Kapitel 6
Alexander saß in seinem Ledersessel, den Blick abwesend auf die schwarze Mattscheibe des Fernsehers gerichtet. Obwohl er sich entspannt zurückgelehnt hatte, saß er wesentlich steifer als üblicherweise, beide Füße in den Lackschuhen fest auf dem Boden. Mit der schwarzen Anzughose konnte er seine Beine nicht überschlagen, sonst lief er Gefahr, den frisch gebügelten Dreiteiler zu zerknittern. Und Moore hatte ihm mehrfach eingebläut, in gehobener Attitüde zur Veranstaltung dieses Abends zu kommen.
Mit der rechten Hand richtete er sich abwesend die bordeauxrote Krawatte um seinen Hals, die Finger seiner linken Hand umklammerten das kühle Whiskeyglas, das er auf seinem Oberschenkel abgestellt hatte. Durch sein ungeduldig wippendes Bein schwang die bernsteinfarbene Flüssigkeit leicht hin und her, und die Eiswürfel klirrten leise gegen ihr gläsernes Gefängnis. Alexander wartete seit mehr als zehn Minuten auf Moore, doch er war nicht überrascht, dass sie ihn warten ließ.
Nein, überrascht war er erst, als die Dielen im Flur leise knackten und die Blondine im Türrahmen erschien. Obwohl er ansonsten keine Regung zeigte, schossen seine Augen sofort in ihre Richtung, und mit einem Mal erstarrte selbst sein unruhiges Bein.
Die Frau vor ihm hatte mit seiner Personenschützerin nur noch wenig zu tun. Und sie war schön.
Ihr bordeauxrotes Kleid lag bis zur Taille eng an, um dann in einem weiteren Rock bis zu ihren Knien zu fallen, ihre bloßen Füße offenbarend. Seine Hand wanderte unbewusst wieder zu seiner gleichfarbigen Krawatte, als er ihren Anblick förmlich einsog; über die schwarzen Highheels in ihrer rechten Hand glitt sein Blick nur flüchtig.
Moore hatte ihre Haare in große Locken gelegt, und das Blond wirkte um einige Schattierungen dunkler, wie es über ihre nackten Schultern fiel und gerade so den Ausschnitt des Off-Shoulder-Kleides berührte. Beinahe hungrig ließ Alexander seine Augen über ihren schneeweißen Hals wandern, hinauf bis zu ihren eigentlich braunen Seelenspiegeln, die jetzt erschreckend grün wirkten. Und wieder hinunter zu ihren Lippen, in derselben intensiven Farbe wie ihre gemeinsamen Kleidungsstücke.
Der sinnliche Mund öffnete sich, formulierte Worte, die ihn nur mit etwas Verzögerung erreichten. „Entschuldige die Verspätung, Alec. Jetzt bin ich bereit." Dieser süße Ton, die sanfte Stimme... mit einem Mal zuckte er wieder in die Realität zurück, lehnte sich mit ungläubigem Blick wenige Millimeter zurück. Moores Ausdruck war zärtlicher, als er es je zuvor gesehen hatte, aber das stand der Frau nicht, die der Journalist so unfreiwillig kennengelernt hatte. Es ließ sie unterwürfig wirken. Mit blitzendem Blick riss er sich von ihr los, stürzte in einem Zug den restlichen Alkohol herunter und platzierte sein Glas dann mit einem entschiedenen Pochen auf den Beistelltisch neben ihm.
In einer Bewegung war er aufgestanden und hatte mit zügigen Schritten die Garderobe hinter der Wohnzimmertür angestrebt, wo sein Mantel das einzige Kleidungsstück war. Weil er so gut zu den dunkelblauen Rollläden passte.
Nach einem achtlosen Griff war Alexander in die Ärmel des Mantels geschlüpft, den er im Auto lassen würde, weil sogar er einsah, dass er sich über einem Anzug weniger gut machte. Mit einer hochgezogenen Augenbraue wandte er sich an die Blondine, die noch immer im Türrahmen lehnte. „Moore?"
Mit einem Schmunzeln blickte sie kurz zu Boden, bevor sie seinen Blick auffing. „So langsam ist es doch wirklich Zeit für das Du. Ich bin Vendetta Dines... Vendetta für dich, oder einfach nur V." Alexander erstarrte, die Hand in der Luft schwebend, nach der Wohnzimmertür ausgestreckt, die an die Wand rechts von ihm angelehnt war. V wie Vendetta. Der Freiheitskämpfer, der starb, damit seine Ideale weiterlebten. Und so rein, wie Moore auftrat, würde abgesehen von ihm niemals jemand die Guy-Fawkes-Maske unter der Vortäuschung der Unschuld sehen. Wenn sie ihr Auftreten tatsächlich so gut unter Kontrolle hatte, dann war nicht einmal er in der Lage, die Seiten unter diesen vielen Covern zu lesen. Und sie selbst vielleicht auch nicht.
Nach dem Moment der unangenehmen Stille, in dem ein seltsames Glitzern in Moores Augen getreten war – als wäre sie ehrlich gespannt, wie er reagieren würde –, verzog Alexander seine Lippen zu einem charmanten Lächeln. „Dann freue ich mich auf den Abend, V", bot er ihr galant seinen Arm an, „Nur fahren musst du wohl selbst." Er nickte zu dem geleerten Whiskey neben seinem Sessel hinüber, und Moore legte leicht lachend den Kopf in ihren Nacken. „Wie stellst du dir das denn vor, hiermit?" Verdeutlichend hob sie ihre Schuhe und wechselte sie in die linke Hand, um sich mit der Rechten bei ihm einzuhaken.
Sie beide spielten ihre Rolle perfekt. Den ganzen Weg in Alexanders schwarzem Audi, den Moore tatsächlich barfuß fuhr, bis in den Eingangsbereich des gemieteten Restaurants, in dem die Abendgala stattfinden würde. Offiziell hatte der Luftfahrtkonzern Leonardo den Italiener gemietet, um in einem Businesstreffen den Grundstein zu legen, einen Kommunikationstechnikzweig in der Firma zu etablieren. Innoffiziell bekam man Kokain als Beilage, wenn man die 86 wählte.
Alexander hatte seiner Begleitung mit einer gespielten Verbeugung die Tür des Restaurants geöffnet, was sie mit einem affektierten Kichern quittiert hatte. Sein Kiefer war jetzt schon gereizt angespannt, und nach einem kurzen Blick in den Spiegel im Eingangsflur der Pizzeria musste er sich zusammenreißen, seine Gesichtszüge zu glätten. Das Gebäude spielte mit prunkvollen Akzenten und modernem Inventar äußerst geschickt, machte durch die Glasfronten im Eingangsflur einen offenen und ehrlichen Eindruck. Der Kronleuchter hoch über ihren Köpfen spendete warmes Licht, und der goldgerahmte Ganzkörperspiegel war das Gegenstück zu dessen messinggelben Armen. Und ihr Abbild fügte sich perfekt in die Atmosphäre ein, anmutig und arglos.
Er war der perfekte Gentleman, verdeckte seinen Unmut mit einer warmen Maske, hielt sich aber ruhig im Hintergrund. Sie hätte ihm sowieso die Show gestohlen. Genauso oberflächlich, wie man es von ihr erwarten würde, schwärmte sie von dem aufwändigen Anstrich der Wände, sobald sie den Hauptraum betreten hatten. Hinter einem ästhetischen Mischmasch aus metallenen Designerstühlen und Eckbänken mit Plüschbezug reihten sich ausladende Fenster, die jedoch lediglich aufgemalt waren. Abgesehen von den gedimmten Kronleuchtern spendeten Kerzen ein angenehm dämmriges Licht, deren Flackern sich in den goldenen Lettern der Speisekarten auf den Tischen widerspiegelte. An einigen der Tafeln, die allesamt mit schwarzen Tüchern bedeckt waren, hatten sich bereits Geschäftspartner niedergelassen, angeregt diskutierend. Die meisten von ihnen waren genauso gekleidet wie Alexander, Frauen waren nur drei anwesend, die mit ihren Begleitungen an der längsten Tafel direkt neben der Theke saßen. Ein Kellner mit schwarzer Schürze stand bewegungslos mit auf dem Rücken verschränkten Armen dahinter, die Augen stoisch auf die gegenüberliegende Wand ausgerichtet.
Unter dem allgemeinen Geräuschpegel der leisen Gespräche und Charts-Musik aus unsichtbaren Lautsprechen zog Alexander einen Stuhl für Moore zurück und glitt dann selbst auf die Sitzbank an der Wand, mit freiem Blick auf den gesamten Raum. Das hier war nicht das Ambiente, in dem er normalerweise nachforschte, abgesehen davon, dass er ohne die Kontakte der CIA niemals hier hereingekommen wäre. Und obwohl er sich hier wesentlich besser einfügte als in schmierige Pubs, fühlte er sich unwohl zwischen den Anzugträgern, die vermutlich sogar anfällig für ausweichende Worte waren. Eigentlich könnte er hier genau in seinem Metier sein, aber etwas an der Atmosphäre störte Alexander. Vielleicht war es auch einfach Moore, deren Auftreten genauso falsch wirkte wie ihre Namen.
„Ich kann mich einfach nicht entscheiden zwischen der Spinatlasagne und der Tagliatelle mit Lachs!" Alexanders Aufmerksamkeit schnappte zu seiner Gegenüber zurück, die scheinbar interessiert die Speisekarte studiert hatte. Ihre dunkel geschminkten Lippen waren zu einem leichten Schmollen verzogen, aber ihre Augen funkelten. „Magst du nicht die 26 nehmen?"
Schmunzelnd schüttelte Alexander leicht seinen Kopf und ließ seine langen Finger dann selbst kurz über den Rücken der Menükarte wandern, bevor er sie aufschlug und rasch die gewünschte Nummer suchte. „Ich bin kein Freund von Lachs", zog er seine Augenbraue leicht hoch, „Und eigentlich hatte ich vor, eine Pizza zu bestellen." „Wir sind so oft beim Italiener, da kannst du auch mal auf Pizza verzichten." Moore legte leicht ihren Kopf schief, worauf sich eine ihrer Strähnen im leeren Weinglas vor ihr verfing. „Unser Partner trägt eine grüne Fliege, hat dünne, braun gefärbte Haare und in etwa die Statur Alpins." Noch bevor Alexander blinzeln konnte, hatte sich ein strahlendes Lächeln auf ihren Lippen ausgebreitet: „Ich würde doch so gern bei dir kosten!"
„Dann kann ich dir das natürlich nicht abschlagen", antwortete er automatisch, bevor die Rädchen in seinem Kopf begannen, auf Hochtouren zu laufen. Und sein Blick suchend den Raum durchwanderte. Doch der Veranstalter des Abends versteckte sich nicht gerade, und Alexander musste sein Bein krampfhaft stillhalten, als sein Blick auf den beleibten Fremden fiel, der sich zielstrebig seinen Weg zwischen den Tischen hindurchbahnte – direkt auf sie zu.
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