Kapitel 1
Stille hat viele Worte.
Sie kann dröhnend sein, ein Knistern in der Luft, angehaltener Atem vor der Übermacht des Entsetzens. Die Ruhe vor dem Sturm.
Sie kann auch angenehm sein, sanftes Streicheln der stummen Atmosphäre, wenn nur Gefühle sprechen... Aber diese hier war von der schmerzhaften Art.
Er atmete flach, versuchte vergeblich, den Schmerz durch Bewegungslosigkeit zu verdrängen. Er wusste nicht einmal, von welcher Stelle seines Körpers das heftige Pochen kam. Oder eher, von welcher Stelle er keine Schmerzreize empfing.
Seinen linken Arm, irgendwo unter seinem Körper, spürte er nicht mehr. Die Seite, auf der er lag, war vom harten Untergrund völlig verspannt. Und dann war da dieses Rauschen... Das Rauschen seines eigenen Blutes in den Ohren, das sekündlich anschwoll zu einem reißenden Strom, der drohte, ihn wegzuspülen. Er trieb hilflos auf den Wogen, die auf ihn einhämmerten wie Fäuste aus Wasser.
Trotz seiner geschlossenen Lider war es viel zu hell. Die hellroten Lichtpunkte vor seiner Sicht schienen direkt in seine Nerven zu stechen, brachten ihn dazu, die freie Rechte schützend über seine Augen zu legen. Das lief nur nicht ganz, wie geplant. Als er orientierungslos seine Hand hob, stießen ihre Knöchel hart gegen etwas Hölzernes, und zusätzlich zum Schmerz ließ ihn das dumpfe Geräusch die Miene verziehen.
Resigniert schlug Alexander die Augen auf – und bereute es noch in derselben Sekunde.
Verdammt, war das hell. Sein gesamter rechter Gesichtsbereich wurde von einem massiven Eichenholztisch geblockt, aber das, was er zwischen dessen Beinen hindurch sehen konnte, war Licht. Die Sonnenstrahlen malten grausame Muster in die dicke Luft des Pubs, die Staubkörnchen tanzten darin wie winzig kleine Explosionen.
Ein Pub, ja. Jetzt erinnerte er sich.
Stöhnend schwang Alexander seine Beine nach vorn und setzte sich auf, mit den Fingern die Tischkante vor ihm umklammernd, weil er sonst geradewegs auf den gräulichen Planken des Bodens gelandet wäre. Sein Kopf strafte ihn mit erneutem Schmerz, und er musste sich zusammenreißen, nicht zu schreien. Was vorher Wellen gewesen waren, türmte sich jetzt zum Tsunami auf, der ihn erbarmungslos ertränkte.
Blind tastete er unter den Tisch, streifte das vertraute kühle Leder, hastig nach dem Reißverschluss der Tasche suchend. Mit zusammengekniffenen Augen fischte er die Tablettenpackung heraus, hatte Schwierigkeiten, die kleinen Pillen mit zitternden Fingern aus ihren knisternden Hüllen zu pressen. Dann landeten sie endlich in seiner Handfläche, und ohne zu zögern schluckte er zwei Aspirin ohne Wasser.
Zwanzig Minuten.
Er würde einfach zwanzig Minuten hier sitzenbleiben, auf der Eckbank, die ihm als Schlafplatz gedient hatte, und sich erst wieder bewegen, wenn die Tabletten wirkten. Träge platzierte er seine Ellenbogen auf der Tischplatte, einen müden Seitenblick auf seine gerötete linke Hand werfend, und stützte den Kopf dann in seine Finger. Nur am Rande bekam Alexander mit, dass auf dem Ärmel seines Mantels ein etwa bierdeckelgroßer Fleck prangte, dem Geruch nach von einer alkoholischen Flüssigkeit. Wie viel hatte er bitte letzte Nacht getrunken?
Es war nicht ungewöhnlich, dass man Alexander in Pubs fand, vor allem in den kleinen schmierigen, wo die Barkeeper nur in den seltensten Fällen ein Gesundheitszeugnis hatten. Er, ganz der charismatische, dunkelhaarige Bildungsbürger, wirkte mit seinen blank polierten schwarzen Boots und dem marineblauen Mantel hier oft fehl am Platz – aber hier schlugen die heißesten Storys sich gegenseitig die Zähne in den Hals. Und ohne seine elegante Jacke verließ er nur selten das Haus, war sie doch sein Markenzeichen ähnlich wie das Sherlock Holmes' – nur war seines weitaus zivilisierter. Und während der Detektiv Verbrecher verfolgte, war Alexander auf der Jagd nach deren Geschichten. Jeder vernünftige Mensch würde einen Psychopathen in einen Raum sperren und die Polizei rufen, wenn er denn die Gelegenheit dazu hätte. Alexander hatte sich bereits einmal mit einem Psychopathen in einen Raum gesperrt und ein Interview mit ihm geführt.
Er war Journalist, der sich weder auf das Alltagsleben noch auf irgendwelche Berühmtheiten fokussierte, sondern auf den Untergrund der Großstädte. Die Anarchien der Gesetzlosen, lauernden Gefahren in den Schatten, die allumfassenden Netzwerke der Spinne „Gewalt", die unzählige unbedeutende Insekten mit ihren klebrigen, tödlichen Fäden umsponnen hatte – das war Alexanders Welt, die er aus sicherem Abstand wie durch ein Fernrohr betrachtete.
Er hatte bereits drei Drogenhändler der Öffentlichkeit zum Fraß vorgeworfen und die Biografie eines Menschenhändlers verfasst, Personen getroffen, die ihn ohne zu zögern in die ewige Umnachtung geschickt hätten. Aber Schaden hatte er noch nie genommen; er bewegte sich auf Gebieten, die eigentlich ein absolutes Tabu waren, malte mit seinen Berichten Bilder, die in öffentlichen Zeitungen sofort zensiert werden würden – einfach, weil er es konnte. Alexander hatte die einzigartige Fähigkeit, mit bloßen Worten jeden Ausweg zu finden, das Netz der Spinne in einen Kokon aus Rhetorik und Eloquenz zu wickeln, den sie nicht einmal bemerkte. Sobald er den Mund öffnete, hatte er bereits gewonnen.
Aber um die guten Storys niederzuschreiben, musste er sich natürlich daran erinnern... Weshalb er sich eigentlich selten vollends abschoss. Etwas Alkohol war nie fehl am Platz und lockerte seinen Protagonisten die Zunge, aber ein Blackout war für Alexander schlimmer als die Grippe. Seine Nasenflügel bebten vor Ärger über das fehlende Stück der letzten Nacht, weil er ganz genau wusste, was für ein fetter Fisch jetzt an seinem Haken hätte hängen können. Aber er hatte das arme Tier tot ins Meer zurückgeworfen.
Dumpfe Eindrücke zuckten durch seine Gedanken, Traumbilder von rauen Stimmen und metallischem Klirren – da war Papierrascheln und Stuhlscharren, Impressionen einer ganz normalen Bar des Nachts... Aber da war etwas in Alexanders Innerem, das sich drehte und wand bei diesen Erinnerungen, herausbrechen wollte aus seinem Käfig des Vergessens. Wenn er es doch nur packen könnte, von allen Seiten betrachten, dann würde er es fangen mit seinen Worten, festhalten in Geschichten, die es niemals wieder gehen lassen würden... Doch je mehr er versuchte, nach dem letzten Abend zu greifen, desto ferner entglitt ihm dieser Teil seines Gedächtnisses.
Alexander fluchte innerlich über sich selbst, genau wissend, dass ein Filmriss durch Alkoholkonsum kaum wieder zu füllen war. Er hatte den Herausgebern von Parkaman einen heißen neuen Bericht noch während der nächsten Woche versprochen, und als freiberuflicher Journalist war er auf das Geld angewiesen. Er hätte kaum Probleme, sich eine Festanstellung zu suchen, aber Alexander hatte sich bewusst dagegen entschieden. Die meisten seriösen Zeitungen würde vermutlich seine Vorgehensweise ablehnen, obwohl sie manchmal die einzig zielführende war. Und er war zu stolz, sich feststehenden Regelungen anzupassen, würde Geringschätzung gegenüber seiner einzigartigen Arbeit niemals zulassen.
Tief durchatmend legte Alexander jetzt beide Handflächen auf den fettigen Tisch vor ihm, sich vorsichtig seitlich von der Sitzbank schiebend. Er spürte zwar das regelmäßige Pochen seines Kopfes noch, aber der Schmerz wurde jetzt endlich vom Aspirin unterdrückt. Mit dem rechten Arm angelte er nach seiner hellbraunen Ledertasche, die mit allen lebenserhaltenden Maßnahmen versorgt war – neben Aspirin beinhaltete sie noch Notizbücher, ein Diktiergerät und ein zahlreiches Sortiment an Kugelschreibern –, und erhob sich dann langsam.
Als er Schritt für Schritt auf die Eingangstür des völlig ausgestorbenen Pubs zuging, hielt er den Blick auf den staubigen Boden gerichtet, um keine strahlenförmige böse Überraschung zu erleben. Die Fenster des kleinen Schankraums waren zwar verdreckt, aber für seinen Hangover war das Licht dennoch viel zu hell. Behutsam, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, schlängelte Alexander sich an den hölzernen Tischen und Stühlen vorbei, die viel bequemer aussahen, als sie eigentlich waren. Zum Schlafen waren sie auf jeden Fall nicht geeignet.
Abwesend hängte er sich den breiten Schultergurt seiner Tasche über den rechten Oberarm und wanderte mit der Hand gleich weiter zu seinem Nacken, den er sich über Nacht gezerrt haben musste. Die dichten Augenbrauen leicht zusammengezogen, massierte er mit seinen schlanken Fingern vorsichtig die verspannte Stelle und nahm sich vor, in Zukunft wieder mit dick gepolsterten Betten vorliebzunehmen. Wenigstens hatte seine linke Hand wieder den üblichen olivbraunen Ton angenommen, den er seiner rumänischen Mutter zu verdanken hatte.
An der schmalen Eingangstür angekommen, die etwas schief in den Angeln hing, musste Alexander letztendlich doch seinen Blick heben, aber er hielt die Augen halb geschlossen. Als die Tür ihm plötzlich entgegenkam, dauerte es einen Moment, bis er reagierte – beinahe wären die Holzplanken mit seiner sowieso schon lädierten linken Seite kollidiert. Einen unsicheren Ausfallschritt rückwärtsmachend, betrachtete er verwirrt die Gestalt, die groß und breit ihm Rahmen erschien.
Der Glatzkopf betrachtete ihn genauso verblüfft, die Hand mit dem Schlüssel des Pubs noch erhoben. Alexander erkannte den Mann vor ihm mit etwas Verzögerung als einen der Barkeeper von gestern Nacht, weshalb er ihm nur kurz zunickte und dann den Kragen seines Mantels hochschlug. Der Fremde bewegte sich nicht um Zentimeter, aber der Journalist brauchte ganz dringend eine ordentliche Portion Schlaf und eine Dusche, um wieder auf die üblichen gedanklichen Höhen zu kommen. Unachtsam drängte er sich an seinem Gegenüber vorbei, holte sich am Türrahmen dabei noch einen breiten Staubstreifen am Mantel – der hatte sowieso eine heiße Wäsche nötig – und trat dann in den hellen Septembermorgen hinaus. Obwohl Alexanders Gedanken sich sofort wieder um die schmerzhafte Licht- und Geräuschkulisse drängten, wusste er, dass er zumindest eine Erinnerung an den Pub klar behalten würde.
Der Gesichtsausdruck des Barkeepers gerade eben war von Überraschung sofort in eine bedrohliche Entschlossenheit umgeschwenkt.
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