9 - Was wäre, wenn ...
Islays POV
Verschwitzt und außer Atem lasse ich mich rücklings auf mein Bett plumpsen. Mein Herz schlägt viel zu schnell und das Adrenalin schießt in Form von Blitzen durch meinen Körper.
Obwohl ich mittlerweile schon seit über einem Monat die FSU besuche, fühle ich mich nach jedem Training ausgelaugt und erschöpft. Als hätte mich ein tonnenschwerer Lastwagen überfahren.
Nichtsdestotrotz überwiegen aber die Glücksgefühle, denn ich merke, wie sich das Training auszahlt und meine Leistung von Woche zu Woche steigt. Nicht mehr lange und ich kann mir endlich meinen großen Traum von den Olympischen Spielen erfüllen.
Ein zaghaftes Klopfen an meiner Zimmertür reißt mich aus meinen Gedanken in die Realität zurück. Auch wenn ich gerne liegenbleiben und mich in das Land der Träume verabschieden würde, richte ich mich auf und gebe ein müdes „Ja? Herein?!" von mir.
Wie in Zeitlupengeschwindigkeit öffnet sich die Tür, bis nach wenigen Sekunden ein junger Mann zum Vorschein kommt, bei dessen Anblick mein Herz für einen Schlag aussetzt. Und für einen Zweiten und Dritten ebenfalls.
Der Mann hat karamellfarbene Augen, straßenköterblondes Haar und das schönste Lächeln, das ich je gesehen habe.
„P-Paxton?" Meine Stimme wird von einem Erdbeben erfasst. Ich reibe mir ungläubig über die Augen; nicht sicher, ob er bloß eine Illusion ist oder nicht.
„H-Hey, Schmetterlay." Seine Stimme zittert ebenfalls. Obwohl ein zögerliches Lächeln seine Lippen umspielt, sammeln sich mehrere Tränen der Angst in seinen Augen. „Da-Darf ich reinkommen?"
Überfordert und verwirrt zugleich nicke ich.
Was zum Teufel hat Paxton in meiner WG in Fawnsville zu suchen? Seit unserer Trennung, die nun schon ein paar Monate in der Vergangenheit zurückliegt, hatten wir keinen Kontakt mehr miteinander. Zwar habe ich versucht, ihn und unsere gemeinsame Zeit zu vergessen, aber funktioniert hat das nicht. Nicht mal zu einem Prozent.
Auf Wackelpuddingbeinen betritt Paxton schließlich mein Zimmer. Sein Blick springt nervös von rechts nach links, während er sich meinem Bett nähert und dann unschlüssig vor mir stehenbleibt.
Einerseits löst sein Anblick ein wohliges, vertrautes Kribbeln in meinem Herzen aus, aber andererseits wird ein Feuer des Schmerzes in meinem Magen entfacht.
Ich schlucke den Kloß in meinem Hals hinunter, ehe ich von ihm wissen möchte: „Was machst du hier?"
Paxtons Finger finden den Weg zu dem Saum seines T-Shirts und nesteln dort aufgeregt herum. Er schafft es nicht, mich anzuschauen, als er leise wispert: „Mich entschuldigen. Und versuchen, zu kämpfen!"
Tausend Fragezeichen bilden sich in meinem Kopf. „Wie ..." Ich räuspere mich, um das unangenehme Kratzen aus meinem Hals zu verscheuchen. „Wie meinst du das?"
Endlich schaut mich Paxton aus seinen karamellfarbenen Augen an. Schmerz und Reue verschleiern seinen Blick. Aber da ist noch eine weitere Emotion, die viel stärker ist: Liebe!
„Ich war ein dummer Idiot, Schmetterlay", gibt Paxton zu. „Es war so verdammt dämlich von mir, unsere Beziehung einfach wegzuwerfen. Du hast ja keine Ahnung, wie sehr ich gelitten und dich vermisst habe! Du bist alles, was ich in meinem Leben brauche, Islay! Bitte verzeih mir!"
Wow.
Vereinzelte Tränen lösen sich aus meinen Augenwinkeln und kullern stumm über meine Wangen. Obwohl ich es nicht für möglich gehalten habe, schafft Paxton es mithilfe seiner Worte, die Splitter meines Herzens langsam wieder zusammenzusetzen.
„Gib mir, nein, gib uns noch eine Chance!", fleht er mich schluchzend an und sinkt vor mir auf die Knie hinab. „Ich liebe dich so sehr, mein Schmetterlay!"
Ganz vorsichtig kämpfe ich mich auf die Beine. Es ist ein schönes und vertrautes Gefühl, meine Finger an Paxtons Wange zu platzieren und seine Nähe zu spüren.
„Versprich mir, dass du nie wieder so schnell aufgibst, okay?"
„Glaub mir, Islay, ich verspreche dir alles, was du willst!", beteuert Paxton.
Mehr muss ich nicht wissen. Mit Freudentränen überbrücke ich den Abstand zwischen unseren Lippen und küsse Paxton so intensiv, als würde mein Leben davon abhängen.
Und so findet das Glück endlich einen Weg zurück in mein Leben.
***
„Oh mein Gott, du bist der Wahnsinn, Isa!" Tom hebt mich hoch und wirbelt mich einmal durch die Luft. Seine Augen glänzen und sein Mund ist zu dem süßesten Grinsen verzogen, das ich jemals gesehen habe. „Wenn wir am Samstag einen genauso perfekten Lauf hinlegen, bleibt der Jury gar keine andere Wahl, als uns mit der Höchstpunktzahl zu belohnen."
Im Einklang mit seinen Worten setzt mich Tom vorsichtig wieder auf der Eisfläche ab. Dann haucht er mir mehrere, federleichte Küsse auf die Lippen, womit er mich zum Kichern bringt.
Seit einem halben Jahr studiere ich nun schon an der FSU und könnte nicht glücklicher sein. Auch wenn es anfangs schwer war, mich hier richtig einzuleben und sowohl Paxton als auch mein altes Leben hinter mir zu lassen, habe ich es endlich geschafft, meinen Traum zu verwirklichen.
Tom ist daran nicht ganz unbeteiligt.
Wie es das Schicksal so wollte, ist er nicht nur mein WG Mitbewohner, sondern auch mein Partner auf dem Eis geworden. Und seit drei Wochen sogar mein fester Freund.
Endlich habe ich das Gefühl, angekommen zu sein. Nicht nur an der FSU. Auch bei einem Menschen, der mich so liebt und akzeptiert, wie ich bin.
„Was hältst du davon, wenn wir den Abend noch ganz entspannt in einer Bar ausklingen lassen?", fragt mich Tom und reißt mich somit in die Realität zurück.
„Sehr gerne", lächele ich ihn vorfreudig an.
Wie nach jedem Training trägt mich Tom wie eine Prinzessin vom Eis und setzt mich erst vor der Umkleidekabinentür ab. „Bekomme ich noch einen Kuss?", bettelt er mit vorgeschobener Lippe. „Ansonsten überlebe ich die nächste Viertelstunde nicht."
„Du Dramaqueen!", lache ich. „Komm her!"
Und so entfache ich mal wieder ein Feuerwerk aus tausenden Glücksgefühlen in meinem Herzen.
***
„Bist du bereit, Islay?" Harvey schaut mich aufmerksam aus seinen dunkelblauen Augen an. Obwohl er äußerlich wie die Ruhe in Person aussieht, weiß ich ganz genau, dass in seinem Inneren ein Sturm tobt. Ein gewaltiger Tornado der Nervosität, der alles niederzureißen droht, was sich ihm in den Weg stellt.
„I-Ich denke schon", stammele ich mit zittriger Stimme. Schon seit zehn Minuten versuche ich, mich auf eine gleichmäßige und rhythmische Atmung zu konzentrieren, doch mein Herz poltert viel zu schnell gegen meinen Brustkorb und schickt elektrische Stromstöße durch meinen Körper.
Mittlerweile habe ich aufgehört, zu zählen, an wie vielen Wettkämpfen ich bereits teilgenommen habe, doch so aufgeregt wie heute war ich noch nie zuvor. Wahrscheinlich, weil sonst nie meine Zukunft auf dem Spiel stand. Heute allerdings schon.
„Glaub an dich und deine Fähigkeiten!", bemüht sich Harvey, mir Mut zuzusprechen. Er greift vorsichtig nach meiner Hand und drückt sie aufmunternd. „Du weißt, wie gut wir sind, oder?"
Ich nicke. Erst zögerlich. Dann voller Selbstbewusstsein und Selbstvertrauen.
Harvey und ich stehen schon seit zwei Jahren gemeinsam auf dem Eis. Anfangs bin ich noch mit meinem WG Mitbewohner Tom gelaufen, aber weil die Chemie zwischen uns nicht gestimmt hat und ich ihm leistungstechnisch deutlich überlegen war, hat Coach Miller dann Harvey und mich zusammengeführt.
Nicht nur auf dem Eis sind wir unzertrennlich geworden, sondern auch im echten Leben; fernab von Schlittschuhen und Kälte. Aber nur freundschaftlich, immerhin ist Harvey mit seinem Langzeitfreund Gabriel verlobt.
Und ja, ein bisschen neidisch bin ich schon auf die beiden, denn nach meiner Trennung von Paxton hat es nie wieder ein Mann geschafft, sich in mein Herz zu schleichen.
Na ja, dafür habe ich ja das Eiskunstlaufen, das mir treu erhalten bleibt ...
„Wir rocken das jetzt, Islay! Alles klar?!" Harveys dunkle Augen sprühen vor lauter Energie und Tatendrang Funken. Seine positive Ausstrahlung ist ansteckend, sodass ich die Angst aus meinem Herzen verbanne und nur noch von Optimismus und Willensstärke heimgesucht werde.
„Los geht's!"
Hand in Hand nähern sich Harvey und ich der Eisfläche. Bereit, um uns für die Olympischen Spiele zu qualifizieren.
***
Ich donnere wütend meine Schlittschuhe auf den Boden und raufe mir danach verzweifelt die Haare.
Wie kann es sein, dass ich plötzlich so verdammt unsicher auf dem Eis bin und nicht mal mehr die simpelsten Sprünge beherrsche? Seit ich vor rund eineinhalb Monaten an der FSU mit meinem Eiskunstlauftraining begonnen habe, fühle ich mich wie eine Versagerin. Nichts funktioniert mehr und läuft stattdessen bergab.
Keine Ahnung, ob das daran liegt, weil meine Gedanken ständig zu Paxton schweifen, oder ob ich einfach zu schlecht bin. Fakt ist allerdings, dass ich mit meiner aktuellen Leistung keinen einzigen Wettbewerb gewinnen würde. Damit rückt mein Traum von einer Eislaufkarriere immer weiter in die Entfernung.
„Islay?" Die Stimme von Coach Miller ertönt. Gleich darauf klopft es zweimal an der Kabinentür.
Oh nein!
Ich wische mir schnell die Tränen der Enttäuschung von den Wangen, zwinge mir ein Lächeln auf die Lippen und krächze dann: „J-Ja?"
Langsam öffnet sich die Tür, sodass Coach Miller zum Vorschein kommt. Ihr Gesichtsausdruck ist emotionslos und lässt keinerlei Schlüsse auf ihre Gedanken zu, als sie sich vorsichtig zu mir auf die Holzbank hockt.
„Ich sehe, dass du dich bemühst und anstrengst", beginnt sie mit eisiger Stimme zu sagen, „aber du bist mit Abstand das schwächste Glied in unserem Team."
Autsch. Ihre Worte bohren sich wie eine Messerklinge in mein Herz und teilen es in zwei Hälften.
„Die FSU bildet talentierte Eiskunstläufer aus, die künftig an internationalen Wettbewerben und vielleicht sogar bei den Olympischen Spielen teilnehmen sollen." Die Augen von Coach Miller lodern gefährlich. Als würde dort ein Feuer der Vernichtung entfacht werden. „Wer seine Leistung nicht abruft, fliegt aus dem Team. Hart, aber fair."
Ohne es verhindern zu können, kullern die ersten Glasperlen über meine Wangen. Es fällt mir unheimlich schwer, zu atmen und nicht schluchzend in meinen eigenen Tränenfluten zu ertrinken.
Ich weiß ganz genau, was mir Coach Miller sagen möchte, denn es war ehrlich gesagt nur eine Frage der Zeit, bis sie mich rauswerfen würde. Bei meiner miserablen Leistung ist das auch nicht verwunderlich.
„Es tut mir leid, Islay, aber du wirst nicht länger Teil der FSU sein!"
Und so zerbricht nicht nur mein Herz in Millionen Scherben, sondern mein ganzes Leben.
***
„Nein! Nein! Nein!", schreie ich verzweifelt. Meine Brust hebt und senkt sich in viel zu schnellen Abständen, während ich meine Augen aufreiße.
Coach Miller und die Umkleidekabine verschwinden und werden durch einen kleinen, dunklen Raum ersetzt.
Wo zum Teufel bin ich hier?
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich mich an die Dunkelheit gewöhnt habe und eine weitere Person neben mir ausmache.
Nox ...
Scheiße! Was für ein krankes Spiel wird hier mit mir gespielt? Und woher wissen sie von Paxton, Tom und der FSU?
„Islay", wispert Nox leise meinen Namen. Er kommt einen Schritt auf mich zu und möchte nach meiner Hand greifen, doch ich ziehe sie rechtzeitig zurück. „Du ... Du hast noch nicht alle Szenarien durchlebt", stammelt er schließlich verwirrt.
„Was?!" Ich runzele verständnislos die Stirn.
Keine Ahnung, was in den letzten Minuten alles passiert ist, aber den Schmerz, den mein Rauswurf an der FSU ausgelöst hat, erträgt mein Herz nicht. Der Kummer nagt an mir und betäubt mich. Macht mich unfähig, richtig zu atmen.
„Ganz ruhig!", dringt Nox' Stimme wie durch Watte gedämpft zu meinen Ohren hindurch. „Das alles war nicht real, Islay. Das waren bloß mögliche Szenarien, wie dein Leben eventuell weiterverlaufen wäre, wenn du nicht auf dem Eis gestorben wärst."
„Was?!", entflieht es mir nun zum zweiten Mal. Allerdings deutlich hysterischer und wütender.
Ich bin so überfordert, dass ich Nox den Rücken zukehre und panisch aus dem kleinen Raum stürze. Direkt gelange ich in den endlosen Gang mit den unzählig vielen Türen. Ohne großartig darüber nachzudenken, was ich überhaupt tue, sprinte ich durch den Korridor; einfach nur weg von Nox.
Er kann mir so oft einreden, dass ich tot sei, wie er möchte.
Irgendwann finde ich einen Ausweg aus dem Seelenschwank und beweise der Welt, dass ich die Nummer Eins im Eiskunstlaufen bin.
Denn eine Islay Clinton stirbt nicht auf dem Eis und sie wird erst recht nicht von der FSU geworfen!
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