Kapitel 46
Kaum hatte Daniel das Haus verlassen, ging Evelyn in das Badezimmer um sich ein wenig frisch zu machen. Sie hatte schon die ganze Zeit über einen Plan für die Zeit, in der Dan im Training war und auch wenn er eigentlich wollte, dass sie zuhause blieb, ging sie in seine Garage und begutachtete die zwei Autos die darin standen. Er hatte wie immer den Sportwagen genommen und hier parkten jetzt noch ein SUV und ein Chevrolet Impala. Sie entschied sich für den Chevy, weil sie Angst hatte, den größeren Wagen nicht fahren zu können. Im Moment zweifelte sie ohnehin daran, ob das so eine gute Idee war, doch Dan hatte ihr versichert, dass sie jeden seiner Wagen problemlos lenken könnte. „Wird schon schiefgehen", sprach sie sich selbst Mut zu, während sie sich auf den Fahrersitz des Wagens fallen ließ. Schnell stellte sie die Spiegel in die richtige Höhe und schnappte sich dann ihr Handy. „Reisebüros in Miami", tippte sie in die Suche und wählte aufgrund der Adresse das dritte Ergebnis. Dieser Straßenname kam ihr bekannt vor, weshalb sie sich dafür entschieden hatte. Sofort programmierte sie das Navigationsgerät und startete dann den Motor. Vorsichtig fuhr sie durch das offene Garagentor und war froh, als sie entdeckte, dass sich mit dem Rückwärtsgang gleichzeitig der Parksensor gestartet hatte. Augenblicklich fühlte sie sich ein wenig wohler in dem fremden Auto. Eve folgte der Stimme des GPS' bis sie an der gewählten Adresse ankam und suchte dort nach einem Parkplatz. Dabei fiel ihr in einer Seitenstraße ein Laden ins Auge, welcher ihr bekannt vorkam. Sansabi Tattoo. Na klasse. Konnte sie sich etwa deshalb an den Straßennamen erinnern? Plötzlich bereute sie es, dass sie genau dieses Reisebüro ausgesucht hatte. Um sich nochmal umzuentscheiden war es jedoch zu spät. Das wäre kindisch gewesen. Sie würde Sam schon nicht über den Weg laufen und selbst wenn, wäre sie erwachsen genug um die Tätowiererin einfach zu ignorieren. Obwohl sie nicht wusste wo dieses Selbstvertrauen plötzlich herkam, streckte sie das Kinn etwas in die Höhe und parkte den Wagen direkt in einer Lücke vor dem Studio. Dann lief sie zu der Querstraße und betrat das Reisebüro.
„Kann ich Ihnen helfen?", ertönte die freundliche Stimme einer Mitarbeiterin. „Ja, ich hätte gerne Reisekataloge für Kuba", antwortete Eve. „Setzen Sie sich doch einen Augenblick", forderte sie die Dame auf. Während Eve den Stuhl zurechtrückte, fragte die Mitarbeiterin: „Was haben Sie sich vorgestellt? Fliegen Sie alleine oder mit mehreren Personen? Hätten Sie gerne eine All-Inclusive Verpflegung oder wollen Sie eher etwas Einfacheres? Strandurlaub oder möchten Sie direkt in die Stadt?"
Natürlich dachte sie zuerst an ihr begrenztes Budget, aber sie war in den letzten Wochen äußerst sparsam gewesen, was nicht zuletzt daran lag, dass Daniel die meisten ihrer Auslagen übernommen hatte. Um etwas zurückzugeben wollte sie ihn jetzt gerne einladen. Und er sollte etwas Außergewöhnliches bekommen, weswegen sie sagte: „Wir sind zu zweit. Mein Freund und ich." Ihr wurde warm ums Herz, nachdem sie es ausgesprochen hatte. Ja, es war so weit. Sie wollte, dass er ihr Freund war. Für den Rest ihres Lebens. Scheinbar konnte ihr die Reisekauffrau die Liebe ansehen, denn sie lächelte entzückt, während sie in ihren Unterlagen kramte. „Er wird natürlich mit mir gemeinsam entscheiden, aber ich denke wir hätten gerne einen All Inclusive Strandurlaub", führte sie aus. Die Dame legte ihr einen Katalog vor, dann reichte sie ihr eine Visitenkarte: „Melden Sie sich einfach bei mir, wenn Sie sich für eines unserer Angebote entschieden haben." Sie nickte und stand auf. „Vielen Dank", sagte sie, bevor sie das Reisebüro verließ.
Als sie auf den Bordstein trat, wäre sie beinahe mit einem großen Kerl zusammengestoßen. „Johnny", lachte sie erstaunt. „Na Süße, was machst du denn hier?", wollte er wissen. „Ich habe nur ein paar Unterlagen für eine Reise abgeholt. Nichts Wichtiges. Und was treibt dich auf diese Seite der Straße?", stellte sie eine Gegenfrage, bevor sie hinzufügte: „Wow, wie hoch ist wohl die Wahrscheinlichkeit, dass ich in einer Stadt wie Miami genau in jemanden hineinlaufe den ich bereits kenne?" Er lachte: „Ich mache gerade Pause und wollte mir dort vorne ein Sandwich holen. Hast du Lust mitzukommen?" Sie nickte, denn ihr Magen knurrte ohnehin. Johnny legte ihr die Hand freundschaftlich auf die Schulter und führte sie zu einem kleinen Gastgarten. Dort zog er ganz gentlemanlike einen Stuhl hervor und deutete ihr, sich zu setzen. „Ich wollte Dan sowieso anrufen. Was hältst du davon, wenn ihr übermorgen im Studio vorbeischaut? Es ist höchste Zeit die Arbeit zu kontrollieren und gegebenenfalls nachzustechen. Obwohl das bei meinen Tattoos meistens ohnehin nicht nötig ist." Gerade als sie verneinen wollte, fügte er hinzu: „Sam wird ganz bestimmt nicht wieder reinplatzen. Sie fliegt heute Abend noch nach Atlanta, um dort an der Tattoo Convention teilzunehmen." Eve sah erleichtert auf: „Gut, dann spricht eigentlich nichts dagegen. Ich kläre das mit Daniel, aber wir müssen vor 14 Uhr kommen. Er geht nun wieder zur Arbeit und trainiert fast täglich ab 16 Uhr."
Erfreut blickte Johnny sie an: „Das sind wirklich gute Neuigkeiten. Ich hatte das Gefühl, er hatte seine Fitness ein wenig vernachlässigt, das letzte Mal als ihr bei mir im Studio wart. Natürlich ist das verständlich nach all dem was euch widerfahren ist, trotzdem tut ihm der Sport gut. Daniel ist nur in Basketballshorts er selbst." Gerade als sie sagen wollte, dass sie ebenfalls froh war, dass sein Leben sich wieder etwas normalisiert hatte, gab es einen lauten Knall. Entsetzt sah sie dorthin woher der Krach gekommen war. Ein Longboardfahrer war am Gehsteig in eine Fußgängerin gefahren. Sie lag am Boden und hielt sich den Bauch. Sofort sprang Eve auf und wollte helfen, als etwas hinter dem Geschehen ihre volle Aufmerksamkeit auf sich lenkte. Dort stand ein Schild, das gleichzeitig unheilvoll, aber auch friedenbringend wirkte. Dr. Med. Sandman stand darauf. Darunter war in blauen Zeichen das Wort Gynäkologe gedruckt. Sie schluckte hart. Daher kannte sie den Straßennamen des Reisebüros also. Offensichtlich hatte sie ihn zuvor auf der Homepage des Frauenarztes gelesen. Dr. Sandman hatte wirklich genau hier seine Praxis. In Sekundenschnelle spulte sie in ihrem Kopf ab, was sie als nächstes tun würde. Zum Glück hatten der Tätowierer und Eve ihre Bestellung noch nicht aufgegeben, denn sie fühlte sich, als müsste sie sofort erledigen, was sie vorhatte, weil sie sonst bestimmt der Mut verlassen würde. Deswegen wandte sie sich hastig an Johnny und stotterte aufgebracht: „Es tut mir leid, aber ich muss weg." „Was?", schrie er ihr hinterher. Sie sprintete in das Gebäude, jedoch wurde sie nach wenigen Schritten an der Treppe aufgehalten, eine Hand hielt sie an der Taille fest. „Was ist los, Eve? Ist alles okay mit dir? Warum läufst du ganz ohne jede Vorwarnung in die Praxis eines Arztes? Soll ich Daniel verständigen? Ist dir etwas passiert? Hat es etwas mit diesem Unfall zu tun? Hast du dich vielleicht erschrocken?" Johnny hörte sich wirklich besorgt an, weswegen sie sofort ein schlechtes Gewissen bekam. Trotzdem war sie nicht ganz sicher, ob sie ihm von Daniels und Samanthas Vergangenheit erzählen sollte. Nur das würde erklären, warum sie so stürmisch in diese Ordination gelaufen war. Einerseits fühlte es sich wie ein Verrat Daniel gegenüber an, wenn sie Johnny seine Geschichte offenbaren würde. Andererseits hatte Dan ihr Geheimnis damals ebenfalls vor einem Fremden ausgebreitet, auch wenn es die Psychologin war. Das war genauso hinterlistig gewesen und trotzdem hatte es ihnen geholfen. Vielleicht würde es ihnen ja ebenfalls helfen, wenn ein Freund von Dan über seinen Gefühlszustand Bescheid wüsste. Dann könnte er sich wenigstens jemandem anvertrauen und sie war sich sicher, dass ihm Johnny keine Vorwürfe machen würde. Für eine Sekunde überlegte sie, wie böse Dan wohl auf sie sein würde, konnte sich aber nicht vorstellen, dass er deshalb wirklich wütend werden würde, solange sie es tat um ihm zu helfen. Vorsichtig fragte sie: „Du weißt doch noch, dass du mir erzählt hast, dass Dan wie ausgewechselt war, als er damals von seinem Krankenhausbesuch bei Sam zurück gekommen ist?" Johnny nickte. „Das lag daran, dass sie ihm dort gestanden hatte, dass sie schwanger war." „Was?", kreischte Johnny, „Von wem war das Kind?"
Verwirrt blickte Eve ihn an. „Na, von Dan", sagte sie überzeugt.
„Und woher wollte sie das bitte wissen?", fragte Johnny entsetzt.
„Weil ihnen das Kondom gerissen war."
„Kondom?" Völlige Ratlosigkeit stand Johnny ins Gesicht geschrieben. „Sie und ich ... wir ... wir haben nie Kondome benutzt. Sie sagte, sie nimmt die Pille. Wenn sie also schwanger war, hätte das Kind auch von mir sein können."
Vollkommen überrumpelt taumelte Eve einen Schritt zurück. Was erzählte er da? Johnny hätte ebenfalls der Vater sein können? Wie konnte Sam so sicher sein, dass Dan der Vater war? Irgendetwas an dieser Sache war ganz gehörig faul und sie wollte nun unbedingt herausfinden was es war. Sie zückte ihr Handy und hielt es dem Tätowierer vor die Nase. „Weißt du, ich habe hier ein Ultraschallbild. Es wurde in dieser Praxis gemacht und ich wollte die Sprechstundenhilfe fragen, ob es eventuell noch weitere gibt. Vielleicht können wir diese ganze Geschichte ja irgendwie aufklären. Möglicherweise lässt sich mit Hilfe des errechneten Geburtstermins nachvollziehen wer der Erzeuger dieses Kindes war. Er nickte nur und wirkte dabei vollkommen durcheinander, was Eve auch nicht weiter verwunderte, wo er doch gerade erfahren hatte, dass er möglicherweise beinahe Vater geworden wäre. Wortlos ging er die Treppen neben ihr hinauf.
In der Frauenarztpraxis angekommen, hatten sie sich noch nicht einmal einen Plan zurechtgelegt. Jedoch übernahm das Sprechen nun einfach Johnny, der wieder ein wenig gefasster wirkte. „Guten Tag! Ich habe eine etwas seltsame Bitte", sagte er an die Arzthelferin, die hinter dem Pult saß, gerichtet. „Vor kurzem habe ich meine Ex-Freundin wieder getroffen und sie hat mir gestanden, dass sie damals, als wir noch ein Paar waren, von mir schwanger war." Er blickte zu Eve und schien sich zusammen zu spinnen warum er das Baby noch niemals gesehen hatte, wenn es doch in Samanthas Bauch war, dann sprach er weiter: „Das Kind ist ... es ist ... tot?" Es klang wie eine traurige Frage, die an Evelyn gerichtet war. Sie nickte nur unauffällig und formte ihren Mund dann zu einem „Tut mir leid", was Johnny sichtbar verletzte. Klar, wenn es denn wirklich Johnnys Kind war, hatte er gerade einiges zu verarbeiten und Eve verfluchte sich dafür, dass sie ihm die ganze Miesere nicht etwas schonender beigebracht hatte, aber der Tätowierer entspannte sich sogleich wieder ein wenig. Immerhin war ja auch noch gar nicht klar, was es mit diesem Ultraschallbild auf sich hatte und wenn Daniel mit seiner Vermutung recht behielt, könnte es noch weit mehr potenzielle Väter geben, als nur die beiden. Eve war sicher, dass das auch Johnny wusste. Denn er wirkte auf sie nicht gerade wie ein naiver Junge, der glaubte, der Einzige für Samantha gewesen zu sein. „Wissen Sie, Sie könnten mir einen Herzenswunsch erfüllen, wenn Sie mir noch weitere Ultraschallbilder zeigen könnten. Ich habe nämlich nur das hier." Er griff nach Eves Handy und reichte es an die Sprechstundenhilfe weiter. Sie warf einen kurzen Blick darauf und sagte dann: „Das wurde ja ganz schön zurechtgestutzt, aber ich kann bestimmt etwas über die ID, die wir seitlich darauf drucken herausfinden." Mit schnellen Fingern tippte sie eine Zahlenkombination in den Computer und lächelte dann: „Hier ist es. Kathrin Hathorn." Verdutzt schüttelte Johnny den Kopf und flüsterte dann: „Kathrin?" Sofort entschuldigte sich die Sprechstundenhilfe und sagte: „Nein, das kann nicht sein, dieses Kind wurde gesund geboren." Eve warf einen fragenden Blick zu dem Tätowierer, der sie nun vollkommen verdattert ansah. Man konnte ihm sogar ansehen, wie sich die Gedanken in seinem Kopf überschlugen. Bevor er jedoch etwas sagen konnte, fragte die Arzthelferin: „Sind Sie denn sicher, dass das ein Original Ultraschallbild ist, denn das passt nicht zu meinen Aufzeichnungen?" In diesem Moment schien Johnny ein Licht aufzugehen, denn sein Gesicht nahm einen unergründlichen Ausdruck an. Er spiegelte gleichzeitig Erleichterung und Wut wider. Hastig packte er Eve am Arm. „Nicht so wichtig", behauptete er und schob Evelyn aus der Tür.
Sie konnte sich beim besten Willen nicht erklären was hier vor sich ging und wollte gerade protestieren, als er schon die Tür hinter ihnen zuknallte. „Was sollte das eben, Johnny?", fragte sie aufgebracht. „Warum haben wir nicht versucht das richtige Ultraschallbild zu bekommen?
„Nicht Sam war schwanger, sondern Kathrin, Evelyn. Ich weiß zwar nicht, wie sie mit Nachnamen heißt, aber Kathrin ist der Name von Sams bester Freundin und die kleine Soy ist mittlerweile vier Jahre alt. Es gibt kein richtiges Ultraschallbild."
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