Kapitel 42
Ganze zwei Stunden war Eve noch im Parkhaus gesessen, nachdem Daniel weggefahren war. Wo hätte sie auch sonst hinsollen. Dieses Zimmer am Hafen hatte sie nur für eine Nacht gebucht und länger hätte sie es dort auch nicht ausgehalten. Außerdem besaß sie im Moment gerade mal eine Zahnbürste, die sie sich heute Morgen in einer Drogerie gekauft hatte. Alles andere, das sie noch hier in den USA hatte, befand sich in Dans Haus und ihrem Hotelzimmer, aus welchem er bestimmt schon ausgecheckt hatte. Egal, wie sehr sie darüber nachdachte, es würde ihr ohnehin nichts Anderes übrigbleiben, als sich Daniel zu stellen. Frustriert stand sie auf und schlenderte zur Lincoln Mall, wo ihr am Vortag einige Taxis aufgefallen waren. Zu ihrem Glück parkten dort auch heute wieder welche. Sie nahm das erste, setzte sich hinein und nannte dem Fahrer Daniels Adresse. Ihre Finger zitterten. Durch ihren gesamten Körper schoss das Adrenalin. Komm nachhause, hatte er ihr geschrieben. Aber sein Haus war doch niemals ihr zuhause gewesen, oder etwa doch? Sie erinnerte sich daran, dass sie sich gestern noch gedacht hatte, dass er ihr zuhause war und eine Träne rollte über ihre Wange. Der Taxifahrer blickte sie durch den Rückspiegel mitleidig an: „Geht es Ihnen gut?", fragte er. Sie nickte nur leicht und warf den Blick dann aus dem Fenster. Das Wetter schien mit ihren Gefühlen mithalten zu wollen, denn der Himmel hatte sich gefährlich schwarz verfärbt. Kaum bemerkte sie den Wetterumschwung, begann es auch schon wie aus Eimern zu gießen. Eve war dankbar, dass Daniel nicht allzu weit wegwohnte, denn sie befürchtete, dass der Fahrer nicht mehr viel von der Straße sehen konnte, während er sie zu dem Haus brachte. Jedoch musste sie sich trotzdem überwinden um aus dem Taxi auszusteigen, als sie dort angekommen war. Langsam atmete sie aus. Sie wusste nicht genau was sie im Moment fühlte. Versuchte herauszufinden, ob sie ihm vielleicht doch glauben konnte. Was, wenn alles ganz anders war, als es den Anschein hatte? Schnellen Schrittes stieg sie die Treppen zu dem Hauseingang hoch. Aus Gewohnheit öffnete sie einfach die Tür, so wie sie es bisher immer gemacht hatte. Erst dann fiel ihr ein, dass sie wahrscheinlich klingeln hätte sollen. Doch in diesem Moment schien das nicht von Bedeutung zu sein. Gar nichts schien plötzlich mehr von Bedeutung zu sein. Nichts außer Daniel. Er saß im Gang an die Wand gelehnt und hob den Kopf leicht an, als sie hereinkam. Zuerst war er offenbar nicht ganz sicher, ob das wirklich passierte oder ob er nur halluzinierte, aber dann sprang er auf: „Liebling, Gott sei Dank." Mit zwei großen Schritten sprintete er auf sie zu und zog sie in den Arm. Zu überwältigt von seinem Anblick, ließ sie es einfach geschehen. Erst als sie sich wieder ein wenig gefasst hatte, sagte sie schroff: „Ich bin nur hier, um meine Sachen abzuholen, Daniel." „Nein!", fuhr er sie an, bevor er sich etwas sanfter wiederholte: „Nein, Eve. Ich weiß du bist verletzt und traurig und ich weiß auch, dass das Alles bestimmt nicht einfach für dich ist, aber ich werde dich nicht gehen lassen, bevor ich dir nicht alles haarklein erklärt habe. Was du denkst gesehen zu haben, ist etwas ganz Anderes als das, was in Wirklichkeit geschehen ist." Sie wich einen Schritt zurück und löste sich grob aus seiner Umarmung. Dann seufzte sie laut. „Nein, ich kann es nicht ertragen nochmals betrogen worden zu sein, Daniel. Ich will nicht hören was du zu sagen hast. Lass mich einfach gehen!", forderte sie und hielt ihn dabei mit einem Arm auf Abstand. Die Tränen liefen ihr mittlerweile ganz unwillkürlich über die Wangen und sie musste sich zurückhalten, um nicht gegen seine Brust zu schlagen. Womit hatte sie das bloß verdient? Schon wieder. Er setzte an etwas zu sagen, aber sie drückte sich die Hände gegen die Ohren und schloss dabei die Augen, als würde das auch dazu beitragen, dass sie ihn nicht verstehen konnte. So laut er konnte schrie er: „Ich habe dich nicht betrogen, Evelyn. Das würde ich niemals tun." Natürlich war ihm bewusst, dass sie eigentlich gar nicht zusammen waren und er sie somit technisch gesehen auch gar nicht betrügen könnte, aber er wusste, dass der Status ihrer Beziehung hier nichts zu suchen hatte. Selbstverständlich dröhnte seine Stimme trotz ihrer Hände zu den Ohren durch, weswegen sie die Augen aufriss. Ob das wohl die Wahrheit war? Er hatte bereits im Hotelzimmer gesagt, dass es nicht so war wie es schien, aber sagten das nicht alle Betrüger? Nein, eigentlich nicht. David hatte es damals nicht mal bestritten. Resignierend zog sie die Finger aus den Ohren. „Du hast also einfach so zugelassen, dass sie dich fesselt, ganz ohne Hintergedanken?", schrie sie ihn mindestens so laut an, wie er es gerade getan hatte. „Ich wusste doch gar nicht, dass ich gefesselt werde", beharrte er. Wollte er sie etwa verarschen? Wie sollte er das denn nicht bemerkt haben? „Du glaubst doch nicht etwa, dass ich dir das abkaufe!"
„Wenn du mir nur eine Minute Zeit gibst, erkläre ich es dir", sagte er sanft und streckte seinen Arm wieder nach ihr aus, um ihr mit den Fingern die Tränen von den Wangen zu streichen. Resignierend nickte sie. Plötzlich fühlte sie sich vollkommen ausgelaugt. So als würde ihr Körper dagegen rebellieren, weiterhin gegen ihn zu kämpfen. Kraftlos ließ sie sich vor der Wand auf den Boden nieder, wo er gerade noch gesessen hatte. Er kniete sich vor sie und legte die Hände auf ihre Knie, genau so, wie er es gemacht hatte, als er ihr vor wenigen Tagen gestanden hatte, dass er in sie verliebt war.
„Sam hat mir vor dem Juwelier aufgelauert", begann er zu erklären und biss sich sogleich auf die Zunge. „Juwelier?", wiederholte sie verwirrt. Schnell winkte er ab: „Lange Geschichte, aber das hat nichts hiermit zu tun." Froh darüber, dass sie es darauf beruhen ließ, fuhr er fort: „Dann ist sie mir bis zum Hotel nachgelaufen und hat sich neben mich an die Hotelbar gesetzt. Natürlich habe ich ihr mehrmals gesagt, dass ich sie dort nicht haben wollte, woraufhin sie sich mit voller Absicht ihr Wasserglas über das weiße Shirt geschüttet hatte. Selbstverständlich war das nur ein weiterer, kindischer Versuch mich zu verführen. Du musst mir glauben, ich habe kein Interesse mehr an dieser Frau, auch kein sexuelles. Selbst wenn du sie mir nackt auf die Brust binden würdest, möchte ich nicht mit ihr schlafen." Er schnappte hörbar nach Luft und fuhr dann fort: „Wie du ja bereits weißt, geht Samantha über Leichen, wenn sie etwas will. Als sie merkte, dass sie keine Chance hatte, begann sie wie wild um sich zu schlagen und mich anzuschreien, weil ich angeblich meinen Drink über sie geleert hätte. Natürlich wurde der Barkeeper sofort auf uns aufmerksam, genauso wie sie es geplant hatte. Mitten unter den Gästen zog sie sich schließlich das Shirt aus und drohte damit auch noch ihren BH abzulegen, wenn ich ihr nicht sofort neue Klamotten besorgen würde. Daraufhin wollte der Kellner die Polizei rufen, denn das ist in einer amerikanischen Bar selbstverständlich illegal. Also hab ich sie so schnell ich konnte in unser Zimmer verfrachtet. Eigentlich sah mein Plan vor, ihr einfach eines von meinen Shirts zu geben, aber gleich als wir im Zimmer angekommen waren, hat sie sich in das Badezimmer verdrückt. Natürlich schloss sie die Tür nicht, sondern zog sich einfach ganz nackt aus und stellte die Dusche an. Wie du vielleicht weißt, sah man von unserem Bett aus ganz genau in die gläserne Dusche. Deshalb habe ich beschlossen ihr blödes Spiel einfach nicht mitzuspielen. Eigentlich wollte ich sofort verschwinden, aber ich hatte Angst sie könnte irgendetwas mit deinen Sachen anstellen, deswegen habe ich mich aufs Bett gelegt und in die Luft gestarrt. Dabei bin ich wohl eingeschlafen und erst wieder aufgewacht, als sie die Kordeln um meine Handgelenke richtig festgezogen hatte. Ehrlich gesagt habe ich keine Ahnung was sie gemacht hätte, wenn du nicht gekommen wärst, aber ich denke, sie hatte schon damit gerechnet, dass du früher oder später wieder dort auftauchen würdest und hat diese ganze Theater nur deinetwegen veranstaltet. Es tut mir leid, Evelyn, aber du musst mir glauben. Ich wollte das alles doch nicht. Wahrscheinlich hätte ich den Barkeeper einfach die Polizei rufen lassen sollen, aber ich hatte keine Lust darauf auch noch in den Knast zu kommen. Wie du vielleicht weißt geht das in den USA nach so kleinen Streitigkeiten ziemlich schnell." Ja, er hatte recht, das wusste sie. Sie kannte einige Leute, die für so einen Blödsinn verhaftet worden waren. Beinahe hätte sie selbst mal in den Knast gemusst, nur weil sie ein Nickerchen im Auto gemacht hatte, als sie noch in Florida wohnte. Wild Campen lautete der Tatvorwurf. Damals hatte sie schon befürchtet David anrufen zu müssen, um sie aus dem Gefängnis freizukaufen. Nach einem negativen Alkoholtest hatte der Officer aber dann zum Glück doch Mitleid mit ihr gehabt. Jedoch ging es jetzt nicht darum. Viel wichtiger war doch, ob sie ihm glaubte. Da war sie sich nicht ganz sicher. Seine Ausrede hörte sich zwar schon plausibel an, aber sie fragte sich immer noch, warum er dieser Frau einfach alles durchgehen ließ. Schniefend sah sie ihn an: „Warum hast du mich nicht verteidigt, als sie mich beschimpft hat, Dan?"
„Weil ich ein Vollidiot bin", sagte er, mehr zu sich selbst als zu ihr. „Es fällt mir wahnsinnig schwer darüber zu reden und das, obwohl ich es heute schon vor der Therapeutin ausgesprochen habe. Zu sehr fürchte ich mich davor, dass du ich danach hassen könntest. Dr. Apple meinte zwar meine Angst sei unbegründet, da das alles eigentlich gar nichts mit dir zu tun hat, aber ich weiß doch, wie sehr du Kinder liebst", er schluchzte und sie nutzte die Zeit um ihn zu unterbrechen: „Kinder lieben? Daniel was hat das mit uns zu tun?"
Ungeschickt beugte er sich nach vorne und fischte nach dem Portemonnaie in seiner Hosentasche, anschließend zog er wieder das Bild heraus und hielt es Evelyn hin. Etwas verdutzt rümpfte sie die Nase: „Das ist ein Ultraschallbild, Dan. Was bedeutet das? Ist sie etwa von dir schwanger?"
„War! Sie war von mir schwanger."
„Du hast ein Kind?"
Er schüttelte den Kopf: „Nein! Es ist ... es ist ... tot. Na ja um ehrlich zu sein, war es auch noch niemals so richtig lebendig, zumindest nicht außerhalb Sams Körper." Laut schluchzte er und ließ dann den Kopf in seine Hände fallen. Instinktiv legte Eve den Arm um seinen Rücken und begann ihn zu streicheln. Sie verstand gar nichts mehr, aber sie wusste, dass es hier um seine Vergangenheit ging. Etwas, das er aufarbeiten musste und obwohl ihr bewusst war, dass sie ihm eigentlich die Zeit geben sollte, die er brauchte, fragte sie: „Was ist passiert, Dan? Du kannst mir alles sagen." Er brauchte sie im Moment so sehr. Auch ohne, dass er es aussprach konnte sie es fühlen. Sie spürte das erdrückende Gefühl, das von ihm ausging, die Angst, die er verspürte und auch tiefe Trauer. Plötzlich war die Einlage im Hotel vergessen. Er log nicht. Nein, ganz bestimmt nicht. Eine Welle der Hitze durchzog sie und bettete ihr Herz in ein samtig weiches Kissen. Ohne darüber nachzudenken sprach sie aus was sie fühlte, denn es war stärker als jedes andere Gefühl zuvor: „Ich liebe dich, Dan. Egal, was du mir nun erzählst, ich werde dich ganz bestimmt nicht hassen." Er hob den Kopf an: „Du liebst mich?" Sie nickte und er grinste gequält. „Ich hoffe, du liebst mich auch noch, wenn du hörst, was für ein Mistkerl ich war." Weiterhin streichelte sie sanft über seinen Rücken und betrachtete dabei das Ultraschallbild. Daniel schnappte hörbar nach Luft. „Damals ist sie zu mir gekommen, hat mir von der Schwangerschaft erzählt und das erste was ich gesagt habe war, dass sie das Baby wegmachen lassen sollte. Ich war schrecklich egoistisch und konnte mir einfach nicht vorstellen zu diesem Zeitpunkt schon Vater zu werden. Schon gar nicht, wenn das Kind von einer Frau sein würde, die ich eigentlich nicht ausstehen konnte. Ich weiß, ich hätte niemals mit ihr schlafen sollen, aber ich war jung und das war irgendwie gut für mein Ego. Verdammt, wie dämlich sich das anhört." Er schluchzte. „Daniel, das ist eine Entscheidung, die keiner für dich treffen konnte und ich kann sie irgendwie nachvollziehen, auch wenn ich Abtreibung nicht gutheiße." „Damit wollte ich nur klarstellen, was für ein Arschloch ich damals war, denn eigentlich hätte ich verdient, dass du mich wüst beschimpfst, anstatt mir den Rücken zu kraulen." Er schenkte Eve einen qualvollen Blick. „Sie hat das Kind also wegmachen lassen?", fragte sie einfühlsam, obwohl ihr der Embryo auf diesem Bild schon viel zu groß für so eine Entscheidung vorkam. Er schüttelte den Kopf: „Nein, es wird noch schlimmer. Sie hat sich geweigert eine Abtreibung vornehmen zu lassen und hat stattdessen mit allen Mitteln versucht, mich dazu zu bringen, zu ihr und unsrem Kind zu stehen. Diese Frau hätte alles gemacht, um mich von dieser Idee zu überzeugen, also bin ich, vollkommen feige wie ich war, abgehauen, was mir aber nichts gebracht hat, weil sie mir nach Spanien gefolgt ist. Wie eine irre Stalkerin hat sie mich verfolgt, woraufhin ich ihr gesagt habe, dass ich eine Unterlassungsklage anfordern würde und sie mir zuerst beweisen müsste, dass ich überhaupt der Vater sei. Auch das war wahnsinnig kaltherzig, aber es war gleichzeitig berechtigt. Samantha hatte an jedem Finger einen Kerl. Ich bin mehr als nur einmal hineingeplatzt als sie gerade Sex mit Johnny hatte. Er hätte also genauso gut der Vater sein können, aber sie hatte darauf bestanden, dass es eines Abends ein Problem mit unserem Kondom gegeben hätte und sie sonst mit niemandem so einen Unfall hatte." Er schnaubte kurz, blickte auf und sagte dann: „Falls du dich jetzt sorgst, ich habe mich natürlich testen lassen und keine Geschlechtskrankheiten." Das schien Eve in diesem Moment so nebensächlich, dass sie einfach mit den Schultern zuckte.
„Danach hat sie aber aufgegeben und ist zurück nach Miami. Drei Monate später wurde ich von einem Arzt angerufen, der mir erzählte, dass Sam wohl mit einer Überdosis ins Krankenhaus gebracht wurde. Ich war scheinbar als ihr Notfallkontakt eingetragen, was sie wahrscheinlich wegen unserem gemeinsamen Kind gemacht hatte. Erst in diesem Augenblick wurde mir klar, was auf dem Spiel stand. Daraufhin bin ich sofort in die USA geflogen, aber es war zu spät, sie hatte das Kind bereits verloren." Eine Träne rollte über seine Wange und Evelyn fing sie mit dem Finger auf. „Aber das ist doch nicht deine Schuld, Dan. Du kannst doch nichts dafür, dass sie Drogen genommen hat." Verdutzt blickte er auf: „Das sieht sie anders. Sie schwört darauf, dass sie das nur gemacht hat, weil sie mit der Trennung nicht klargekommen ist", erklärte er. „Und das obwohl wir doch gar nie richtig zusammen waren", fügte er flüsternd hinzu. „Sie hat ganz klargemacht, dass alles nur meine Schuld war und ich fühle mich schrecklich deswegen, warum ich ständig versuche die Gedanken daran zu verdrängen, aber ganz schaffe ich es einfach nicht."
„Führst du deshalb das Ultraschallbild mit dir herum?", wollte sie wissen.
„Ja, ich wünschte ich hätte noch mehr als dieses eine Bild."
Vorsichtig zog sie ihn in ihre Arme. „Dan, du schuldest Sam überhaupt nichts und du hast auch nichts falsch gemacht. Ich kann nicht glauben, dass du dachtest ich würde dich deshalb hassen. Das tu ich nicht. Wirklich nicht. Ich liebe dich."
„Heißt das du vergibst mir?", fragte er hoffnungsvoll.
Sie nickte und lächelte ihn dabei liebevoll an.
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