Kapitel 10
„Gut, ich bin wieder dran", sagte Dan zu Eve und schien dann für einen Augenblick zu überlegen.
„Mein nächster Wunsch lautet: Ich möchte gerne einmal in meinem Leben einen richtigen Urlaub machen. Einen, bei dem ich nicht eine Sekunde an die Arbeit denken muss und der nicht in Miami stattfindet, nur damit ich meinem Team zur Verfügung stehe, für den Fall, dass sie mich brauchen. Wenn wir also hier lebend herauskommen sollten, möchte ich gerne zwei Wochen mit dir auf Kuba verbringen."
Sie blickte ihn mit großen Augen an. Würden sie das etwa alles gemeinsam machen? Ihr nächster Gedanke hätte sie beinahe zum Kichern gebracht. Gut, die meisten Dinge waren vollkommen banal, abgesehen von diesem Urlaub und daher wäre es kein Problem sie gemeinsam zu erledigen. Aber wo zum Teufel wollte er sich bitte noch tätowieren lassen. So weit sie das bisher beurteilen konnte, hatte er doch gar keinen Platz mehr auf seinem Körper.
„Du bist dran", sagte er und kritzelte weiter auf dem Block herum.
„Eigentlich war es das schon, ziemlich einfallslos, nicht wahr?"
Er lachte: „Mir fällt auch nichts mehr ein. Scheinbar waren unsere Leben bisher ziemlich aufregend, sonst hätten wir noch mehr Wünsche."
Plötzlich spürte sie wieder einen Stich in ihrem Herzen und als könnte Dan es auch spüren, griff er sich an die Brust.
„Einen Wunsch habe ich noch. Ich möchte meinem Ex-Mann all die Dinge an den Kopf knallen, die mich in letzter Zeit so beschäftigt haben. Er soll wissen was ich von ihm halte." Seinetwegen würde sie niemals eine glückliche Beziehung führen, genauso wenig wie Kinder bekommen. Dieser Mann hatte es echt verdient beschimpft zu werden.
Dan grinste, während er es aufschrieb. „Es wird mir eine Ehre sein, dich dabei zu begleiten. Damit ist die Wunschliste also vollständig?", fragte er. Eve nickte, fügte aber hinzu: „Erweitern lässt sie sich immer noch, sollte uns noch etwas einfallen."
Er hielt ihr das Stück Papier unter die Nase. Darauf stand:
1. Fallschirmspringen
2. Die ganze Nacht feiern
3. Ein Tattoo stechen lassen
4. Zweiwöchiger Urlaub auf Kuba
5. Dem Arschloch sagen, dass er eines ist
Dann wandte sich Dan wieder den Block zu. Eve beobachtete ihn genau, während er angestrengt auf das Stück Papier starrte und weitere Linien setzte. Als er fertig war, blickte er zu ihr auf.
„Was machst du da?", fragte sie. Vorsichtig löste er die erste Seite vom Block und hielt sie so, dass sie es sehen konnte. Eve konnte es kaum glauben. Das war ein Abbild ihrer beiden Finger, die zu einem Herz geformt waren. Über beiden Zeigefingern stand in kleiner Schrift „In Memory of June 18th".
„Weißt du, ich dachte wir könnten es in der Mitte teilen. Ich lasse mir deine Hand tätowieren und du dir meine. Außerdem fände ich es schön, wenn es in gleicher Höhe wäre, so dass es ein ganzes Herz ergibt, wenn wir nebeneinander stehen. Jedoch würde das bedeuten, dass du nicht sehr viel Auswahl hättest wo du es platzieren könntest, denn der Platz auf meiner Haut ist mittlerweile begrenzt." Unsicher blickte er sie an: „Wäre dir das denn recht?"
Ob es ihr recht war? Das war einfach perfekt. Sie hielt nicht viel von Pärchen die sich den Namen des jeweils anderen unter die Haut stechen ließen. Um ehrlich zu sein, fand sie das sogar ziemlich dämlich und sie fragte sich ob diese Menschen noch alle Tassen im Schrank hatten. Aber das hier war etwas vollkommen anderes. Wenn sie diese verwirrenden Gefühle wegließ, die sie für ihn hatte und gar nicht darüber nachdachte, dass sie ein Mann und eine Frau waren, die sich offensichtlich auch zueinander hingezogen fühlten, waren sie immer noch Danilyn. Die beiden Menschen, die dieses Attentat gemeinsam überlebt hatten. Vorausgesetzt sie würden es überleben. Alles andere war vollkommen egal. Dieser Tag würde sie bis zu ihrem Tod verbinden. Egal, ob sie dieses Tattoo hatten oder nicht. Selbst wenn sie sich auf ihn einlassen, und er sie dann für eine Hure verlassen würde, hätte sie dieses Erlebnis auf ewig zusammengeschweißt.
„Das ist perfekt, Dan. Diese Idee ist einfach perfekt." Sie lächelte und fühlte eine unglaubliche Erleichterung. Es war, als hätte ihr gerade jemand versprochen, dass ihnen nichts mehr passieren könnte, dass sie lebend dieses Gebäude verlassen würden. Sie wusste es einfach. Denn sie konnten einfach nicht sterben, ohne vorher diese Liste abgearbeitet zu haben. Das war unmöglich. Ihre Zeit war noch nicht gekommen. Es gab auf dieser Welt noch etwas für sie zu erledigen. Diese Wunschliste war ihr Fahrschein ins Leben. „Du bist perfekt", flüsterte sie. Dan sah sie liebevoll an. Vorsichtig griff sie nach dem Stück Papier auf dem ihre Wünsche standen und las es nochmals. Wie gerne hätte sie dort noch einen sechsten Punkt hinzugefügt. „6. Lieben und geliebt werden"
Vor ihrem geistigen Auge sah sie es in Dans Handschrift unter ihre Wünsche gekritzelt. Doch so schnell sie es sich herbeigewünscht hatte, so schnell ließ sie es auch wieder verschwinden. Das durfte nicht passieren, denn am Ende würde sie nur wieder verletzt werden. Wenn sie klug war, und das war sie, würde sie sich keine Gedanken mehr über die Liebe machen. Natürlich könnte es sein, dass sie im Stande wäre Dan zu lieben und vielleicht würde er sie sogar zurück lieben. Doch es würde immer die Unsicherheit bleiben, ob er nicht vielleicht irgendwo eine kleine rumänische Hure treffen würde. So schön das Gefühl auch zu sein schien, im Herzen von jemanden verankert zu sein, umso schmerzhafter war es, von genau demjenigen hintergangen zu werden. Nein, das wollte sie nicht mehr erleben.
Sie biss sich auf die Lippe und drehte ihren Kopf wieder zu Dan. „Es gibt noch etwas, das ich unbedingt noch machen möchte, bevor ich sterbe", sagte er, „aber das brauchen wir nicht auf diese Liste zu schreiben, das können wir auch gleich erledigen." Sanft fuhr er Eve in die Haare an ihrem Hinterkopf und zog sie näher an ihn heran. Als ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren, kapierte auch sie was er vorhatte. Zu ihrem Entsetzen konnte sie es kaum erwarten, obwohl sie sich gerade doch noch vorgesagt hatte, dass genau das nicht passieren durfte. Aber es half nichts, auch sie wollte ihn küssen. Er starrte sie an, schien immer noch unschlüssig zu sein, ob er ihr näher kommen durfte, suchte in ihren Augen nach der Zustimmung. Eve zögerte. Das verstieß gegen jede selbstauferlegte Regel. Jedoch gab es diese Wünsche doch, damit sie am Ende ihres Lebens nichts bereuen mussten und sie würde es ganz bestimmt bereuen, wenn sie ihn jetzt nicht küsste. Aus eigenem Antrieb überbrückte Eve den Abstand zwischen ihnen und drückte ihren Mund zärtlich auf seine vollen Lippen. Sie fühlten sich genauso weich an, wie sie aussahen und schon wieder kreiste das Wort perfekt in ihrem Kopf umher. Dan grinste gegen ihren Mund, bevor er sich ganz dem Kuss widmete. Langsam öffnete er seine Lippen und ließ seine Zunge in sie gleiten. Unglaublich einfühlsam erkundete er jeden Winkel ihres Mundes und sie ließ ihn gewähren, küsste ihn sinnlich zurück. Ihre Finger verselbstständigten sich, wanderten ebenfalls zu seinem Hinterkopf und streichelten sanft über sein Haar.
Erst durch laute Schreie wurden sie aus ihrer Ekstase gerissen. Eve löste sich von ihm. Sofort überkam sie erneut die Todesangst, doch Dan zog sie noch fester an sich und drückte ihren Kopf gegen seine Brust. Leise hörte sie seinen Herzschlag, wodurch sie sich augenblicklich ein klein wenig entspannte. Er hatte wohl unwillkürlich die Luft angehalten, denn seine Brust lag für einige Sekunden ganz still. Auch Eve traute sich kaum zu atmen, während sie die Stimmen vor der Tür verfolgte. Still betete sie wieder zu dem Engel. Ein Knirschen riss sie aus den Gedanken. „Das ist ein Funkgerät", flüsterte Dan. Er grinste, während er die Hände über seine Augen legte. „Wir werden gerettet."
Leise hörte sie eine Stimme vor der Tür: „Hier sind ebenfalls alle tot." Dan winkelte das unverletzte Bein an und zog sich an der Brüstung hoch, dann klopfte er mehrmals fest gegen die Fahrstuhltür. „Wir sind hier drinnen", schrie er. Eve saß weiterhin auf dem Boden und brachte keinen Ton heraus, sie befürchtete, dass das alles nur ein Missverständnis sein könnte und sie doch gleich sterben würden.
„Chief, wir haben hier jemanden im Aufzug, jedoch lässt er sich nicht öffnen, könnten Sie mir bitte ein Brecheisen bringen?", sagte die Stimme vor der Tür. Vorsichtig ließ sich Daniel wieder neben Evelyn fallen und zog sie fest an sich. „Es ist vorbei, meine Süße. Wir haben es überlebt." Immer noch glaubte sie es nicht. Ein Lichtstrahl drang durch den Spalt an der Aufzugtüre und die Türen wurden aufgeschoben. „Safe", schrie einer der schwarz gekleideten Männer, der eine Waffe auf sie gerichtet hatte, sie jedoch gleich abwandte, als er sah, dass sie selbst unbewaffnet waren. Vier weitere Männer halfen ihnen aus dem Auszug, der circa einen halben Meter unter dem eigentlichen Auslass des Schachtes feststeckte. Kaum hatte Eve wieder festen Boden unter den Füßen, richtete sie den Blick instinktiv auf den Ort, an dem das kleine Mädchen gelegen hatte. Sie war noch immer dort, wie sie sofort wusste, obwohl sie sie nicht sehen konnte, weil sie mit einem schwarzen Tuch bedeckt worden war. Ein schreckliches Gefühl überkam sie. Dieses Mädchen war doch bestimmt nicht alleine unterwegs. Waren all ihre Angehörigen etwa auch tot? Was würde mit ihrem Körper geschehen, wenn niemand da wäre, der sich um die sterblichen Überreste kümmern würde. Am liebsten hätte sie die Kleine einfach mitgenommen und sie musste für einen kurzen Moment dem Drang widerstehen, das Tuch von ihr zu ziehen und sie ein letztes Mal zu betrachten. Doch sie wusste, dass dieser Anblick ihr noch schlimmer zu schaffen machen würde, weshalb sie es schweren Herzens bleiben ließ. Trotzdem fragte sie einen der Männer: „Gibt es denn eine Möglichkeit herauszufinden, um wen es sich bei diesem Mädchen handelt?" Vorsichtig warf sie einen Blick über ihre Schulter. Der große Mann zuckte mit den Schultern: „Das wissen wohl die Cops bei der Befragung, aber zuerst müssen Sie in ein Krankenhaus gebracht werden, Ma'am."
Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top