11 - Tröstende Worte

Nox' POV

In Momenten wie diesen hasse ich es, den Ruhepunkt zwischen Leben und Tod abzubilden. Natürlich hoffe ich, dass Tessie ihren Frieden im Jenseits finden wird, aber ich hätte sie gerne noch länger bei mir im Seelenschwank gehabt. Ihre fröhliche und positive Ausstrahlung wird mir fehlen.

Auch für Islay tut es mir leid, denn ich habe gesehen, wie Tessie etwas Farbe in ihr tristes Leben gebracht hat. Ein paar Tage mehr und Islay hätte vielleicht damit angefangen, sich mit ihrem Tod auseinanderzusetzen.

Ich zwinge mich, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und meine aufkommenden, negativen Gefühle zu unterdrücken.

Seelen kommen und Seelen gehen. So war es schon immer und so wird es auch immer bleiben.

„Wo ... Wo ist sie hingegangen?", stammelt Islay verwirrt neben mir. Sie löst sich vorsichtig aus meinen Armen und taumelt benommen zu der leuchtenden Tür, hinter der Tessie vor wenigen Sekunden verschwunden ist. Als hätte sie nie existiert.

Die Überforderung ist Islay wie ein Kunstgemälde ins Gesicht gemeißelt, doch ich habe leider keine Ahnung, wie ich ihr gerade helfen kann.

„Tessie ist jetzt an einem anderen Ort", beantworte ich dennoch ihre Frage. „Im Jenseits."

Die junge Frau mit den wunderschönen grünen Augen schüttelt den Kopf. Ihre haselnussbraunen Locken wirbeln wie ein Tornado durch die Luft und unterstreichen ihre Hilflosigkeit.

„Nein", murmelt Islay leise. Obwohl sie am ganzen Körper zittert, nähert sie sich der leuchtenden Tür, die langsam zu feinen Nebelschwaden verblasst. „Nein!", wiederholt sie sich. Dieses Mal lauter und hysterischer.

Begleitet von der Panik, die gerade ihr Herz und ihren Verstand dominiert, stürzt sich Islay auf die Tür. Sie rüttelt verzweifelt an der Klinke, doch nichts regt sich. „Tessie!", schreit sie den Namen des kleinen Mädchens. „Wo bist du?"

Während sich ihre Finger um den goldenen Griff krampfen, lässt das Schimmern der Tür von Sekunde zu Sekunde weiter nach. So lange, bis sich Islays Hände irgendwann nur noch um einen Fetzen Luft schlingen.

„Tessie?!" Furcht zeichnet sich in ihren grünen Iriden ab. Sie schaut sich hektisch um, doch die Tür mit Tessies Namen ist verschwunden.

„Ganz ruhig, Islay." Vorsichtig, weil ich sie nicht überfordern möchte, trete ich drei große Schritte auf sie zu. „Ich weiß, dass das alles sehr viel für dich ist, aber wenn du mich lässt, würde ich dir gerne erklären, was mit Tessie passiert ist."

Wie vom Blitz getroffen fliegt Islays Kopf in meine Richtung. Giftige Pfeilspitzen schießen aus ihren Pupillen und bohren sich schmerzhaft in mein Herz. „Was hast du mit ihr gemacht, Nox?", fragt sie mich außer Atem. Mit hochroten Wangen und Sturmaugen, die Vernichtung und Zerstörung widerspiegeln, bleibt sie vor mir stehen und drückt ihren Zeigefinger wie ein Brandmal in meine Brust. „Sie getötet?"

„Was?!" Ich verschlucke mich beinahe an meiner eigenen Spucke. „Islay, das-"

Noch bevor ich meinen Satz zu Ende führen kann, rammt sie mir ihr Knie zwischen die Beine. Daraufhin sinke ich keuchend zu Boden und spüre, wie sich Flammen des Schmerzes durch meinen Körper fressen. „Fuck!", fluche ich leise.

Warum ist Islay gerade so impulsiv und kopflos? Versteht sie denn nicht, dass es Tessie im Jenseits bessergeht?

Scheinbar nicht, denn Islay entfernt sich mit schnellen Schritten von mir. Wie ein kleiner Punkt verschwindet sie in der Ferne, bis sie vollends von der Dunkelheit verschluckt wird.

„Fuck!", fluche ich ein zweites Mal.

Obwohl mein Körper unter Strom steht, hieve ich mich von den kalten Fliesen auf und humpele durch den langen Gang. Meine Schritte hallen dabei wie ein niemals endendes Echo des Grauens von den Wänden wider.

„Islay!", rufe ich in meiner Verzweiflung ihren Namen. „Bleib stehen! Bitte!"

Natürlich folgt keine Antwort.

Ich beschleunige meine Schritte und nähere mich der Treppe, die zurück in meine Bar führt. Trotz der Entfernung, die uns voneinander trennt, erkenne ich Islays zierliche Statur sofort. Sie poltert eilig die vielen Stufen hinab; auf der Suche nach einem sicheren Zufluchtsort.

Dass sie sich vor mir fürchtet, ist nicht zu übersehen.

„Islay!", versuche ich es trotzdem, doch wie erwartet ignoriert sie mich.

Da ich mir in diesem Augenblick der Verzweiflung nicht anders zu helfen weiß, krame ich den weißen Schlüssel mit den pechschwarzen Verzierungen aus meiner Hosentasche. Der Seelenfresser kann nämlich nicht nur verschlossene Türen öffnen, sondern auch seinem Namen alle Ehre machen, wie ich bei meinem zweiten Gespräch mit Mortimer erfahren habe.

Meine Fingerspitzen streichen andächtig über den Schaft und weben dunkle Rauchschwaden um den Schlüssel. Es dauert ein paar Sekunden, bis sich das Metall verformt und in ein spinnenähnliches Wesen mit acht Armen verwandelt.

Ich setze das schwarze Nebelmonster auf dem Boden ab und beobachte fasziniert, wie es seine langen Greifarme ausstreckt. Wie schwarze Lava schlängeln sie sich über die Fliesen und tropfen wasserfallartig die Treppenstufen hinab.

Als die Greifarme wenig später Islay erreicht haben, wickeln sie sich wie Fesseln um ihre Taille und befördern sie mit einem kräftigen Ruck zurück zu mir. Ich möchte schon meine Finger nach ihr ausstrecken und die Stricke lösen, da öffnet die Spinne plötzlich ihr Maul und verschlingt Islay.

Für den Bruchteil einer Sekunde bleibt mein Herz stehen.

Dann schlägt es jedoch im gewohnten Takt weiter, als ich sehe, dass sich die Rauchschwaden langsam in Luft auflösen und Islay lediglich in einem schwarzen Kokon gefangen gehalten wird. Nur einen überforderten Herzschlag später fällt der weiße Schlüssel, auch Seelenfresser genannt, klirrend neben mir auf den Boden.

„Es tut mir leid", wispere ich in die unerträgliche Stille hinein, „aber du hast mir keine Wahl gelassen." Erst verstaue ich den Schlüssel sicher in meiner Hosentasche, ehe ich die erstarrte Islay hochhebe und mich gemeinsam mit ihr ins erste Obergeschoss hinabkämpfe.

Unser Ziel?

Die goldene Tür mit der Nummer Vier!

***

Islays POV

Als ich meine Augen öffne, fühlt sich mein Körper taub und schwerelos an. Als würde er nicht mir gehören, sondern einer anderen Person. Mein Herz schlägt in einem gleichmäßigen Rhythmus und schickt sanfte Wellenschläge der Entspannung durch meine Blutbahn.

Obwohl ich mich nicht bewegen kann, türmen sich weder Angst noch Verzweiflung in meinem Inneren auf.

Eindeutig ein Indiz dafür, dass mir Seelenstille verabreicht wurde, oder?

Ich hasse es, dass ich in diesem Moment nicht mal Wut empfinden kann, sondern dümmlich vor mich hinlächele. Wie eine Marionette, die keine eigenen Entscheidungen treffen darf.

„Islay?", ertönt plötzlich mein Name.

Unter normalen Umständen würde mein Herz bei dem Klang dieser vertrauten Stimme stehenbleiben. Oder in meine Hose hinabrutschen. Oder ein Feuerwerk aus Glücksgefühlen entzünden.

Jetzt gerade schlägt es allerdings beständig weiter und das nervt mich!

„Wie geht es dir, mein Schatz?"

Eine zweite, genauso vertraute Stimme kämpft sich durch die Nebelschwaden in meinem Kopf. Ich würde gerne den Kloß in meinem Hals hinunterschlucken, weil er mir das Atmen erschwert, doch ich kann nicht.

‚Scheiße!', fluche ich gedanklich.

Da mir scheinbar keine andere Wahl bleibt, richte ich ganz langsam meine Aufmerksamkeit auf die beiden Personen, die gegenüber von mir auf zwei Holzstühlen sitzen. Sie sehen genauso aus, wie immer und schenken mir ein tröstendes Lächeln, das die Narben auf meiner Seele heilen soll.

Jedoch ohne Erfolg.

„Du bist so hübsch, Islay."

„Und hast dich kein bisschen verändert."

Ich möchte meinen Mund öffnen und etwas erwidern, aber meine Lippen sind wie versiegelt. Sie lassen sich nicht entzweien. Ganz egal, wie sehr ich es auch versuche.

„Wir sind gekommen, um dir etwas zu sagen."

„Und wir möchten, dass du uns gut zuhörst."

Karamellfarbene und mintgrüne Augen schauen mich an.

Augen, die zu Paxton und meiner Mom gehören.

Zu den beiden Menschen, die ich auf der Welt am allermeisten liebe.

Was sie mir wohl Wichtiges mitzuteilen haben?

„Es war falsch von mir, dich zu verlassen", beginnt Paxton mit erstaunlich fester Stimme zu sprechen. „Ich war ein dummer Feigling und bereue es, nicht gekämpft zu haben."

Was soll das? Warum streut er noch mehr Salz in meine Wunden?

„Du bist ein ganz besonderer Mensch, Islay", meldet sich nun meine Mom zu Wort. Tränen schimmern in ihren Augen, doch sie blinzelt sie tapfer weg. „Ich danke dir für all die schönen Momente, in denen du mein Leben bereichert hast. Von Anfang an warst du mein absolutes Wunschkind!"

Wieso zum Teufel hört sich das gerade wie ein Abschied an?

Ich möchte von meinem Stuhl aufspringen, den kleinen Tisch umrunden und Mom ganz fest umarmen, doch nach wie vor bin ich zu Eis erstarrt. Unfähig, mich zu bewegen.

„Als ich von deinem Sturz gehört habe, bin ich innerlich gestorben." Dieses Mal ist wieder Paxton derjenige, der seine Worte wie die Klinge eines Messers in meinem Herzen versenkt. „Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie viele Vorwürfe ich mir gemacht habe. Tagein, tagaus. Vor lauter Schuldgefühlen wäre ich dir am liebsten gefolgt. Sofort!"

Moment mal. Gefolgt? Wohin?

„Ich hatte genauso schlimme Gewissensbisse wie Paxton", gesteht Mom leise. „Ich habe mich dafür gehasst, dich nicht einfach zuhause eingesperrt zu haben. Meiner Meinung nach habe ich als Mutter versagt."

Was? Das stimmt nicht!

Kann mir mal bitte jemand erklären, worum es hier überhaupt geht? Ich habe nämlich keinen blassen Schimmer, was die beiden mit ihren kryptischen Aussagen andeuten wollen.

Als könnte Mom meine ruhelosen Gedanken lesen, bringt sie endlich etwas Licht in die Dunkelheit. „Paxton und ich haben uns nach deinem Tod schuldig gefühlt und sind in ein tiefes, emotionales Loch gefallen", wispert sie mit zittriger Stimme, „aber dank Therapeuten haben wir gelernt, nicht nur unsere Schuld, sondern auch dich loszulassen. Ich weiß, dass du diese kitschigen Sprüche nicht magst, doch in unseren Herzen wirst du ewig weiterleben, Islay. Du warst schon immer ein Teil von uns und daran wird sich auch nie etwas ändern!"

Ich bin verwirrt. Und überfordert. Und hilflos. Und immer noch in dieser blöden Starre gefangen.

„Eigentlich möchten wir dir nur sagen, dass es okay ist, wenn du gehst", fährt Paxton fort. „Im Jenseits wartet ein neues Leben auf dich. Eine zweite Chance. Bitte nutze diese Möglichkeit, Schmetterlay!"

„Es ist uns wichtig, dass du glücklich bist!" Moms Augen leuchten. Nicht nur, weil Tränen in ihnen schwimmen, sondern weil sie sich meine Zukunft vorstellt. „Vertraue dem Seelenschwank und Nox, okay? Nox ist-"

... wie ein rotes Tuch für mich.

Ich habe keine Ahnung, was hier gerade passiert, doch die Erwähnung von Nox' Namen legt eine Art Schalter in meinem Herzen um. Unbändige Wut peitscht durch meine Venen und setzt meinen Körper unter Strom. Trotz der Schmerzen, die sich durch meine Haut fressen, kämpfe ich mich aus der Eisstarre und erhebe mich wie ein majestätischer Herrscher von meinem Stuhl.

„Ich muss Nox und dem Seelenschwank nicht vertrauen", raune ich gefährlich leise in die Stille hinein, „denn ich bin verdammt nochmal nicht tot!"

Im Einklang mit meinem letzten Wort donnere ich meine Faust auf den Tisch, sodass Paxton und Mom keine Sekunde später zu schwarzem Staub zerfallen. Stattdessen kommt Nox zum Vorschein, der mich überfordert, fast schon ängstlich, aus seinen dunkelbraunen Augen anstarrt.

„Islay-", setzt er an, doch ich unterbreche ihn sofort.

„Weißt du, Nox, du kannst dein krankes Spiel mit dem Tod so lange spielen, wie du möchtest", zische ich, „aber am Ende werde ich diejenige sein, die dieses Spiel gewinnt. Und zwar als einzige Überlebende."

Nox schluckt sichtbar. Flammen der Panik spiegeln sich in seinen Pupillen wider, als er von mir wissen möchte: „Soll das eine Drohung sein?"

„Nein." Ich schenke ihm ein zuckersüßes Lächeln. „Das, mein Lieber, ist ein Versprechen! Und Versprechen bricht man nicht, richtig?"

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