Kapitel 1 - Das Medaillon
«Ausgeschlossen!», antworte ich mit erhobener Stimme. Meine Eltern schauen mich mit strengen Blicken an. «Ich dulde keine Widerrede und achte bitte auf deine Aussprache junge Dame.», ermahnt mich mein Vater und meine Mutter ergänzt bestimmt: «Es ist bereits entschieden; in wenigen Tagen werden du und Sir Peter vermählt werden.». Kaum merklich verengen sich meine Augen zu Schlitzen. Wenn ich mich jetzt mit ihnen anlege, kann es nur noch schlimmer werden. Ich bleibe also ruhig auf meinem Stuhl sitzen, während mich meine Mutter anlächelt und mir sachte über die rechte Wange streicht. «Glaub mir, eines Tages wirst du diesen jungen Mann lieben können.». Dieser Satz genügt, um meine bereits vorhandene Wut zum Kochen zu bringen. «Und warum hast du dann nicht James Norrington geheiratet? Ich kann nicht fassen, dass diese Worte gerade aus DEINEM Mund kommen, Mutter!», fauche ich sie an und ergänze dann: «Du hast keine Ahnung, was es bedeutet, seine Träume nicht leben zu dürfen!» Ich spüre, dass ich den Tränen nahe bin und stehe, so gut es eben mit einer langen Robe geht, in einer fliessenden Bewegung auf. Ohne ein weiteres Wort laufe ich rasch möglichst zur Tür hinaus.
Während ich über die grosse Wiese vor unserem Haus renne, kicke ich meine unbequemen, hohen Schuhe weg. Das Gras unter meinen Füssen zu spüren, tut unglaublich gut. Ich fühle mich frei wie ein Vogel, obwohl ich weiss, dass ich soeben meine Freiheit verloren habe. Mit beiden Händen halte ich meine Röcke hoch, sodass ich noch schneller laufen kann. Erst als ich den Rand der Klippe erreicht habe, beende ich meinen Lauf. Völlig ausser Atem blicke ich zum Horizont und über das blaue Meer. Die ersten Tränen kullern über meine Wangen, doch das stört mich nicht. Ich schliesse meine Augen und atme die salzige Luft ein. Wie sehr wünsche ich mir, dort draussen zu sein und die Welt zu entdecken. Ich würde mir ein Schiff kaufen, eine Crew anheuern und dann die sieben Weltmeere befahren. Von den Männern würde ich nichts wissen wollen, meine Liebe würde ganz allein dem Schiff und der weiten See gehören. Bevor ich mich noch ganz in meinem Traum verliere, lasse ich mich, wie ein Sack Kartoffeln, in das weiche Gras fallen. Damit ich das Meer trotzdem noch bewundern kann, rolle mich auf den Bauch und stütze mein Kinn auf meiner Hand ab.
Mein Name ist Victoria Turner. Ich bin die Tochter von Elizabeth Turner, der Herrscherin des südchinesischen Meers und Königin des hohen Rates, sowie von William Turner, dem Captain der Flying Dutchman – oder zumindest waren sie das einst. Ich seufze erneut. Wie kann eine solch grosse Leidenschaft nur plötzlich erlöschen? Von der mutigen Elizabeth und dem selbstlosen Will ist nicht mehr viel übrig; beide sind zu ernsten Landratten verkommen. Mein Bruder Henry lebt seit einiger Zeit mit seiner Gefährtin Carina zusammen – der Glückliche. Wieder kullern mir die Tränen hinunter. Es ist für mich unerklärlich, wie meine Eltern so werden konnten und vor allem, warum sie mir befohlen haben, vom Meer fern zu bleiben. Eigentlich sollte man meinen, dass gerade meine Eltern meine Träume verstehen, aber Fehlanzeige - statt Schwertkampf und Segelmanöver werde ich in Etikette unterrichtet.
Ich weiss nicht, wie lange ich schon daliege und das Meer beobachte, aber plötzlich höre ich näherkommende Schritte.
Vater: Darf ich mich zu dir setzten?
Ich: Würdest du gehen, wenn ich nein sage?
Vater: Nein.
Mit einer flüssigen Bewegung setzt er sich neben mich ins Gras und sieht mich an. In seiner rechten Hand hält er meine abscheulichen Schuhe. Wir sagen beide für eine lange Zeit kein Wort und schauen einfach nur hinaus auf das scheinbar unendliche Meer. Irgendwann halte ich jedoch die Stille nicht mehr aus.
Ich: Mutter hat dich geschickt, oder?
Vater: Victoria, hör mir zu...
Ich: Nein, Vater. Ich habe es satt zuzuhören. Mein Leben lang habe ich nichts Anderes getan als zuzuhören, nett auszusehen und dabei zu lächeln.
Vater: Und genau das wird sich nun auszahlen. Sir Peter ist wirklich ein aussergewöhnlicher Gentleman. Er wird dich auf Händen tragen und sich gut um dich kümmern. Glaubst du wirklich, ich würde mein kleines Mädchen einfach irgendjemand zur Frau geben?
Ich: Was ist, wenn ich nicht einen solchen Mann möchte? Wenn ich ihn nicht lieben kann?
Vater: Das wirst du bestimmt.
Ich: Und was ist mit meinen Träumen? Ich möchte die Kunst der Schifffahrt, des Schwertkampfes...
Vater: Victoria, du weisst genau, dass das Meer kein geeigneter Ort für eine junge Dame wie dich ist. Dort draussen lauern Unmengen von Gefahren und eine Frau an Bord eines Schiffes ist nicht mehr wert, als eine Flasche voll Rum - wenn überhaupt.
Ich: Aber ich bin nicht irgendeine Frau; ich bin EURE Tochter – das Meer fliesst praktisch durch meine Adern.
Vater: Du bist vor allem genau wie deine Mutter.
Ich: Sag so etwas nicht! Mutter hat keinen Funken Abenteuerlust mehr in sich. Sie ist eine Landratte, genau wie du!
Vater: So denkst du also von mir?
Ich: Ja! Ansonsten würden wir nicht seit Jahren auf dem Land festhocken.
Vater: ...Irgendwann wirst du die Gründe verstehen.
Mein Vater erhebt sich und streckt mir auffordern seine freie Hand entgegen. «Komm, deine Mutter macht sich bestimmt schon Sorgen.», sagt er mit einem aufmunternden Lächeln. Ich setzte mich auf und nehme seine Hand, um in dem Kleid besser aufstehen zu können. Mein Vater führt mich über die Wiese und zurück zu unserem schicken Haus.
Die letzten Tage sind meine persönliche Hölle auf Erden gewesen. Meine Mutter hat mich in unzählige Hochzeitsroben gesteckt, die Hochzeit organisiert und mich trotzdem keine Sekunde aus den Augen gelassen. Mein Vater arbeitet seit einigen Jahren in seiner eigenen Schmiede, wo er die besten Waffen weit und breit herstellt. Aus diesem Grund ist er auch selten zu Hause, sodass meine Mutter den Haushalt führt.
Heute werde ich meinen Verlobten kennenlernen. Die Tradition verlangt es, dass der Bräutigam seiner Gemahlin am Tag vor der Hochzeit eine kleine Schatulle schenkt. Ich habe keine Ahnung wofür ich das Kästen gebrauchen könnte, aber was soll's. Während ich mich geistig auf das unfreiwillige Zusammentreffen vorbereite, drapiert meine Mutter zum tausendsten Mal meine Robe.
Ich: Darf ich dich etwas fragen?
Mutter: Natürlich, was möchtest du wissen?
Ich: Wie hast du es geschafft, das Meer für immer aus deinem Leben zu verbannen?
Im ersten Moment bekomme ich keine Antwort von ihr. Sie legt bloss ihre Stirn in Falten und zupft weiter an meiner Robe herum. Als ich gerade etwas sagen will, beginnt sie doch noch zu sprechen.
Mutter: Als dein Vater zurückgekehrt ist, habe ich dem Meer den Rücken gekehrt und mich nie wieder umgedreht. Sämtliche Erinnerungen und Andenken an diese Zeit habe ich vernichtet. Mein Herz gehört meiner Familie, da ist kein Platz mehr für Abenteuer oder gar ein Leben auf dem Meer. Ich habe hier Verpflichtungen, genauso wie du.
Ich: Ja, aber...vermisst du es gar nicht? Nicht mal ein bisschen?
Mutter: Manchmal muss man in seinem Leben Prioritäten setzen und vor allem wissen, wo sein Platz ist. Meiner ist hier, an der Seite deines Vaters – und dein Platz wird ab morgen neben Sir Peter sein.
In diesem Moment betritt mein Vater das Haus. Liebevoll küsst er meine Mutter und mustert mich anschliessend von Kopf bis Fuss.
Vater: Du siehst wunderschön aus.
Mutter: Sir Peter wird hin und weg sein.
Meine Mutter stellt sich zufrieden lächelnd neben meinen Vater, der sofort seinen Arm um ihre schmale Taille legt. Doch der Frieden hält nur für wenige Sekunden an. Im nächsten Moment klopft es bereits dreimal an der Türe. Sofort löst sich meine Mutter von ihrem Ehemann, um unserem Gast die Tür zu öffnen. Mein Vater folgt ihr. Ein mulmiges Gefühl beginnt sich in meiner Magengegend auszubreiten. «Atmen, lächeln, schweigen...atmen, lächeln, schweigen...», sage ich leise vor mich hin und begebe mich dann ebenfalls, so elegant aussehend wie möglich, in den Eingangsbereich.
Mutter: Sir Peter, bitte treten Sie ein.
Sir Peter: Misses Turner, Mister Turner.
Vater: Darf ich vorstellen...unsere Tochter, Victoria.
Etwas unbeholfen mache ich einige Schritte auf den Unbekannten zu, um danach in einen leichten Knicks zu verfallen. Auch er verbeugt sich etwas vor mir. In seinen Händen hält er das sagenumwobene Kästchen. Ich spüre, dass sich in meinem Hals ein Kloss bildet. Erst jetzt wird mir bewusst, was hier eigentlich vor sich geht. Doch mir bleibt keine Zeit für Reue oder gar Tränen, so etwas schickt sich in solch einer Situation nicht. Ich reisse mich zusammen und richte mich anschliessend auf, um ihm das erste Mal direkt in seine braunen Augen zu sehen. Von diesem Moment an wusste ich, dass es keine Liebe auf den ersten Blick gibt. Dieser Mann vor mir ist mindestens 10 Jahre älter, trägt eine schreckliche, weisse Perücke und grässliche Kniebundstrümpfe. Meine Gesichtszüge beginnen sich schon zu verziehen, als er auch noch zu sprechen beginnt: «Victoria, es freut mich ausserordentlich Euch endlich kennenzulernen. Bitte, nehmt dies als Zeichen meiner ewigen Liebe und Treue.». Wie erstarrt blinzle ich ein paarmal schnell hintereinander und starre dann auf die Schatulle, welche er mir stolz entgegenstreckt. Erst als sich meine Mutter räuspert, erwache ich aus meiner Erstarrung. Verlegen nehme ich den braunen Gegenstand an mich und füge dann hinzu: «Habt vielen Dank...Sir Peter.». Noch nie in meinem Leben habe ich mich so unglücklich, so unwohl in meiner eigenen Haut gefühlt. Sir Peter wechselt noch zwei, drei Worte mit meinen Eltern und verabschiedet sich dann galant von uns.
Mutter: Und?
Ich: Und was?
Mutter: Gefällt er dir?
Ich: Was spielt das für eine Rolle? Wenn es dich wirklich interessieren würde, hättet ihr das nicht hinter meinem Rücken vereinbart und organisiert.
Mutter: Hast du eigentlich eine Ahnung, wie schwierig es ist, einen heiratsfähigen Mann für dich zu finden?!
Ich: Nein, weil ich nicht heiraten möchte! Ich will das alles hier nicht!
Mutter: Fein, dann bleibst du nun hier, während dein Vater und ich in die Stadt fahren, um Essen und Feiern zu gehen!
Ich: Prima! Viel Vergnügen wünsch ich euch!
Ohne eine Verabschiedung gehe ich mit grossen Schritten in mein Zimmer. Schlimmer kann es definitiv nicht mehr werden. Mit Tränen in den Augen reisse ich mir die Robe vom Leib und lege mich danach auf mein Bett. Kurze Zeit später höre ich, wie die Haustüre ins Schloss fällt.
Nach einiger Zeit bekomme ich etwas Appetit. Ich beschliesse, nach vorne in die Küche zu gehen und mir ein Stück Brot zu nehmen. Während ich esse, überlege ich mir, wie ich das Beste aus der aktuellen Situation machen kann. Mein Blick schweift über die verschiedenen Zimmertüren, während ich durch den Gang schlendere, und bleibt dann bei einer haften. Ich weiss, dass sich hinter dieser Türe eine Treppe verbirgt. Als kleines Mädchen bin ich diese einst hinuntergestiegen. Meine Mutter hat mich allerdingst erwischt, bevor ich unten angekommen bin. An diesem Tag hat sie mich heftig beschimpft, sodass ich nie mehr den Mut hatte, nach unten zu gehen – bis heute. Ich schnappe mir eine Kerze und öffne dann selbstbewusst die Tür, um den ersten Schritt auf die Treppe zu setzen.
Als ich unten ankomme, bin ich ziemlich enttäuscht. Überall stehen alte Holzkommoden, ein paar Schwerter, die bestimmt schon bessere Zeiten erlebt haben, liegen in einer Ecke und sogar eine Maus rennt mir quiekend über den Weg. Gedankenverloren stelle ich die Kerze auf einer Kommode ab und gehe anschliessend zu den Schwertern. Vorsichtig gleite ich mit meiner Hand entlang des Knaufs. Auch wenn das Schwert nicht das Neuste oder Schönste ist, kann ich nicht wiederstehen. Mit einem kleinen Lächeln auf den Lippen packe ich den Knauf und halte das Schwert hoch. Es ist schwerer als ich gedacht habe, aber das stört mich nicht weiter. Grinsend schwenke ich es einige Male um mich herum. Dummerweise ist das nicht ganz so einfach, wie ich es mir immer vorgestellt habe. Als ich einen Schritt rückwärts mache, verliere ich das Gleichgewicht und krache gegen die Kommode. Durch den Gegenprall erlischt augenblicklich meine kleine Kerze, sodass ich nun in völliger Dunkelheit auf dem Boden sitze. «Verdammt!», fluche ich leise vor mich hin. «Das darf doch nicht wahr sein.». In meinem Rücken macht sich ein leichter Schmerz bemerkbar, den ich aber versuche zu ignorieren. Ich bleibe jedoch zur Sicherheit trotzdem noch einen Moment sitzen; so können sich auch gleich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnen.
Als ich langsam die ersten Umrisse erkennen kann, bekomme ich das starke Gefühl, beobachtet zu werden. Langsam schaue ich mich im Raum um, beruhige mich jedoch zugleich mit dem Gedanken, dass vermutlich bloss die Maus wieder aus ihrem Loch gekrochen ist. Mein Blick verharrt in einer der hinteren Ecke. Ich frage mich, ob dieser Schatten schon immer dort gewesen ist. In meinem Kopf gehe ich rasch alles durch, was ich bei Licht erkennt habe. In diesem Moment setzt sich der Schatten in Bewegung. Mit grossen Schritten kommt er bedrohlich auf mich zu. Schnell versuche ich nach dem Schwert zu greifen, doch der Schatten stellt geschickt einen Fuss auf die stumpfe Klinge. Panik breitet sich in mir aus, als ich meinen Blick nach oben wandern lasse. Ein merkwürdiger Geruch von Meerwasser, vergammeltem Fisch und Algen liegt in der Luft. Ich kneife meine Augen etwas zusammen, in der Hoffnung, die Gestalt vor mir so besser sehen zu können – leider ohne Erfolg. Der Schatten bleibt Eins mit der Dunkelheit.
Plötzlich berührt etwas glitschiges, nasses mein Gesicht – nur ganz leicht, aber es reicht aus, dass ich mich zu Tode erschrecke und meinen Kopf beim Zurückweichen erneut an der Kommode stosse. Ich fluche, halte eine Hand an meinen Hinterkopf und schliesse meine Augen. Blöde Kommode! Schmerzerfüllt verziehe ich mein Gesicht und als ich meine Augen wieder öffne, ist die Gestalt verschwunden. Schnell richte ich mich auf und laufe, so schnell wie möglich, panisch nach oben.
Nachdem ich mir eine neue Kerze geholt habe, fasse ich all meinen Mut zusammen, um noch einmal nach unten zu gehen. Bevor ich jedoch die Kerze wieder auf die Kommode stelle, schaue ich mich nochmals in dem Raum um. Nichts deutet darauf hin, dass vor wenigen Minuten jemand bei mir gewesen ist. Habe ich mir das vielleicht alles nur eingebildet? Verwirrt stelle ich die Kerze ab und öffne die erste Schublade. Was ich dort entdecke, ist ziemlich unspektakulär: ein paar alte, vergilbte Damenkleider. Ich wühle ein bisschen durch die die Stoffe, finde aber nichts Aufregendes. Ein bisschen enttäuscht schliesse ich die Schublade wieder und öffne die Zweite. Auch hier fallen mir unzählige Stoffe in die Augen. Etwas lustlos wühle ich auch durch diese Schublade, schliesse jedoch auch jene wieder. Ich weiss nicht genau, was ich erwartet habe, aber bestimmt etwas Spektakuläreres als alte Kleidung. Warum hätten sie mich sonst von diesem Raum ferngehalten? Seufzend öffne ich die letzte Schublade. Eine sorgfältig gefaltete Hose mit einer passenden Jacke stechen mir sofort ins Auge. Sachte streiche ich über den schwarzen Stoff mit den goldigen Verzierungen. Das Material fühlt sich eher fest und schwer an. Neugierig hebe ich die Jacke aus der Schublade und halte sie, mit ausgestreckten Armen, vor mich hin. Sie ist etwas schmuddelig, aber trotzdem wunderschön. Behutsam schlüpfe ich in das schöne Kleidungsstück. Als ich mich zur Schublade bücke, um auch die Hose genauer anschauen zu können, weckt ein kleines Kästchen mein Interesse.
Ohne zu zögern, nehme ich die kleine Schatulle, welche mit Muscheln bestückt ist, in die Hand. Vorsichtig hebe ich den Deckel an, um ins Innere blicken zu können. Eine goldige Kette, mit einem grossen, flachen Anhänger liegt, auf einem kleinen Kissen gebettet, darin. Behutsam nehme ich das Medaillon aus dem Kästchen, sodass ich es genauer betrachten kann. In der Mitte ist ein Totenkopf abgebildet, welcher von kleinen Zeichen und Zacken umgeben ist. Mutter hat mir früher, als Vater noch Captain der Flying Dutchman gewesen ist, immer von ihren Abenteuern berichtet. Mir ist sofort klar, dass es sich bei dieser Kette um das sagenumwobene Aztekengold handelt. Allerdings dachte ich, dass sie dieses damals zurückgelassen hat, um alle zu retten.
In meinem Kopf dreht sich alles. Ich schliesse das Kästchen wieder, behalte das Medaillon jedoch in meiner Hand. Behutsam lege ich die Schatulle zurück an ihren Platz, ziehe die Jacke aus und verstaue auch diese wieder ordentlich. Ich schliesse die Schublade, nehme die Kerze in meine freie Hand und blicke mich noch einmal im Raum um, bevor ich die Treppe hochsteige.
In dieser Nacht mache ich kein Auge zu. Hellwach liege ich in meinem Bett und betrachte das Medaillon, welches ich mir um den Hals gehängt habe. Unzählige Fragen schwirren in meinem Kopf herum: Warum hat mich meine Mutter angelogen? Hat sie doch noch nicht mit allem abgeschlossen? Oder hat sie es als Andenken aufgehoben? Und vor allem: wer oder was ist mit mir dort unten gewesen?
Am nächsten Morgen weckt mich meine Mutter zeitlich. Ich schaffe es kaum, meine Augen offen zu halten, die schlaflose Nacht macht sich bemerkbar. Auch meiner Mutter ist mein verändertes Verhalten aufgefallen.
Mutter: Ist alles in Ordnung?
Ich: Ja, ich habe nur schlecht geschlafen.
Mutter: Bist du nervös?
Ich beisse mir auf die Zunge. Nervös trifft es nicht zu, eher traurig und hoffnungslos. Es fällt mir unglaublich schwer zu begreifen, dass ich in wenigen Stunden meine Freiheit und Träume für immer aufgeben werde. Niemals habe ich so wie meine Mutter werden wollen und nun bin ich auf dem besten Weg dazu. Aber anstatt all meine Gedanken und Gefühle laut auszusprechen, sage ich das, was sie hören will.
Ich: Ein wenig.
Mutter: Keine Sorge, alles wird gut. Du wirst schon sehen.
Mein Kleid ist sehr schlicht; weiss mit wenig Spitze und einer klassischen Korsage. Das Medaillon trage ich, gut versteckt, unter dem hochgeschlossenen Kragen. An der Tür wartet bereits mein Vater auf mich. Ich atme noch einmal tief durch, nehme den Blumenstrauss, welchen mir meine Mutter entgegenstreckt und lege den Schleier nach vorne. Nun gibt es kein Zurück mehr. Mein Vater öffnet die Tür und tritt, gefolgt von meiner Mutter, heraus. Ich blicke noch ein letztes Mal zurück, hole tief Luft und verlasse dann mein Zuhause.
Vor der Kirche warten vorfreudig bereits die Gäste. Die Meisten kenne ich nicht einmal. Ich klammere mich fester an den Arm meines Vaters, der mich nur beruhigend von oben herab anlächelt. Sir Peter steht fröhlich plaudernd mit seinen Eltern vor der grossen Kirchentreppe. Er sieht sogar in seinen festlichen Kniebundhosen noch immer abscheulich und vor allem alt aus. Mein Magen droht sich bei seinem Anblick umzudrehen und meine Kehle fühlt sich an wie zugeschnürt. Das Medaillon scheint mit jedem Schritt schwerer zu werden. Ich lege meine freie Hand an die Stelle, wo der Anhänger unter meinem Kragen liegt, in der Hoffnung, dass der Druck nachlässt – vergebens. Nervös blicke ich in die fremden Gesichter, die mich voller Erwartungen von oben bis unten mustern. Nur noch wenige Schritte trennen mich von meinem neuen Leben. Panik breitet sich in mir aus und kalte Schweisstropfen bilden sich auf meiner Stirn. Abrupt bleibe ich stehen. Mein Vater, der nun zurückgehalten wird, sieht mich fragend an. Ich schaue ihm in die Augen und weiss plötzlich ganz genau, was ich zu tun habe. Er schüttelt kaum merklich den Kopf und weitet seine Augen, als wollte er damit sagen: «Mach bloss keinen Fehler!». Bevor ich mich von seinem Arm löse, forme ich mit meinen Lippen schweigend ein «Verzeih mir.», dann lasse ich meinen Blumenstrauss fallen und renne um mein Leben.
Wie schon so oft kicke ich auch heute meine Schuhe im Laufen fort. Mit diesen Hacken kann sowieso kein vernünftiger Mensch normal gehen. So schnell ich kann, flitze ich aus dem kleinen Städtchen heraus und über die mir nur allzu gut bekannten Wiese. Ich höre, wie sie hinter mir meinen Namen mehrmals rufen, wie sie mich verfolgen und versuchen, zum Anhalten zu animieren – doch ich ignoriere sie. Wie ein Wirbelwind rase ich über die Wiese, den Klippen entgegen. Ich kann nicht schwimmen, aber lieber sterbe ich, als diesen widerlichen Mann zu heiraten.
Im letzten Moment halte ich noch vor dem Abgrund an. Mein Herz rast, als ich mich umdrehe und sehe, was für einen grossen Vorsprung ich mir geschaffen habe. Ich mache einige Schritte auf meine Verfolger zu und bleibe dort, völlig ausser Atem, stehen. Ein letztes Mal noch möchte ich das Gesicht meiner Eltern sehen. Sie beide rennen an der Spitze der Truppe und schreien, dass ich gefälligst keine Dummheiten machen solle – doch ich habe meine Entscheidung getroffen. Ich schliesse für einen kurzen Augenblick meine Augen, drehe mich dann um und sprinte auf den Vorsprung zu. Mit aller Kraft stosse ich mich an der Kante ab und springe meinem Schicksal entgegen.
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