4 - Neuanfang

Nox' POV

Es ist zum Verrücktwerden, denn seit die junge Frau mit den unergründlichen Augen das Seelenschwank betreten hat, kann ich mich nicht mehr auf meine Arbeit konzentrieren. Ständig erwische ich mich dabei, wie ich zu ihr hinüberschaue und dem Drang widerstehen muss, zu ihr zu gehen.

Ich würde ihr so gerne helfen, aber ich kann nicht. Sie weiß alles, was sie über diesen Ort wissen muss. Jetzt liegt es an ihr, meine ausgestreckte Hand anzunehmen.

„Nox?" Ich zucke zusammen, als ich meinen Namen höre. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich meine Sicht schärft und meine Augen auf der kleinen Tessie mit den wilden, roten Locken landen. Und auf ihrem Teddybären Zuckernase, den sie fest an ihre Brust drückt.

Tessie ist erst seit einer Woche bei mir im Seelenschwank und trotzdem hat sie sich schon einen großen Platz in meinem Herzen erkämpft. Ihr Abschied wird mich mindestens genauso hart treffen wie der von Gus.

„Und?", frage ich das kleine Mädchen neugierig. „Wie ist es gelaufen?"

Während ich vor lauter Nervosität beinahe explodiere, klettert Tessie in aller Seelenruhe auf einen Hocker und setzt ihren Teddy auf den Bartresen. Direkt neben ein leeres Cocktailglas, das schon seit zehn Minuten darauf wartet, von mir gespült zu werden. Ich sag's ja: Ich bin abgelenkt und nicht bei der Sache.

„Na ja ..." Tessie verzieht ihren Schmollmund zu einer unzufriedenen Grimasse. Oh nein, ich ahne Böses. „Ich habe mir wirklich Mühe gegeben, aber sie wollte mir nicht zuhören."

Ein Stich der Enttäuschung durchzuckt mein Herz. Gleichzeitig sacke ich ein paar Zentimeter in mir zusammen.

Warum ist die Frau mit den wunderschönen Augen bloß so verdammt stur? Natürlich ist es nicht einfach, sich seinen eigenen Tod eingestehen zu müssen, aber ich bin da, um sie aufzufangen und um ihr zu helfen. Versteht sie das denn nicht?

„Okay." Meine Stimme klingt kratzig und rau. Überhaupt nicht nach mir selbst. „Schon gut, Tessie." Ich beuge mich über den Tresen und tätschele kurz ihre Schulter. „Du hast es wenigstens versucht. Danke!" Obwohl mir lieber nach weinen zumute wäre, zwinge ich mich zu einem Lächeln. „Bitte sag mir, dass sie dir zumindest ihren Namen verraten hat."

„Ja, hat sie." Tessies Antwort lässt mein Herz eine Oktave höherschlagen. „Sie heißt Islay."

Wow. Diesen Namen habe ich noch nie zuvor gehört. Er ist genauso besonders wie die Frau, die ihn trägt.

Islay ... Am liebsten würde ich diese fünf Buchstaben laut aussprechen, um zu schauen, wie sie sich auf meiner Zunge anfühlen, doch ich schaffe es noch so gerade, diesem Drang zu widerstehen. Alles andere wäre mir auch vor Tessie zu peinlich gewesen.

Apropos Tessie ...

Ich habe sie darum gebeten, mit Islay zu sprechen, um ihre Zweifel und Sorgen einzudämmen. Ich dachte wirklich, dass sie es schaffen würde, ihre Angst zu bändigen, aber leider habe ich falsch gedacht.

Jetzt bleibt mir nichts anderes übrig, als Islay ihren Freiraum zu geben und darauf zu warten, dass sie irgendwann bereit ist, meine Hilfe anzunehmen.

Wann genau das sein wird? Vielleicht schon morgen, vielleicht aber auch erst in zwei Monaten.

„Nox?", reißt mich Tessies Stimme erneut aus meinen Gedanken in die Realität zurück. Ihre unzufriedene Fassade bröckelt und weicht plötzlich einem frechen Grinsen. „Das war nur ein Scherz! Natürlich habe ich es geschafft, Islays Meinung über dich und das Seelenschwank zu ändern. Sie müsste bald zu dir kommen und dich um Hilfe bitten."

Was?! Ich starre Tessie ungläubig an. Mein Herz macht einen aufgeregten Satz und schlägt dann doppelt so schnell weiter, wie zuvor.

Wusste ich es doch, dass auf den kleinen Sonnenschein Verlass ist!

„Oh mein Gott!", schaffe ich es nicht, meine aufkeimende Freude zu verbergen. „Du bist die Beste, Tessie! Ach Quatsch, die Allerbeste!" Vor lauter Euphorie umrunde ich den Bartresen und drücke das kleine Mädchen ganz fest an mich.

„Das macht dann einen Todesumarmungstee, bitte", grinst sie mich schelmisch an. „Oh, und eine Freundin für Zuckernase!"

Automatisch erwidere ich Tessies Grinsen. „Alles, was du willst!"

***

Ich verabschiede mich gerade von Terry, der mir stolz von seinen Fortschritten erzählt hat, als sich eine Seele auf dem Barhocker direkt gegenüber von mir niederlässt. Ohne den Blick heben zu müssen, verrät mir mein aufgeregt pulsierendes Herz, dass es sich um Islay handelt.

Ob Tessie Recht hatte und sie gekommen ist, um meine Hilfe anzunehmen? Ich hoffe es.

„Hey." Islays Stimme ist leise und wird von einem Hauch Unsicherheit durchzogen.

Da sich bei dem Klang sofort ein wohliges Kribbeln in meinem Körper ausbreitet, hebe ich den Kopf und schaue geradewegs in ihre grünen Augen. Auch wenn die Ungewissheit und Skepsis in ihrem hübschen Gesicht überwiegen, formt sie ihre Lippen zu einem sanften Lächeln.

„Hey", erwidere ich genauso leise. Am liebsten würde ich sie mit mehreren Fragen überfallen, doch sie ist diejenige, die den ersten Schritt machen muss, und nicht ich.

Für ein paar Sekunden ist es mucksmäuschenstill zwischen uns. Islay öffnet zwar immer wieder ihren Mund, scheint aber nicht zu wissen, was sie sagen soll. Also schweigt sie.

Na toll ... So kommen wir nicht vorwärts.

Um ihr einen kleinen Anstoß zu geben, frage ich sie: „Kann ich dir irgendwie behilflich sein?"

„Ich ..." Islay unterbricht sich und seufzt einmal. Dass ihr dieses Gespräch nicht leichtfällt, ist nicht zu übersehen. Trotzdem gibt sie sich irgendwann einen Ruck. „Können wir vielleicht nochmal von vorne anfangen, Nox?" Tatsächlich schleicht sich bei ihren Worten ein hoffnungsvolles Funkeln in ihre Augen. Ein Funkeln, dem ich keinen Wunsch abschlagen kann.

„Natürlich!" Hoffentlich kann sie nicht hören, wie sich mein Herz gerade vor lauter Freude überschlägt. Ich bemühe mich, keinem strahlenden Honigkuchenpferd Konkurrenz zu leisten, als ich ihr meine Hand entgegenstrecke und fröhlich säusele: „Ich bin Nox. Mir gehört das Seelenschwank."

Ganz langsam und zaghaft wandern Islays Mundwinkel in die Höhe. Sie greift nach meiner Hand und schüttelt sie und entfacht damit ein loderndes Feuer unter meiner Haut. „Schön, dich kennenzulernen, Nox", spielt sie das Spiel mit. „Ich heiße Islay." Leider zieht sie ihre Hand wieder viel zu schnell zurück und stammelt dann schüchtern: „Tessie meinte, du könntest mir helfen ..." Es scheint ihr unangenehm zu sein, mich um Hilfe zu bitten, denn sie senkt mit geröteten Wangen ihren Kopf.

Oh Gott, wie gerne ich ihr die haselnussbraunen Strähnen aus der Stirn streichen würde ... Mein Körper schreit förmlich danach, sie zu berühren, aber natürlich tue ich das nicht. Nicht, wenn ich weiß, dass sie das nicht möchte.

Kaum merklich schüttele ich mich, um meine Gedanken zu vertreiben. Danach lenke ich den Fokus zurück auf das Wesentliche.

„Da hat unsere kleine Tessie ausnahmsweise mal recht", bestätige ich mit einem frechen Zwinkern. „Komm mit."

Ich lege das Trockentuch, mit dem ich noch vor wenigen Minuten über die Holzplatte gewischt habe, zur Seite, und umrunde anschließend den Bartresen. Vor Islay angekommen, strecke ich ihr erneut meine Hand entgegen und warte darauf, dass sie ihre Finger mit meinen verwebt. Leider vergeblich.

„Wo willst du mich hinbringen?", fragt sie skeptisch. Ohne meine Hand zu nehmen, springt sie von dem Hocker und schaut mich aus misstrauischen Augen an.

Alle Zweifel scheint Tessie nicht beseitigt zu haben, aber das ist nicht schlimm. Hauptsache Islay gibt mir und dem Seelenschwank eine Chance. Der Rest wird sich von ganz allein fügen.

„Das klingt schlimmer als es ist, aber ich werde dir zeigen, wie du gestorben bist."

Kaum sind meine Worte verklungen, reißt Islay entsetzt ihre Augen auf. Panik spiegelt sich in ihrem Blick wider und ihre Brust hebt und senkt sich in viel zu schnellen Abständen. „W-Was?", krächzt sie benommen.

„Schon gut", lächele ich sie aufmunternd an. „Du musst keine Angst haben."

Auch wenn es gemein ist, nutze ich ihre Überforderung aus, indem ich mir ihre Hand schnappe und sie ins erste Obergeschoss führe. Islay ist zwar angespannt und stocksteif, aber immerhin folgt sie mir ohne Widerrede.

Die erste und zweite Etage des Seelenschwanks sehen beinahe identisch aus. In beiden Stockwerken erstrecken sich endlos lange Gänge, von denen rechts und links mehrere Türen abzweigen. Während im zweiten Obergeschoss Namen auf den Türen stehen, sind die Oberflächen im ersten Stock mit Nummern beschriftet. Über dem Rahmen ist außerdem eine Lichtleiste mit zwei Sensoren angebracht. Leuchtet das Licht grün, so ist der Raum noch frei. Erscheint allerdings ein rotes Licht, ist das Zimmer bereits besetzt.

Islay und ich müssen uns bis zur fünften Tür auf der rechten Seite vorkämpfen, bis wir einen grün blinkenden Sensor finden. Auf der hölzernen Oberfläche ist die Zahl Eins eingraviert, die symbolisch für den ersten Schritt in Richtung Jenseits steht.

„So ... Da wären wir."

Ich schaue vorsichtig zu Islay hinüber und stelle fest, dass sie noch immer in einer Art Trance gefangen zu sein scheint, denn ihre Augen sind ausdruckslos und ihr Körper zittert.

Oh je, das sind keine besonders guten Voraussetzungen. Trotzdem führt kein Weg an dieser Tür vorbei.

„Bist du aufnahmefähig, Islay?", erkundige ich mich besorgt bei ihr, woraufhin sie zum Glück benommen nickt. „Also gut. Sobald du über die Türschwelle trittst, wirst du mehrere Situationen aus deiner Vergangenheit erleben", erkläre ich ihr. „Meistens sind das kurze Sequenzen, die etwas mit deinem Tod zu tun haben."

Islay blinzelt ein paar mal. Ob das ein gutes oder schlechtes Zeichen ist, weiß ich allerdings nicht.

„Wahrscheinlich klingt das total komisch, aber vielen Seelen hilft es, ihren Tod zu sehen. Dann verstehen sie nämlich, dass sie wirklich gestorben sind und sich nicht in irgendeinem Albtraum oder so befinden."

Mit jedem Wort, das meine Lippen verlässt, werden Islays Augen größer.

Natürlich ist mir bewusst, dass ich sie gerade maßlos überfordere, aber mir bleibt leider keine andere Wahl. Je eher sie ihren Tod akzeptiert, umso besser.

„Du musst einfach nur durch die Tür gehen, okay? Der Rest ergibt sich dann von selbst."

Islay sieht unentschlossen aus. Und verwirrt. Und ängstlich. Wie in Zeitlupengeschwindigkeit dreht sie ihren Kopf in meine Richtung und verwebt unsere Blicke wie ein Spinnennetz miteinander. „Ich ... Ich werde also gleich sehen, wie ich gestorben bin?", möchte sie mit zittriger Stimme von mir wissen.

„Ja." Dass sie ihren Tod auch fühlen und nacherleben wird, betone ich kein zweites Mal. „Du musst aber wirklich keine Angst haben, Islay. Dir kann nichts passieren! Und glaub mir: Danach wirst du dich besser fühlen!"

Ein emotionsloses Lachen entflieht ihren Lippen. „Und was, wenn nicht?", hakt sie nach. Für ein paar Sekunden schließt sie ihre wunderschönen, grünen Augen und atmet tief durch. Ich kann förmlich sehen, wie die Gedanken rastlos und wild durch ihren Kopf fliegen und sie nicht weiß, was sie von dieser Situation denken soll. „Schenkst du mir dann auch so einen süßen Teddy, wie Tessie?"

Ich schmunzele. „Einverstanden."

„Okay."

Als hätten wir gerade einen wichtigen Geschäftsdeal abgeschlossen, schütteln wir uns die Hände. Dann entscheidet sich Isaly für das einzig Richtige: Sie öffnet die Tür mit der Nummer Eins, tritt über die Schwelle und taucht in die Erinnerungen ihres eigenen Todes ab.

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