Kapitel 10
Zielstrebigen Schrittes durchquerte Alexander seine Wohnung, die hellgrauen Dielen unter seinen schwarzen Tennissocken knarzten leise. Den Mantel hatte er sich bereits übergeworfen, und im Vorbeigehen klaubte er den Autoschlüssel aus der kleinen Holzdose auf der Kommode links im Flur. „Moore?", rief er über seine Schulter, ohne sich umzudrehen, und angelte nach seinen Boots im niedrigen Schuhschrank direkt neben der Haustür. Irgendwo weiter hinten in der Wohnung wurde eine Klinke hinuntergedrückt, aber Alexander schenkte den sich nähernden Schritten nicht einmal einen Blick, als seine geschickten Finger die Halbstiefel zuschnürten.
„Was wird das hier?"
Erst jetzt sah er auf, in Moores Richtung, die mit verschränkten Armen mitten im Flur stand. Ihr Stand war so selbstbewusst und fest, dass es beinahe wirkte, als seien ihre kleinen Füße mit dem Boden verwurzelt, und ihre schlanken Beine in einer enganliegenden Leggins waren die unbrechbaren Stämme eines jungen Baumes. Biegsam, ja, aber niemals zu zerstören. Ihr dunkles Top saß ebenfalls wie angegossen, warf nicht eine einzige Falte, die in einem möglichen Kampf gestört hätte. Selbst jetzt, wo keine Gefahr von außen drohte, war sie auf alles vorbereitet.
Auf alles abgesehen von Alexander.
„Wir besuchen meine Mutter", eröffnete er ihr kurz angebunden, „Mach' dich fertig." Mit einer hochgezogenen Augenbraue blickte er zu ihr hoch, fixierte sich dann aber rasch wieder auf seine Schuhe, weil Moores Anblick von unten weitaus furchteinflößender war. Stockend räusperte Alexander sich kurz, brauchte einen Moment, bis er sich wieder gefangen hatte. Der Agentin gelang das wie üblicherweise besser: „Wir beide gehen nirgendwohin."
Ihre Stimme war fest und klar, aber längst nicht so schneidend wie die des Journalisten, als er mit einem Knie noch auf dem Boden kurz erstarrte. „Richtig. Wir fahren."
Mit einer fließenden Bewegung stand er auf, pures Selbstbewusstsein ausstrahlend, jetzt, wo er Moore wieder überragte. Seine Augen sprühten Funken, aber ansonsten bewegte er sich nicht um Millimeter. „Mach' dich fertig."
Auch im kalten braunen Blick der blonden Frau blitzte es, als sich ihre Nasenflügel blähten und sie dann ruckartig die oberste Schublade der Kommode öffnete, um eine ihrer Waffen herauszuholen. Ohne hinschauen zu müssen, band sie sich mit geübten Fingern den Pistolengürtel um und wandte sich wieder Alexander zu: „Soll ich jetzt auch noch dich fertig machen oder reicht dir das?"
„Nein." Er warf ihr ein süffisantes Lächeln zu und drehte dann den Schlüssel der Wohnungstür, zufrieden wahrnehmend, dass ihre Augen kurz zum Eingang flatterten. „Mit Verlaub, meine Mutter würde dich so nicht einmal in den Vorgarten lassen."
„Nur gut für deine Mutter, dass sie weder mich noch dich heute sehen wird." Moore setzte sich in Bewegung, doch Alexander war darauf vorbereitet gewesen und zog kurzerhand die Tür auf, eilig ins Treppenhaus tretend. Doch auch er kam nicht einmal bis zur ersten Stufe, bevor die plötzlich eiskalte Stimme der Personenschützerin ihn innehalten ließ: „Willst du wirklich, dass ich dich bewusstlos schlage und wieder zurück in die Wohnung schleife?"
Auf dem Treppenabsatz drehte er sich um, und ihre Gestalt, die gegen das Flurlicht fast völlig schwarz wirkte, fing sofort seine uneingeschränkte Aufmerksamkeit ein. Sollte er auch nur einen unbedachten Schritt von ihr weg wagen, würde sie ihre Drohung wahr machen, ohne mit der Wimper zu zucken.
„Was soll das, Alec? Warum willst du dich jetzt unbedingt einem unnötigen Risiko aussetzen, wenn du beim kurzen Trip ins Café – der nur zur Stärkung unserer Tarnung diente – schon Theater gemacht hast?" Ihre Klangfarbe war noch immer deutlich gereizt, und es hatte sich ein leises Fauchen in ihren Unterton geschlichen, dass ihm hohen Treppenhaus leicht nachhallte.
Für einen kurzen Moment weidete sich Alexander noch am Ärger in ihrem Ausdruck, an ihrer Ungeduld, dass sie ausnahmsweise nicht alle Pläne kannte. Sie sollte wissen, wie er sich fühlte, wenn sie ihn stets im Dunkeln tappen ließ. Dennoch ließ er der Schadenfreude nicht die Überhand, ihm war klar, dass Moore die Zügel des Gesprächs in den Händen hielt.
„Meine Mutter hat Geburtstag. Ich habe sie seit mehreren Wochen nicht gesehen."
Die unerbittlichen Augen der Agentin starrten ihm entgegen, gute anderthalb Meter Abstand zwischen ihnen, weil sie noch immer im Türrahmen verharrte. Ein Großteil ihrer Miene lag im Schatten, aber Alexander konnte sich auch so denken, dass ihre Züge hart blieben. „Ich warte noch immer auf einen lohnenswerten Grund."
Er verzog seine Lippen, und mit etwas Mühe gelang es ihm, ein sanftes Lächeln anstelle einer wölfischen Grimasse aufzuziehen. „Liebe", war seine einfache Antwort, und seine Augen suchten Moores Blick. „Ich liebe meine Mutter und sie liebt mich. Wir wollen füreinander da sein."
Jeder seiner Gesprächspartner hatte üblicherweise Alexanders gesamte Aufmerksamkeit, damit ihm auch das kleinste Signal nicht entging. Wenn er sich sonst aber darauf konzentrieren musste, zog Moore seinen Fokus förmlich an wie ein schwarzes Loch – und er war der sterbende Stern.
Er bemerkte sofort, als sie ihren Mund zum Protest öffnete, aber mit einer Intensivierung seines Blicks unterband er ihren Versuch. Zumindest für die Sekunde, die ihm ausreichte, seinen Kopf leicht zur Seite zu neigen und selbst seinen Angriff zu starten: „Kannst du lieben, Moore?"
Wenn sie irritiert war von der Frage, zeigte sie es in keiner Regung. Ihre Arme ließ sie jetzt zwar locker an ihre Seiten fallen, aber der scharfe Ausdruck in ihren Augen verriet Alexander, dass sie die Geste nicht aus Resignation tat. Vermutlich wollte sie verhindern, dass sich ihre Muskeln verspannten und sie in einem möglichen Kampf eingeschränkt wäre.
„Ich liebe Wenige, und noch Weniger verdienen meine Liebe." Ihre Stimme war ruhig, mit scharfen Ecken und Kanten, aber völlig kontrolliert. Alexanders Miene leuchtete auf, als die Worte an sein Ohr drangen, denn über diesen Satz hätte er stundenlang debattieren können.
„Es ist unklug, Menschen zu lieben, die deine Liebe nicht verdienen." Der rechte Mundwinkel des Journalisten hob sich ein wenig, aber sein Ton war frei von jeglichem Urteil. Er durfte Moore nicht in die Ecke drängen, sonst würde sie ihn zur Not tödlich verwunden, wenn sie sich wieder befreite. Doch seine Kontrolle behielt er nur bis zu ihrem nächsten Satz bei: „Mag sein..." Auch die Agentin verzog ihren Mund jetzt zu einem kalten, freudlosen Lächeln. „Aber es ist gefährlich, sich nicht selbst zu lieben. Ich handle lieber unklug als gefährlich."
Alexander knurrte unbewusst, als er einen halben Schritt auf sie zutrat, lauernd seinen Kopf vorreckte. Er war ein Wolf, und sie war... Er stockte für einen Moment. Nicht einmal ihm fiel eine Metapher ein, die ihre Schönheit und ihre Bedrohlichkeit einfangen könnte. Er hatte nicht vor, sich auch nur von einem dieser Aspekte abschrecken zu lassen.
„Manchmal sind Gefahren nötig, um zum gewünschten Ziel zu kommen." Der Journalist sprach langsam, wählte jedes Wort mit bedacht, aber sein Rhythmus war doch so fließend, dass die Sätze ganz natürlich aus ihm hervorströmten. „Unkluges Handeln aber könnte bedeuten, dass du dir selbst nicht treu bleibst. Dir ist Loyalität wichtig, Moore. Was ist mit der Loyalität dir selbst gegenüber?"
Als er tief Luft holte, bebte sein Brustkorb kaum merklich vor nur schwer zu unterdrückendem Triumph. Die Personenschützerin ihm gegenüber zeigte kaum eine Reaktion, aber der Daumen ihrer rechten Hand berührte jetzt ihren Mittelfinger – eine unbewusste Bewegung, als würde sie sich nebenbei vergewissern müssen, dass sie noch im Hier und Jetzt war.
Die Frau, die in Rollen schlüpfen konnte wie in Kleidungsstücke, hatte ihr bloßes Spiegelbild wohl selbst aus den Augen verloren.
„Ich werde meine Stärke nicht für meinen Stolz opfern", sagte Moore das Ausweichendste, was auch Alexander in diesem Moment eingefallen wäre.
„Nun, meine Mutter verdient meine Liebe", kehrte er bereitwillig wieder zum ursprünglichen Thema zurück und warf ihr einen aufrichtigen Blick zu. Sobald sie ihre Augen verdrehte, wusste er, dass er gewonnen hatte.
„Du brauchst ein gelbes Accessoire, ich ziehe mein Sommerkleid an", kommentierte sie knapp, schon halb im Umwenden. „Und ruf' ein Taxi, wenn deine Familienmitglieder dir auch nur entfernt ähnlich sind, überlebe ich das nur mit Alkohol."
Alexander musste schmunzeln, sobald Moore ihm den Rücken zugewandt hatte und die Haustür hinter ihr ins Schloss gefallen war. Es war beinahe niedlich, wie sie sich an die Spitze ihrer Unternehmungen setzte, sobald sie auch nur eine grobe Richtung als Wegweiser erkannte.
Doch nur ein Narr hätte sich ihrem Offizierston verweigert, und es tat ihm nicht weh, die Nummer von Yellow Cab aus dem Internet zu suchen und ein Taxi zu bestellen.
Zumindest vorerst nicht.
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