Kapitel 18

Alexander stand hoch aufgerichtet vor dem Regal neben seinem Fernseher, das ausnahmsweise frei von nach Farbe und geographischem Herkunftsort sortierten Whiskeyflaschen war. Seine Alkoholsammlung hatte auf dem niedrigen Couchtisch Platz gefunden, der beinahe zu klein war für die achtzehn Flaschen. Die frühe Nachmittagssonne, die durch das Fenster mit den hochgezogenen Rollläden schien, ließ die bunten Gläser blitzen wie ein Haufen von Edelsteinen.
Alexander lächelte entspannt und klemmte sich den Staubwedel zwischen seine Handgelenke, die wegen der beiden Gipse doppelt so breit waren wie normalerweise.

Die Ruhe fiel von ihm ab, sobald er auch nur zweimal über das abgeräumte Regal gestrichen hatte. Abgesehen davon, dass die ungewohnte Bewegung seine Hände zum Schmerzen brachte und der aufgewirbelte Staub ihn husten ließ, unterbrach auch eine leicht blecherne Stimme die angenehme Stille in seiner Wohnung: „-ander! Alexander! Hörst du mir überhaupt zu?!"

Er erstarrte mitten in der Bewegung und verdrehte genervt die Augen, bevor er resignierend in die Küche eilte. Auf der weißen Theke linkerhand lag sein Festnetztelefon, wo der Anruf seiner Mutter auf Lautsprecher gestellt war: „Mein Junge, ich-"
„Schon gut, Mom, ich bin da. Alles gut." Leise seufzend ließ er sich auf einen der hohen Stühle vor seinem dunklen Esstisch fallen, der einen ästhetischen Kontrast zu dem ansonsten hell gehaltenen Raum bildete.

„Alexander, das Leben ist zu kurz, um deine arme Mutter zu ignorieren", beschwerte sich das Telefon. Die gebürtige Rumänin rollte auch nach Jahrzehnten in Amerika das „R" noch, und der Journalist sah förmlich vor dem inneren Auge, wie sie unzufrieden die Lippen schürzte. „Ich habe es heute erst wieder an deinen Freesien gesehen, sie sind schon wieder verblüht und ich musste sie wegwerfen. Das tat mir im Herzen weh, immerhin sind das die ersten Blumen, die ich seit zwei Jahren von dir bekommen habe. Deine Schwester ist da anders, sie-"
„Mutter!", unterbrach er sie, die Laune jetzt vollständig im Keller, „Das reicht jetzt." Wenn er sich heute auch noch einen Vortrag über seine perfekte jüngere Schwester anhören musste, würde er gleich wieder ins Bett gehen. Oder seinen Alkoholvorrat dezimieren.

Als die Rumänin schon wieder zum Protest ansetzen wollte, schob er eilig noch hinterher: „Ich habe noch einen Ruf reinbekommen, ich muss nachschauen, ob der wichtig ist. Ich komme auch bald wieder zu dir rüber, ehrlich! Te iubesc." Er hoffte, dass er sich nicht so verzweifelt anhörte, wie er sich fühlte, auch wenn seine Worte viel zu hastig gewesen waren. Seine Mutter zögerte tatsächlich noch einige Sekunden, bevor sie mit einem Seufzen auflegte, und Alexander ließ seinen Kopf auf seine Unterarme sinken.

Doch gegenüber seiner Mutter log er nicht, der Nachrichten-Button seines Telefons blinkte tatsächlich rot auf. Langsam, als würde er die Last des Himmels auf den Schultern tragen, erhob er sich von seinem bequemen Stuhl und streckte seinen den Finger nach der richtigen Taste aus. Seine Muskeln zitterten, aber er biss die Zähne zusammen und rief den Anrufbeantworter ab. Er hatte in den letzten Tagen gelernt, seine Hände so minimalistisch wie möglich einzusetzen, immerhin waren die ersten drei Finger auf jeder Seite zusammengegipst worden.

„Hey Peyton, hier Russell von der Parkaman. Ich wollte mal fragen, wie es mit der Story aussieht? Ich will ja echt keinen Stress machen, aber wir brauchen die bis übermorgen. Schönen Abend dir noch."
Der Journalist schloss halb die Augen und ließ die Stirn gegen einen der Hängeschränke direkt vor ihm sinken. Das durfte doch nicht wahr sein... Parkaman war die einzige Zeitung in seinem Umfeld, die im Voraus zahlte und Interesse an nicht ganz legal recherchierten Berichten zeigte. Er war auf die Zusammenarbeit angewiesen, hatte diesmal aber völlig verdrängt, dass noch ein Bericht ausstand. Und sein Lohn war bereits größtenteils in die Zugfahrten nach Brownsville oder die Kosten der dortigen Clubs und Pubs geflossen.

Zumindest war es seine Spezialität, selbst Worte zu produzieren, das machte er um Welten lieber, als dem Redefluss seiner Mutter zuzuhören. Der Journalist schlenderte wesentlich langsamer als zuvor wieder in sein Wohnzimmer zurück, um sich vorsichtig auf dem Sofa niederzulassen. Sein grauer Laptop auf der Seitenfläche hob sich kaum von seinem Untergrund ab, aber Alexander hätte ihn auch im Schlaf hochfahren können. Nach der Gesichtserkennung entsperrte sich das Macbook von selbst, und ein leeres Worddokument öffnete sich.

Alexander sog tief die Luft ein, hatte seine favorisierte Schreibposition eingenommen, wo sich auf seinem Sofa bereits eine flache Mulde gebildet hatte. Der Geruch von Holz und einer leichten Whiskeynote lag in der Luft, ganz so, wie er es liebte. Seine Füße in dunklen Socken lehnten an der Kante des niedrigen Couchtisches vor ihm, und seine Zehen touchierten eine Flasche aus Islay.
Seine Fingerspitzen strichen kurz über die glatten Tasten, die so wunderbar leicht konkav gehalten waren, und schließlich kam sein linker Zeigefinger auf dem „S" zum Stillstand.

Und dann, als der Journalist seine Reise in die Vergangenheit beginnen wollte, wurde er schlagartig wieder an die Gegenwart erinnert. Der leichte Druck, der nötig war, um die Taste anzuschlagen, sandte bereits eine erneute Schmerzwelle durch seine Hände, und von der flinken Beweglichkeit seiner Finger war nichts mehr zu spüren.
Er konnte nicht schreiben.

Schwer atmend starrte er auf den leeren Bildschirm, auf dieses furchtbare weiße Blatt, dem er in seinen dunkelsten Zeiten bereits in Alpträumen begegnet war. Mit geweiteten Augen knurrte er auf, ohne jeglichen Zorn zu spüren – dafür hatte er nicht genug Energie. Es war das Wimmern eines verwundeten Tieres, wehrlos seinen Jägern überlassen, und Alexander war mindestens ebenso verzweifelt. Von seinen aufsteigenden Emotionen ergriffen schlug er seinen eingegipsten Unterarm über die Tastatur, und wieder kam ein Schmerzlaut über seine Lippen.

Für einen Moment war er gefangen in sich selbst, in der Fassungslosigkeit darüber, seine Macht verloren zu haben. Über seine Tasten redete er ebenso gewandt wie über seine Lippen, und er fühlte sich unangenehm an die Stunden erinnert, die er geknebelt im Lager der Mafia verbracht hatte...
Beinahe war Alexander erleichtert, als ein schriller Ton ihn aus seiner Versunkenheit riss.

Er realisierte erst, dass er aufgesprungen war, als er seine eigene Gestalt im Spiegel an der Flurwand vorbeieilen sah, und kurz vor dem Wohnungseingang hielt er inne. Er war vorsichtig geworden, was sein Alltagsleben betraf, und keiner seiner Vertrauten hatte sich angekündigt. Sein Blick huschte über den Schuhschrank aus Eichenholz, in dessen obersten Schubfach noch eine vergessene Pistole lag, aber bei dem Gedanken musste Alexander über sich selbst verächtlich schnauben. Er konnte momentan kaum seine Zahnbürste heben, wie hätte er da einen Abzug betätigen sollen?

Er hätte ahnen sollen, dass er auch bewaffnet keine Chance gegen seinen Besuch gehabt hätte.
„Hat deine Mom dir nicht beigebracht, dass man eine Dame nicht warten lässt?", erklang die vertraute, etwas zu tiefe Stimme auf der anderen Seite der Tür. Der Journalist schloss die Augen, sobald sie das erste Wort gesagt hatte, ließ sich von ihren Tönen förmlich überspülen. Doch er bekam das Lächeln, das sich auf seinem Gesicht ausgebreitet hatte, wieder unter Kontrolle, sobald er mit dem Ellenbogen nach der Klinke ausgeholt hatte.

Und dann stand sie wieder vor ihm, nach fast einer Woche, die Nasenflügel leicht geweitet und das Gewicht ungeduldig auf ihr rechtes Bein verlagert. Sie trug eine schwarze Cargohose und eine weite, geöffnete Jacke über einem Top, perfekt, um mögliche Waffen zu verbergen.
Alexander zog die Augenbrauen hoch, sein Ausdruck wieder die gewohnte makellose Kühle. „Wo genau siehst du hier eine Dame?"

Moore machte eine ruckartige Bewegung mit dem Kopf, schob mit blitzendem Blick ihr Kinn vor. „Ich kann auch gleich wieder gehen. Und das hier nehme ich mit." Sie hob verdeutlichend ihren rechten Arm, worüber zusammengefaltet ein dunkelblaues Kleidungsstück lag, das sicher nicht der Agentin gehörte.
Alexanders Augen weiteten sich.

Bevor er reagieren konnte, drängte Moore sich an ihm vorbei, aber nicht, ohne ihm seinen Mantel an die Brust zu drücken. Ungläubig starrte er auf den dunkelblauen Stoff in seinen Händen, das vertraute Material so sanft an seinen Fingerkuppen, die aus dem Gips herausragten...
Er warf ihr einen Blick hinterher, doch seine Personenschützerin war längst außer Sichtweite. Langsam senkte Alexander seinen Kopf, presste die Nase in seinen Mantel, der ihn zuverlässig wie immer vor der Außenwelt schützte. Seltsamerweise roch er nach dem gewohnten Waschmittel, und diesmal konnte der Journalist das Lächeln nicht zurückhalten.

Er folgte Moore ins Wohnzimmer, die es sich bereits auf dem Sofa gemütlich gemacht hatte. Natürlich hatte sie nicht einmal daran gedacht, ihre Schuhe auszuziehen, aber Alexander sagte nichts mehr dazu. In einer geübten Bewegung, die nicht einmal die Verbände behindern konnten, warf er seinen Mantel an den Haken neben der Tür, und murmelte in Richtung der Agentin ein leises „Danke".

Moore aber hatte sich in sein Worddokument vertieft, in dem nichts zu lesen war außer „vfdvöpl.o", und sie zog sich das Macbook auf den Schoß.
Mit hochgezogenen Augenbrauen ließ Alexander sich neben sie fallen, aber sie schenkte ihm nicht einmal einen Seitenblick. „Diktiere", war das Einzige, was sie von sich gab. Mit gezielten Klicks löschte sie den Buchstabensalat, ließ ihre Finger dann auf den Tasten ruhen, abwartend.

Alexander brauchte eine Weile, bis er begriff, was sie von ihm wollte. Und dann brauchte er noch einmal doppelt so lang, bis er die Emotionen im Griff hatte, die in ihm aufstiegen. Er öffnete den Mund, setzte zum Sprechen an, und brach sofort wieder ab. Moore regte sich nicht um Millimeter, schien nicht einmal zu atmen, als er mit sich selbst kämpfte.

Er drehte seinen Kopf, irrte mit den Augen im Raum umher, bevor der beruhigende Anblick seines Mantels am Haken seinen Blick auffing. Er holte tief Luft, und als er erneut zum Sprechen ansetzte, perlten die Worte über seine Lippen wie ein Bergbach über Felsen und Wurzeln.
„Sie hatte diesen Ausdruck in den Augen, bei dem ich mich fragte, wie viele Menschen sie wohl schon getötet haben muss. Und dann lächelte sie und ich realisierte: Sie weiß es vermutlich selbst nicht mehr."

Er hielt kurz inne, als das leise Klacken der Tastatur den Raum erfüllte, hatte den Blick auf ihre Finger gerichtet, die wie züngelnde Flammen von Buchstabe zu Buchstabe sprangen.
Diese hypnotisierenden Bewegungen zogen ihn in den Bann, beruhigten in auf eine Art und Weise, wie es nicht einmal Worte vermocht hätten. Er atmete tief aus, lehnte sich zurück, und beobachtete seine Personenschützerin bei einer Aufgabe, die nicht in ihrem Arbeitsvertrag stand. Sie waren beide nicht perfekt, aber sie ergänzten sich so, dass sie unschlagbar wurden.

„Ich brauche dich", sagte Alexander.
Moore lächelte.

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