick um, und setzte sich schlussendlich an einen Tisch, welcher schräg gegenüber zur Türe lag und sie sehen konnte, wer hinein kam.

Sofort nachdem sie sich gesetzt hatte, fing das verschieben der Tische an.

Es war fast zu einem Ritual geworden, dass automatisch geschah und Alice einen Scheiss interessierte.

Der Lehrer, ein schlaksiger Japaner, der durch irgendeinen Zufall in die Mädchenschule geriet und als einziger Mann ein hartes Leben hatte (er war schwul), trat durch die Türe, ließ die Materialien für die Stunde auf den Lehrerpult fallen und setzte sich mit einem Hüpfer auf die Arbeitsfläche.

Sein Blick huschte über die Klasse und blieb an Alice hängen. Sie starrte zurück. Der Lehrer lächelte nervös. Niemand würde sich je an Alice's Blick gewöhnen. Nicht einmal die Schulleiterin, die sie schon seit ihrer Ankunft vor 15 Jahren jeden Tag gesehen hatte, hielt es kaum unter ihrem Blick aus.

Der Lehrer fing an etwas über den Fortpflanzungrückgang der roten Waldameise zu erklären, als man weit entfernt vom Gang heraus, sich stetig nähernde, schwere Schritte hörte.

Einzelne von den Wänden hallende erschrockene Ausrufe begleiteten sie, die Klasse schauten alle auf, der Lehrer verstummte und blickte misstrauisch zur Türe.

Auch Alice fixierte die Türe, wachsam. Sie spürte eine Gefahr, ein Klingeln, welches sich von ihrem Magen her ihren ganzen Körper ausbreitete. Sie empfand keine Angst, nur eine dunkle Vorahnung und irgendwie mochte sie dieses Gefühl. Sie, die keine Emotionen verspürte, empfand nun endlich etwas.

Ein Muskel unter ihrem Auge zuckte, sie setzte sich an den Rand ihres Stuhles und beugte sich nach vorne. Sie war aufgeregt.

Die Schritte setzten wieder ein, wurden immer lauter, lauter, bis sie direkt vor der Klassenzimmertüre erneut verklangen.

Stille. Es schien wie die Ruhe vor dem Sturm.

Dann öffnete sich die Türe mit einem Knall, welcher sich mit dem Laut eines Schusses und dem Scheppern von Alice's Stuhl vermischte.

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