7 - Vor verschlossenen Türen
Islays POV
Ich lächele. Nicht, weil es mir gutgeht, sondern weil mein Herz so verdammt wehtut.
„Du bist die Einzige", hallen Nox' Worte wie ein niemals endendes Echo in meinem Kopf wider.
Nach über 800 Jahren soll ausgerechnet ich diejenige sein, die bei einem missglückten Backflip stirbt? So ein Schwachsinn! Die ganze Zeit habe ich nach Beweisen gesucht, dass hier irgendein perverses Spiel mit mir gespielt wird, und endlich habe ich ihn gefunden.
Ich beherrsche das Eis wie sonst niemand. Natürlich mache ich auch mal Fehler und stürze, aber normalerweise trage ich bloß harmlose Verletzungen davon.
Allgemein habe ich noch nie gehört, dass ein Eiskunstläufer auf dem Eis gestorben ist. Zumindest nicht, weil sein Kopf auf dem harten Untergrund aufgeschlagen ist.
Es kostet mich meine ganze Selbstbeherrschung, meinen Zorn zu unterdrücken und Nox mit einem gespielt unschuldigen Gesichtsausdruck anzuschauen.
Ich habe keine Ahnung, wer er ist und was es mit dieser Bar und den vielen, schimmernden Menschen auf sich hat, doch an einen Ruhepunkt zwischen Leben und Tod glaube ich schon lange nicht mehr. In dem Moment, in dem ich meinen angeblichen Tod nacherlebt habe, wurde mir bewusst, dass dieser Ort bloß eine Illusion sein kann. So etwas ähnliches wie ein Albtraum.
Denn wie schon gesagt: Niemand stirbt, weil er den Backflip nicht abfangen kann und auf das Eis kracht. Erst recht keine Islay Clinton, die eine Zusage von der renommierten Fawnsville Skating University erhalten hat.
Wahrscheinlich wird es noch ein paar Stunden oder Tage in Anspruch nehmen, bis ich einen Ausweg aus dieser Hölle finde. Bis dahin werde ich gute Miene zum bösen Spiel machen.
Zufrieden mit meinem Plan frage ich Nox möglichst hilflos: „Und wie geht es jetzt weiter?"
Mitleid und Schmerz ranken sich um seine dunkelbraunen Augen. Ich kann ihm ansehen, wie sehr ihn mein vermeintliches Schicksal berührt, und genau diese emotionale Schwäche werde ich ausnutzen und mir zum Vorteil machen.
„Du musst deine Dämonen bekämpfen", antwortet mir Nox nach wenigen Sekunden, „und lernen, deine Vergangenheit loszulassen."
„Okay." Ich nicke. Dann möchte ich von ihm wissen: „Und wie genau schaffe ich das?"
Mit jedem Wort, das meinen Lippen entflieht, lockert sich Nox' angespannter Gesichtsausdruck. Sein Blick wird weicher und ein sanftes Lächeln zupft an seinen Mundwinkeln.
Dass er mein Interesse an dem Jenseits als glaubwürdig und echt abstempelt, ist nicht zu übersehen.
„In diesem Gang gibt es verschiedene Türen mit unterschiedlichen Nummern", erklärt mir Nox. „Du musst als nächstes die Tür mit der Drei suchen. Was dich dahinter erwartet, kann ich dir leider nicht sagen. Ich weiß nur, dass es etwas mit deinem Tod und deinem Leben auf der Erde zu tun haben wird."
Am liebsten würde ich meine Augen verdrehen, aber stattdessen nicke ich brav. Wie eine manipulierte Marionette. „Begleitest du mich?" Meine Stimme wird von einem Hauch Hoffnung durchzogen. „Bitte, Nox."
Mein Gegenüber schluckt schwer. Er scheint innerlich einen Kampf mit sich selbst auszufechten, denn seine Pupillen springen rastlos von rechts nach links. Mehrere Sekunden verstreichen, bis er schließlich frustriert seufzt und behauptet: „Ich kann nicht, Islay."
„Warum nicht?", hake ich direkt nach.
Ein weiterer Seufzer befreit sich aus seinem Mund. „Es gibt noch so viele andere Seelen, die auf mich und meine Hilfe angewiesen sind. Ich kann sie nicht so lange allein lassen."
Dass Nox am liebsten nicht mehr von meiner Seite weichen würde, erkenne ich an dem entschuldigenden Lächeln, das er mir zuwirft. Obwohl er mich überhaupt nicht kennt, habe ich es binnen kürzester Zeit geschafft, sein Herz zu gewinnen.
Natürlich unbewusst und ungewollt! Aber seine Gefühlsduselei wird mir bei meinem Plan ausschließlich zugutekommen.
„Okay, das verstehe ich", besänftige ich Nox' Schuldgefühle, indem ich kurz seine Hand streife. „Geh ruhig zu den anderen Seelen. Ich komme auch ohne dich zurecht."
Tiefe Furchen graben sich nun in seine Stirn. „Bist du sicher?"
Ich nicke. „Wenn etwas sein sollte, weiß ich ja, wo ich dich finden kann", füge ich hinzu.
Dieses Mal liegt es an Nox, zu nicken. Für ein paar Sekunden wandern seine dunklen Augen noch prüfend über mein Gesicht, bis er vorschlägt: „Ich könnte Tessie zu dir schicken ..."
Das unschuldige Mädchen mit den wilden, roten Locken?
Gar keine schlechte Idee, denn so gesprächig wie sie ist, kann ich vielleicht noch ein paar neue Informationen über Nox und das Seelenschwank aus ihr herauskitzeln.
„Das wäre lieb", antworte ich nach kurzer Bedenkzeit.
„Gut. Dann gebe ich ihr Bescheid", verspricht mir Nox. „Am besten, du wartest hier auf sie."
„Einverstanden!"
Ich habe keine Ahnung, warum es Nox so schwerfällt, zurück hinter seinen Bartresen zu verschwinden, doch er dreht sich alle zwei Meter zu mir um. Als müsse er sich versichern, dass es mir gutgeht und ich noch nicht wie ein Kartenhaus in mir zusammengefallen bin.
Als er dann endlich nach mehreren Minuten aus meinem Sichtfeld verschwunden ist, atme ich erleichtert die angehaltene Luft aus. Sofort kämpfen sich mehrere Tränen der Verzweiflung aus meinen Augen und kullern stumm und hilflos über meine Wangen.
„Ich bin nicht tot", murmele ich leise. „Das ist unmöglich!"
Beinahe hätte ich Nox und Tessie diesen Quatsch mit dem Seelenschwank abgekauft. Es war mein angeblicher Tod auf der Eisfläche, der mich wachgerüttelt und mir verraten hat, dass etwas nicht stimmt.
Wie ich von diesem merkwürdigen Ort fliehen kann? Mir wird schon noch etwas einfallen. Hoffe ich jedenfalls ...
Kaum hat sich dieser Gedankengang aufgelöst, wische ich mir die Tränen von den Wangen und hebe den Kopf. In der Ferne mache ich eine kleine, zierliche Gestalt aus, die mit langsamen Schritten in meine Richtung gelaufen kommt.
Der Teddybär, der in der rechten Hand der Gestalt baumelt, verrät mir, dass es sich um Tessie handelt.
Na dann ... Lasset das Schauspiel beginnen!
***
Nox' POV
Es macht mich wahnsinnig, nicht bei Islay sein zu können. Zwar ist sie bei Tessie in den besten Händen, aber ich wäre gerne derjenige gewesen, der ihr in dieser schwierigen Zeit Kraft und Rückhalt spendet.
Mir ist bewusst, dass es Islay schwerfällt, ihren Tod zu akzeptieren, doch sie befindet sich auf dem richtigen Weg. Schon bald kann sie den Ballast ihrer Vergangenheit abwerfen und damit anfangen, in ein neues Leben zu starten. Ein Leben, das sich im Jenseits abspielen wird. Ohne mich.
Da meine Gedanken ausschließlich um die junge Frau mit den wunderschönen Augen kreisen, führe ich meine Arbeit hinter dem Bartresen nur halbherzig aus. Eigentlich habe ich keine Lust darauf, mich mit den verstorbenen Seelen zu unterhalten und ihnen mit meinen Ratschlägen den Weg ins Jenseits zu ebnen, allerdings kann ich mich nicht dagegen sträuben, denn mein Job hat immer oberste Priorität.
Ich schiebe Daphne; einer jungen Frau, die bei der Geburt ihres Sohnes gestorben ist; gerade einen Reapers Rum Runner zu, als plötzlich die kleine Tessie auf einen Barhocker klettert. Ihren Teddybären Zuckernase setzt sie wie immer auf den Holztresen.
Tessie sieht angespannt aus. Und überfordert. Und verwirrt. Ihre blauen Augen, die normalerweise vor lauter Energie Funken sprühen, werden von einem milchigen, trüben Schleier umspielt.
„Lass dir den Reapers Rum Runner schmecken", säusele ich Daphne noch schnell mit einem aufgesetzten Lächeln zu, ehe ich mich besorgt an Tessie wende. Bei ihrem kümmerlichen Anblick nimmt mein Gedankenkarussell sofort volle Fahrt auf. „Was ist los?", frage ich sie hektisch „Wo ist Islay? Ist etwas mit ihr passiert?"
Winzige Fältchen bilden sich auf Tessies Stirn und verleihen ihrem kindlichen Gesicht einen ernsten Ausdruck.
Oh Gott, diese Ungewissheit macht mich ganz krank!
Am liebsten würde ich Tessie einmal kräftig durchschütteln, damit sie mir endlich eine Antwort gibt, aber stattdessen lege ich vorsichtig meine Hand auf ihre und male kleine, beruhigende Muster auf ihre Haut. „Bitte sprich mit mir, Tessie", flehe ich sie an.
Ganz langsam hebt sie ihren Kopf, sodass sich ihre blauen Augen unangenehm in meine Pupillen bohren. Wie Pfeilspitzen, die zuvor in eine giftige Flüssigkeit getränkt wurden.
„Islay ... Sie ..." Die Verwirrung, die Tessies Stimme dominiert, ist kaum in Worte zu fassen. Wahrscheinlich fegt gerade ein gigantischer Tornado über ihre Seele, der es ihr unmöglich macht, ihre Gedanken laut auszusprechen.
„Was ist mit Islay?", hake ich bemüht ruhig nach, obwohl bereits ein Feuer der Ungeduld in meinem Magen lodert.
Noch nie zuvor habe ich so intensiv auf eine Seele reagiert, doch bei Islay spielt mein Körper verrückt. Und meine Emotionen und mein Herz erst recht!
„Alle Türen ...", murmelt Tessie leise. „Sie sind verschlossen."
„Wie meinst du das?"
Das kleine Mädchen klemmt sich ihren Teddybären unter den Arm, ehe sie von dem Barhocker springt und sich meine Hand schnappt. Verwirrt, aber dennoch entschlossen lotst sie mich über die Tanzfläche; geradewegs zu der Treppe, die ins Obergeschoss führt.
Obwohl es heiß und stickig in der Bar ist, ist mir plötzlich eiskalt. Ich blende die laute Musik und die hellen Scheinwerferlichter aus und nehme nur noch den beißenden Geruch der Angst wahr. Kein Tropfen Alkohol und keine Perle Schweiß wabern mehr durch die Luft.
Wie in Trance erklimmen Tessie und ich die vielen Treppenstufen. Der Gang, von dem rechts und links die vergoldeten Türen abzweigen, zieht sich wie ein endloses Kaugummi in die Länge und scheint überhaupt kein Ende mehr nehmen zu wollen.
Fast schon fürchte ich, an einem Herzstillstand, ausgelöst durch Panik und Besorgnis, zu sterben, da erkenne ich endlich Islays Silhouette in der Ferne. Ohne zu zögern beschleunige ich mein Tempo und überbrücke die letzten Meter zwischen uns.
„Islay!", keuche ich außer Atem, sobald ich sie erreicht habe.
Ihre wunderschönen, grünen Augen sind geweitet und ein zarter Rotschimmer küsst ihre Wangen. Abgesehen von der Hilflosigkeit, die ihr Gesicht kennzeichnet, sieht sie unversehrt aus.
Gott sei Dank!
„Was ist passiert?", möchte ich dennoch besorgt von ihr wissen.
„Ich ... Ich wollte doch einfach nur die Tür mit der Nummer Drei öffnen", stammelt sie überfordert. „Aber ..." Sie bricht ab und schaut hilfesuchend zu Tessie hinüber, die mittlerweile bei uns angekommen ist. Ihren Teddy Zuckernase hat sie wie immer fest an ihre Brust gepresst.
„Die Türen sind verschlossen", beendet Tessie leise den Satz.
„Was?", hake ich verständnislos nach. „Wie meinst du das? Wenn der Sensor auf der Lichtleiste grün leuchtet, ist der Raum frei."
Daraufhin schütteln Tessie und Islay synchron ihre Köpfe. Als würde ich Blödsinn erzählen. „Zeig es ihm!", fordert Tessie nun die junge Frau mit den grünen Augen auf.
Sofort tritt Islay auf die goldene Tür zu, auf dessen Oberfläche eine Drei eingraviert ist. Die grüne Lichtleiste zeigt an, dass sich derzeit keine andere Seele in dem dahinterliegenden Zimmer befindet.
Aufmerksam beobachte ich Islay dabei, wie sie ihre Finger um die Türklinke legt. In dem Moment, in dem sie den Griff nach unten drücken möchte, erscheint ein riesiges Vorhängeschloss mit Ketten, die sich wie Spiralen um die Klinke winden.
„Was zum Teufel?!"
In den letzten 823 Jahren habe ich schon viel gesehen. Sachen, die ich mir nicht erklären konnte. Aber noch nie war ein Schloss dabei, das auf magische Art und Weise auftaucht und eine Tür versperrt.
Vor lauter Überforderung fällt mir nichts Besseres ein, als Islay zu raten: „Probier doch mal eine andere Tür aus ..."
Direkt kommt sie meiner Aufforderung nach und macht zwei Schritte nach rechts. Die goldene Tür mit der eingravierten Drei sieht genauso aus wie die Vorherige.
Islay holt noch einmal tief Luft, ehe sie ihre Finger auf die Klinke legt und sich erneut ein Vorhängeschloss aus dunklen Nebelschwaden formt. Fast schon scheint es, als würde der Rauch verhindern wollen, dass sich Islay mit den Dämonen ihrer Vergangenheit auseinandersetzt.
„Was hat das zu bedeuten, Nox?", fragt mich die kleine Tessie ängstlich. Auch Islay dreht neugierig ihren Kopf in meine Richtung und blinzelt mich erwartungsvoll aus ihren grünen Augen an.
„Ich habe keine Ahnung", wispere ich ehrlich, „aber ich werde es herausfinden. Versprochen!"
Begleitet von meinem polternden Herzen kehre ich Tessie und Islay den Rücken zu. Gedanklich befinde ich mich schon lange nicht mehr im Seelenschwank, doch Islay lässt mich ein letztes Mal innehalten. „Was hast du vor, Nox?"
Ich schenke ihr ein aufmunterndes Lächeln. Nicht nur um sie, sondern auch mich selbst zu beruhigen.
„Ich werde mich mit dem Tod treffen. Jetzt sofort!"
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