14 - Ruhe in Frieden!

Islays POV

‚Nox, du verdammter Mistkerl!'

Das ist der erste Gedanke, der mir wie ein Geist durch den Kopf spukt, als ich meine Augen öffne. Ein flüchtiger Blick verrät mir, dass ich mich auf einer Bank im Seelenschwank befinde. Um mich herum ragt ein elektrisches Spannungsfeld bis zur Zimmerdecke empor, das mich in einer kleinen Nische gefangen hält.

Woher ich weiß, dass Nox diese Strombarriere errichtet hat? Ganz einfach: Weil er derjenige ist, der die Strippen seiner Marionetten, oder wie er es nennt Seelen, zieht.

Ich stoße ein frustriertes Seufzen aus und schwinge meine Beine über die Kante der Bank. Kurz tanzen schwarze Sterne vor meinen Augen, doch sie lösen sich schnell wieder in Luft auf.

„Nox?", frage ich verunsichert. In der Hoffnung, dass er mich hört.

Doch natürlich steht das Schicksal nicht auf meiner Seite, denn es folgt keine Antwort.

Also trete ich vorsichtig an das Spannungsfeld heran. Obwohl die Musik im Seelenschwank unerträglich laut ist, nehme ich das elektrische Knistern mehr als nur deutlich wahr. Es setzt sich zu einer Komposition des Grauens und der Angst zusammen und erinnert mich an ein Lied aus Warnsignalen.

„Nox!", brülle ich nun energischer.

Allerdings wieder ohne Erfolg.

Da er mich in einer Nische am Rand des Seelenschwank eingesperrt hat, schaffe ich es nicht einmal, andere Seelen mit meinem Stimmvolumen auf mich aufmerksam zu machen.

Vollgepumpt mit Frustration stampfe ich auf den Boden. Dabei berühre ich aus Versehen das Spannungsfeld, sodass ein Blitz aus Strom durch meinen Körper schießt. Er lähmt nicht nur mein Herz, sondern presst gleichzeitig die letzten Luftreserven aus meinen Lungenflügeln.

„Scheiße!", fluche ich und taumele notgedrungen zu der Sitzbank zurück, um mein kribbelndes Bein nicht mehr belasten zu müssen.

Wie ich schon vor einigen Minuten festgestellt habe: „Nox, du verdammter Mistkerl!"

***

Ich kann nicht genau sagen, wie lange mich die Strombarriere gefangen hält und ich winselnd über mein Bein streiche, doch irgendwann erkenne ich Nox' Haarschopf zwischen all den tanzenden Seelen. Statt mich nun aus diesem blöden Käfig zu befreien, steuert er mit schnellen Schritten seine Bar an und macht sich hinter dem Tresen zu schaffen.

Ernsthaft?!

Mit zusammengekniffenen Augenbrauen beobachte ich Nox dabei, wie er einen Cocktail zubereitet. Zu meiner großen Überraschung reicht er das Getränk aber an keine Seele weiter, sondern trinkt die gelb schimmernde Flüssigkeit selbst aus.

Ob er wohl mit Mortimer gesprochen hat? Und war das Gespräch eventuell so kräftezehrend, dass er seinen Kummer im Alkohol ertränken muss? Ich hoffe nicht, denn das hätte auch für mich fatale Folgen.

Obwohl es mir schwerfällt, ruhig auf der Bank sitzen zu bleiben und mein Bein hochzulegen, warte ich, bis sich Nox passend zu dem Lied Highway to Hell von AC/DC meinem Gefängnis nähert.

Noch mehr Ironie hält das Schicksal aber nicht bereit, oder?

Mit jedem Schritt verkürzt Nox die Entfernung zwischen uns und beschleunigt somit meinen Herzschlag.

Um ehrlich zu sein, sieht Nox total beschissen aus. Dunkle Schatten liegen unter seinen Augen und seine braunen Iriden wirken matt und kraftlos. Außerdem zieren tiefe Furchen seine Stirn und seine Lippen sind zu einer schmalen Linie zusammengepresst. Allgemein scheint er sehr erschöpft und müde zu sein.

„Islay ..." Seine Stimme ist kaum lauter als ein Hauchen und fegt wie eine Windböe über meine Extremitäten. „Ich-" Er bricht ab und senkt den Blick.

Sofort entzündet sich ein Feuer der Nervosität in meinem Magen und eisige Schauder kriechen meinen Rücken hinab. Warum zum Teufel sieht Nox so ängstlich und verwirrt aus? Sonst hat er doch auch fast immer gute Laune ...

„Was ist los, Nox?", frage ich ihn deshalb mit einer Mischung aus Gereiztheit und Aufregung.

Als Antwort stößt er ein Seufzen aus, ehe er einen weißen Schlüssel, der mit schwarzen Schnörkeln und Ornamenten verziert ist, aus seiner Hosentasche hervorkramt. Mithilfe dieses besagten Schlüssels durchbricht er schließlich das Spannungsfeld und steht wenig später unmittelbar vor mir. So nahe, dass sein Atem schauernd über mein Gesicht tanzt.

„Wie ... Wie geht es dir, Islay?", möchte Nox von mir wissen. Dabei schafft er es nicht, mir in die Augen zu schauen.

„Äh", stammele ich perplex, „ich denke gut."

„Okay." Nox nickt.

Kurz warte ich, ob er noch etwas hinzufügen möchte, aber als er nach mehreren Sekunden immer noch schweigt, löchere ich ihn: „Warst du bei Mortimer und hast ihn gefragt, ob ich zu Unrecht im Seelenschwank gelandet bin?" Kaum ist meine Frage laut ausgesprochen, schlägt mein Herz schneller. Als würde es Achterbahn mit Loopings fahren.

„Ja."

Es macht mich verrückt, dass mir Nox nur so knappe Antworten gibt. Normalerweise hat er sich nicht jedes Detail einzeln aus der Nase ziehen lassen.

Auch wenn sich ein Gewitter der Ungeduld in meinem Magen zusammenbraut, bemühe ich mich um ein freundliches Lächeln, bevor ich mich bei Nox erkundige: „Und was meinte Mortimer?"

Nox schweigt.

Eine Sekunde. Zehn Sekunden. Dreißig Sekunden. Eine Minute.

„Tut mir leid", lache ich spöttisch, weil sich meine Geduld dem Ende neigt, „aber ich kann leider keine Gedanken lesen."

Obwohl ein dunkler Schatten über Nox' Augen huscht, wagt er es noch immer nicht, meinen Blick zu erwidern. Stattdessen springen seine Pupillen ruhelos von rechts nach links und wieder zurück.

„Sprich endlich mit mir!", fordere ich ihn wütend auf.

Es macht mich wahnsinnig, dass Nox nicht mit der Sprache rausrückt. Sein Schweigen ist wie Folter für meine Seele und schnürt Fesseln, die in Gift getränkt sind, um mein Herz.

Da ich mir nicht anders zu helfen weiß, schnappe ich mir kurzerhand Tessies Teddybären und drücke ihn Nox in die Hand. „Wenn du schon nicht mit mir reden willst, dann sprich wenigstens mit Zuckernase!"

Tatsächlich erhellt sich Nox' Gesicht bei dem Anblick des Teddys. Aber auch nur für den Bruchteil einer einzigen Millisekunde. Dann möchte er plötzlich wie aus dem Nichts von mir wissen: „Hattest du ein schönes und erfülltes Leben, Islay?"

Was?!

Ich reiße überrascht meine Augen auf und spüre, wie sich mein Herzschlag verdoppelt. Zudem kracht eine Welle des Schwindels über meinem Kopf zusammen, die mich in einem Meer aus Verwirrung ertrinken lässt.

„Mein Leben ist zwar nicht perfekt, aber ich lebe sehr gerne", antworte ich zögerlich. „Wenn es irgendeine Möglichkeit gibt, mich zurück nach Hause zu bringen, dann nutze sie bitte, Nox. Es gibt nämlich noch ein paar Dinge, die ich klären und erledigen muss. Außerdem wartet die FSU auf mich."

Sobald ich nicht mehr im Seelenschwank gefangen bin, werde ich nochmal das Gespräch mit Paxton suchen. Ich kann nicht zulassen, dass er unsere Beziehung einfach so wegwirft und zu feige ist, um für unsere Liebe zu kämpfen.

Was ich danach tun werde? Ganz einfach: Nox bei der Polizei melden! Wer weiß, wie und wann er uns alle entführt hat ...

„Ich ..." Der Mann aus meinen Gedanken räuspert sich. Wahrscheinlich, um das Kratzen aus seiner Stimme zu vertreiben. „Ich kann dich nicht zurück auf die Erde bringen, Islay."

Wie ein Vorschlaghammer zertrümmern seine Worte mein Herz, sodass es in Millionen Scherben zerbricht.

„Wie ... Wie meinst du das?", hake ich verständnislos nach.

Um ehrlich zu sein hatte ich die Hoffnung, dass mich Nox freiwillig aus dem Seelenschwank entlassen würde. Nachdem ich ihn nämlich auf der Eisfläche emotional brechen konnte, war ich mir sicher, er hätte Mitleid mit mir.

Dass er nach wie vor an der Sache mit dem Tod und dem Jenseits festhält, stößt mir bitter auf. Sehr bitter sogar!

Anstatt mir zumindest meine Frage zu beantworten, weicht mir Nox aus. „Wusstest du eigentlich, dass du bei deiner Geburt beinahe gestorben wärst?", fragt er mich völlig aus dem Zusammenhang gerissen.

Auch wenn ich keine Ahnung habe, was er mit seinen Worten bezwecken möchte, werfe ich ihm die Wahrheit wie ein Stück Fleisch vor die Füße. „Ja", sage ich monoton. „Mein Herz ist für ein paar Minuten stehengeblieben, bis es wie durch ein Wunder wieder angefangen hat, zu schlagen."

„Wohl eher wie durch Magie ...", korrigiert mich Nox so leise, dass ich ihn kaum verstehe. Seine braunen Augen wandern über mein Gesicht hinweg und bleiben an Tessies Teddy hängen. Ein kaum merkliches Lächeln zupft nun an seinen Mundwinkeln und löst ein schwaches Funkeln in seinen Iriden aus.

„Ich musste dir in der Eishalle vertrauen, Islay", wechselt Nox schon wieder das Thema. „Erinnerst du dich?"

Ich nicke.

„Jetzt musst du mir einmal vertrauen, okay?"

Ich schlucke schwer und merke, wie sich ein Kloß, der mindestens so groß wie ein Felsbrocken ist, in meinem Hals formt.

Ich befinde mich nicht mehr auf dem Eis. Dementsprechend bin ich Nox gegenüber auch wieder misstrauischer eingestellt.

In der Hoffnung, dass er mir endlich Informationen über sein Gespräch mit Mortimer zukommen lässt, verdränge ich all meine Zweifel und behaupte möglichst überzeugt: „Okay, ich vertraue dir!" Um meine Worte zu unterstreichen, schnappe ich mir Nox' Hand und drücke sie kurz.

Das ist der Moment, in dem sich eine vereinzelte Träne der Angst aus Nox' rechtem Augenwinkel löst.

„Du hast die Wahrheit verdient, Islay, und du wirst sie auch erfahren", gibt er irgendwelche kryptischen Aussagen von sich, „aber nicht von mir, sondern von Mortimer und Vivian. Wenn ich gegangen bin ..."

Mit jedem Wort, das seine Lippen verlässt, wird meine Verwirrung größer. Tausend Fragezeichen bilden sich in meinem Kopf und lechzen verzweifelt nach Antworten.

Nach Antworten, die ich scheinbar nicht bekommen werde. Zumindest nicht jetzt.

„Ich existiere schon seit 823 Jahren", spricht Nox mit zittriger Stimme weiter. „Es ist mein Job, den verstorbenen Seelen dabei zu helfen, ins Jenseits überzugehen."

Och nö. Warum fängt er denn jetzt wieder mit diesem Schwachsinn an?

„Und deshalb werde ich dir jetzt helfen!" Ein Ausdruck der Entschlossenheit macht sich auf seinem Gesicht breit. „Ich hoffe, du wirst deine zweite Chance gut nutzen, Islay."

Noch bevor ich nachhaken kann, was er mir mit seinen Rätsel-Aussagen mitteilen möchte, platziert Nox seine Hände an meinen Wangen. Direkt strömt ein warmes Kribbeln durch meinen Körper, das den Schmerz in meinem Bein lindert.

Obwohl ich Nox nicht kenne und mir sicher bin, dass er hier im Seelenschwank irgendein perverses Spiel spielt, wehre ich mich nicht gegen seine Berührungen und den plötzlichen Körperkontakt.

Unsere Blicke halten sich gegenseitig gefangen, während mir Nox langsam näherkommt.

Dann, als sich unsere Nasenspitzen beinahe berühren, macht er etwas, womit ich im Leben nicht gerechnet hätte.

Er küsst mich.

***

Nox' POV

Islays Lippen fühlen sich warm und weich an. Wie Kirschblütenblätter, die im Frühling von den Bäumen fallen.

Unser Kuss ist unschuldig und sanft. Geprägt von Zärtlichkeit, Schmerz, Hoffnung und Zuneigung.

Ich spüre, wie die Magie des Lebens in Islays Körper pulsiert und in die Richtung ihrer Lippen wandert. Je näher sie ihrem Mund kommt, umso unangenehmer werden die Messerstiche, die sich im Millisekundentakt in meinen Bauch bohren.

Die ersten vier Sekunden unseres Kusses sind wunderschön. Trotz Messerstichen.

Sobald allerdings die fünfte Sekunde anbricht und die Magie des Lebens Islays Lippen erreicht hat, werden die Glücksschmetterlinge in meinem Herzen durch giftige Pfeilspitzen ersetzt, die mich von innen ausrotten.

Schmerzen, die ich nicht mal ansatzweise in Worte fassen könnte, zucken durch meinen Körper. Langsam und qualvoll. Damit sich die Erlösung hinauszögert.

Ich lasse meine Hände über Islays Wangen gleiten und kralle sie danach hilflos in den Stoff ihres Oberteils. Züngelnde Flammen fressen sich durch meine Haut und setzen meine Statur unter Strom.

Je mehr Lebensmagie in meinen Körper fließt, umso unerträglicher wird der Schmerz.

Tränen quillen nun aus meinen Augen und Laute der Qual entwischen meinen Lippen. Ich merke, dass sich Islay aus dem Kuss lösen möchte, doch es schlummert noch immer ein Fünkchen Magie in ihr.

Damit sie leben und endlich ihren Frieden im Jenseits finden kann, muss jedes noch so kleine Quäntchen Lebensmagie aus ihr hinausgesogen sein.

Ich verkrampfe und schreie schmerzerfüllt gegen Islays Mund. Es fühlt sich an, als würde man mich mit Benzin übergießen und dann anzünden.

Mit jeder Sekunde, die verstreicht, werde ich schwächer.

Die Magie des Lebens, aus der Islay besteht, und die Magie des Todes, die auf meiner Seele überwiegt, treffen wie zwei Kometen aufeinander. Dass sie mich für immer auslöschen werden, könnte mir in diesem Moment nicht weniger egal sein.

Obwohl die Schmerzen, die sich wie giftige Flammen durch meinen Körper bohren, kaum noch zu ertragen sind, zwinge ich mich dazu, meine Augen zu öffnen. Wenn ich gehe, dann möchte ich wenigstens ein letztes Mal die wunderschöne Islay mit den wunderschönen, grünen Augen gesehen haben.

Es dauert nicht lange, da strömt das allerletzte Tröpfchen ihrer Lebensmagie in mein Herz.

Wie ein Ertrinkender lasse ich von ihr ab und schnappe verzweifelt nach Luft. Meine Lungen füllen sich allerdings nicht mit Sauerstoff, sondern werden von schweren Eisenketten zerdrückt.

Ich schaue panisch an meinem Körper hinab und stelle fest, dass ich mich langsam in Luft auflöse. Nur noch ein paar Sekunden und meine Existenz ist ausgelöscht.

Mein Leben für das von Islay.

„Nox ...", wispert die junge Frau in genau diesem Augenblick meinen Namen. Sie sieht verwirrt aus, versucht aber trotzdem, meinen Blick aufzufangen. „Du ...", stammelt sie überfordert.

Als bräuchte sie jemanden, der ihr Kraft und Halt spendet, greift sie nach Tessies Teddybären und drückt ihn fest an ihre Brust. „Ich erinnere mich wieder."

Es fällt mir unfassbar schwer, mich auf Islay und ihre Worte zu konzentrieren.

Die ewige Dunkelheit streckt bereits ihre Klauen nach mir aus und möchte mich in einen endlosen Schlaf wiegen.

„Ich bin auf der Eisfläche gestorben. Weil ich den Backflip nicht abfangen konnte", murmelt Islay mit Tränen in den Augen. „Paxton hat mich verlassen und meine Mom ... Sie wollte mich noch aufhalten."

Trotz der Schmerzen, die mich in tausend Einzelstücke zerreißen, zupft ein letztes, schwaches Lächeln an meinen Mundwinkeln.

„Ich glaube, ich bin bereit, ins Jenseits weiterzuwandern. Danke, Nox!"

Das ist alles, was ich hören muss.

***

Islays POV

Ein Knall der Selbstlosigkeit.

Ein Feuerwerk aus schwarzen Sternen.

Ein Tod für die Ewigkeit.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top