10 - Bis in einem anderen Leben
Nox' POV
Ich blinzele perplex. Dann nochmal. Und nochmal.
Aus 823-jähriger Erfahrung kann ich sagen, dass es meistens eine halbe Stunde Zeit in Anspruch nimmt, alle alternativen Szenarien für das Weiterleben auf der Erde nachzuempfinden.
Dass sich Islay bereits nach weniger als fünf Minuten aus der Simulation befreit hat – wahrscheinlich allein durch ihre Willenskraft – werte ich als negatives Zeichen.
Um ehrlich zu sein bin ich total überfordert und habe keine Ahnung, wie ich mit ihr umgehen soll.
Sie ist anders. Das spüre ich jedes Mal, wenn ich sie anschaue.
Normalerweise habe ich kein Problem damit, mich mit den verstorbenen Seelen zu vernetzen und eine Bindung zu ihnen aufzubauen, aber Islay schützt nicht nur ihr Herz mit Mauern aus Stahl, sondern auch ihren Verstand und ihre Seele.
Wie ich zu ihr durchdringen kann? Hoffentlich hat Mortimer die passende Antwort für mich parat.
Obwohl ich den Tod erst vor wenigen Stunden besucht habe, mache ich mich erneut auf den Weg in die Zwischenwelt. Ich bin so hilflos und überfordert, dass mir keine andere Wahl bleibt, als das Gespräch mit Mortimer zu suchen. Denn wenn jemand weiß, wie aufbrausende Seelen gebändigt werden können, dann ist er das.
Anders als bei unserem letzten Aufeinandertreffen finde ich Mortimer nicht in seinem Schaukelstuhl beim Sonnenbaden vor. Der Sensenmann hat sich eine grüne Gartenschürze mit Sonnenblumenmuster umgebunden und hockt in seinem Rosengarten, um neue Blumen einzupflanzen.
Eigentlich hätte ich mich im Laufe der Zeit an dieses absurde Bild gewöhnen müssen, aber das habe ich nicht. Es ist einfach viel zu skurril!
„Tut mir leid, dass ich nochmal störe", räuspere ich mich leise, um Mortimers Aufmerksamkeit zu gewinnen, ohne ihn zu erschrecken, „aber ich muss dringend mit dir über Islay sprechen."
Bei dem Klang meiner Stimme wirbelt Mortimer überrascht zu mir herum. Erde klebt in seinem Gesicht und Schweißperlen säumen seine Stirn.
Oh man. Wenn die Menschen den Tod jetzt gerade in seiner Schürze und mit dem Dreck auf den Wangen sehen könnten, hätten sie bestimmt nicht mehr so viel Angst und Ehrfurcht vor ihm.
„Nox ..." Mortimer streift sich die geblümten Gartenhandschuhe von den Fingern und legt sie fein säuberlich ins Gras. „Was hat unsere Sorgenseele denn dieses Mal angestellt?" Er klingt neugierig, aber auch ein bisschen spöttisch. Als würde es ihn amüsieren, dass ich mich mit einer rebellischen Seele herumschlagen muss.
„Islay wurden verschiedene Situationen gezeigt, wie ihr Leben hätte weiterlaufen können, wenn sie nicht gestorben wäre", erkläre ich Mortimer. Wie immer hört er mir aufmerksam zu und hängt gebannt an meinen Lippen. „Nach dem vierten Szenario ist sie eigenständig aus der Simulation aufgewacht. Als hätte sie sich selbst befreit. Dabei haben noch mindestens neunzig weitere Szenen gefehlt ..."
Mortimer seufzt. Dann tätschelt er freundschaftlich meine Schulter und behauptet: „Du musst Geduld haben, Nox!"
Oh je, das ist nicht unbedingt eine meiner Stärken. Zumindest, wenn diese Eigenschaft in einem Zusammenhang mit Islay auftritt.
„Nun schau doch nicht so verschreckt!" Mortimer boxt mir gegen den Oberarm. „Islay wird sich permanent gegen das Seelenschwank und das Jenseits wehren", fährt er mit gedämpfter Tonlage fort. „Sie muss jede Tür mindestens einmal durchlaufen haben. Entweder ihre falsche Überzeugung bröckelt dann und sie ist bereit, sich eigenständig ihren Dämonen zu stellen, oder ich muss ihre Erinnerungen und Gefühle löschen."
Eine eisige Gänsehaut breitet sich auf meinem Rückgrat aus. Zu gerne würde ich Islay auf ihrem Weg begleiten, doch sie lehnt meine Hilfe partout ab.
„Gib nicht auf, Nox!" Mortimer schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln, ehe er sich wieder seinem Blumenbeet widmet. „Wenn jemand zu ihr durchdringen kann, dann bist du das!"
***
Islays POV
„Islay? Können wir reden?" Zum Glück ist es nicht Nox' Stimme, die sich wie Zuckerwattefäden um mein Hirn webt, sondern Tessies. Sofort drehe ich meinen Kopf in die Richtung des kleinen Mädchens und ziehe überrascht die Luft ein.
Tessie ist kaum noch sichtbar. Ihr Körper wird lediglich von einem hellblauen, fast schon durchsichtigen Schleier umhüllt. Obwohl ein Lächeln auf ihren Lippen liegt, wirkt sie verunsichert und ängstlich.
Aber kein Wunder, denn würde ich wie ein Geist aussehen, wäre ich genauso verunsichert und ängstlich wie sie!
Am liebsten würde ich Tessie fragen, wie es möglich ist, diesen durchsichtigen Schleier zu erzeugen, aber stattdessen nicke ich und gebe ein krächzendes „Klar!" von mir.
Gemeinsam kämpfen wir uns über die volle Tanzfläche, auf der sich mehrere Körper ausgelassen zum Takt der Musik bewegen. Bunte Scheinwerferlichter kreisen über das Parkett und es riecht nach Schweiß und Rauch.
Von Sekunde zu Sekunde erscheint es mir merkwürdiger, wie frei und glücklich die sogenannten Seelen aussehen. Als wären all ihre Sorgen und Probleme hinter dicken Gitterstäben weggesperrt.
Wie Nox es wohl geschafft hat, die vielen Menschen ins Seelenschwank zu locken? Und ist er überhaupt derjenige, der die Fäden zieht, oder gibt es einen anderen Marionettenspieler? Jemanden, der im Schatten der Dunkelheit agiert?
Begleitet von einem unguten Stechen, das sich rasend schnell in meiner Magengrube ausbreitet, hocken sich Tessie und ich auf eine Sitzbank, die sich etwas abseits der Tanzfläche befindet und in einer kleinen Nische verborgen ist. Zwar bringt der Bass mein Herz noch immer zum Wummern, aber wenigstens dröhnt die Musik nicht mehr wie ein Kanonenschusskonzert in meinen Ohren wieder.
„Also, Tessie ...", beginne ich zögerlich. „Worüber möchtest du mit mir sprechen?"
Das kleine Mädchen sieht nervös aus. Ihre blauen Augen springen von rechts nach links, ohne sich mit meinem Blick zu vereinen.
Ich kann ihr ansehen, wie viel Kraft es sie kostet, nach ein paar Sekunden zu sagen: „Für mich ist es bald an der Zeit, zu gehen."
Mein Herz setzt für einen Schlag aus, nur um gleich darauf mit vierfacher Geschwindigkeit weiterzupoltern.
„Was?!", frage ich Tessie überrascht. „Es gibt also doch einen Ausweg aus dem Seelenschwank? Warum hast du mir das nicht schon früher gesagt?" Ein vorwurfsvoller Unterton schwingt in meiner Stimme mit.
„Du ... Du verstehst das falsch", stammelt Tessie überfordert. „Der einzige Ausweg ist das Jenseits."
Ihre Worte fühlen sich wie ein Fausthieb in die Magengrube an. Nur härter. Und mitten ins Herz.
„Ich habe gerade meine eigene Beerdigung gesehen", erklärt mir Tessie erstaunlich ruhig und gefasst. „Es war schön, was für liebe Worte Mama, Papa und Cece für mich gefunden haben." Eine Träne, gefüllt mit Sehnsucht und Glück, kullert über ihre Wange. „Ich habe meinen Tod komplett akzeptiert und bin jetzt endlich bereit, ins Jenseits weiterzuziehen. Ich würde gerne noch bleiben; deinetwegen; aber das lässt das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod nicht zu."
Giftige Efeuranken wickeln sich um meine Seele und stoßen meinen Verstand in ein Loch aus Dunkelheit und Manipulation.
Am liebsten würde ich die kleine Tessie ganz fest durchschütteln, damit sie aufhört, solch einen Schwachsinn von sich zu geben, aber weil ich meinen Plan nicht gefährden möchte, schlucke ich den riesigen Felsbrocken in meinem Hals tapfer hinunter.
Früher oder später werde ich auch Tessie aus diesem Irrenhaus retten. Hoffe ich jedenfalls ...
„Deshalb kannst du mich fast gar nicht mehr sehen", spricht das Mädchen aus meinen Gedanken weiter. „Weil ich heute gehen muss." Ihr Blick bleibt an den Rauchschwaden haften, die sich wie eine zweite Haut an meinen Körper schmiegen. „Du leuchtest so hell, weil du immer noch Angst vor dem Tod hast."
Nur mit Mühe und Not kann ich mir ein spöttisches Schnauben verkneifen.
Ich bin verdammt nochmal nicht tot! Und diese Meinung kann nichts und niemand ändern!
Ich gebe zu, dass ich anfangs ins Grübeln gekommen bin, als mir Tessie mehr über Nox, das Seelenschwank und ihren vermeintlichen Tod im See erzählt hat, aber spätestens als ich meinen leblosen Körper auf dem Eis gesehen habe, wurde mir bewusst, dass hier ein ganz mieses Spiel mit mir gespielt wird.
Wer das eingefädelt hat? Keine Ahnung. Vielleicht meine Eltern? Oder Paxton? Oder irgendwelche, eifersüchtige Konkurrentinnen?
Fakt ist, dass ich derzeit in der Falle sitze.
„Wenn Nox wieder da ist, verlasse ich das Seelenschwank und gehe weiter ins Jenseits." Die Nervosität weicht schlagartig aus Tessies blauen Kinderaugen und wird durch Selbstbewusstsein ersetzt. „Ich möchte, dass du mich begleitest, Islay."
Wie bitte?
„Ins Jenseits?", hake ich verwirrt nach.
Direkt schüttelt Tessie den Kopf, sodass sich ihre roten Locken zu einem Feuer entzünden. „Nein", antwortet sie mir, „dafür bist du noch nicht bereit. Aber du kannst mir zugucken und dann in ein paar Wochen nachkommen, okay?"
Mein Herz wird schwer wie Blei. Als würde ein unsichtbares Gewicht daran ziehen.
Wie zum Teufel hat Nox es bloß geschafft, dieses unschuldige Mädchen zu manipulieren? Ihre Worte hören sich wie auswendig gelernt an. Als wären sie nur erschaffen worden, um mich in Watte zu lullen.
Und obwohl es wahrscheinlich verdammt gefährlich ist, beschließe ich, mich auf dieses kranke Spiel einzulassen.
„Einverstanden." Ich strecke Tessie meine Hand entgegen und warte darauf, dass sie unsere Finger miteinander verflechtet. „Ich werde dich auf deiner Reise ins Jenseits begleiten."
***
Als sich irgendwann die Eingangstür des Seelenschwanks öffnet und Nox zum Vorschein kommt, überzieht sich mein ganzer Körper mit einer Gänsehaut. Wie ein Magnet wird sein Blick von mir angezogen, sodass unsere Augen wie zwei Kometen, die ihre Umlaufbahn verlassen haben, aufeinanderprallen.
Trotz der Entfernung, die zwischen uns liegt, erkenne ich das Feuer der Besorgnis, das in seinen Pupillen lodert. Außerdem zieren tiefe Furchen seine Stirn.
Ob er wohl überlegt, wie er mich gefügig machen kann? Ohne seine Wunderdroge Seelenstille wird ihm das nicht gelingen. Niemals!
Ich kann Nox ansehen, dass er am liebsten zu mir kommen würde, allerdings versperrt ihm die kleine Tessie den Weg. Sofort richtet er seine Aufmerksamkeit auf das hellblau schimmernde Mädchen und erlöst mich von seinem intensiven Eisblick.
Mehrere Sekunden verstreichen und verwandeln sich in Minuten. Ich habe keine Ahnung, worüber sich Tessie und Nox so lange unterhalten, doch nach einer gefühlten Ewigkeit steuern sie den Barhocker an, auf dem ich sitze.
„Hey Islay", begrüßt mich Nox zögerlich.
Die Art und Weise, wie er meinen Namen ausspricht, verpasst mir einen elektrischen Stromschlag. Ich zucke kaum merklich zusammen und bemühe mich, nicht wie ein Kartenhaus in mir zusammenzufallen.
„H-Hi", erwidere ich mit einem gezwungenen Lächeln. „Wo warst du?"
Nox macht eine wegwerfende Handbewegung. Meine Frage scheint damit abgehakt zu sein, denn Tessie zupft nun an meinem Oberteil und murmelt aufgeregt: „Ich darf jetzt endlich ins Jenseits gehen!"
Ihr zuliebe spare ich mir einen gemeinen Kommentar. Stattdessen greife ich nach Tessies Hand, die sie mir entgegenstreckt, und wickele unsere Finger wie Efeuranken umeinander. Es sieht merkwürdig aus, dass ihre Haut durchsichtig schimmert und meine von einem kräftigen Farbschleier umspielt wird.
Obwohl sich eine Welle aus Übelkeit und Schwindel in meinem Inneren auftürmt, lasse ich mich von Tessie über die Tanzfläche führen. Nox ist nur wenige Schritte hinter uns und bohrt mit seinem Blick brennende Löcher in meinen Rücken.
Es kostet mich meine ganze Selbstbeherrschung, mich nicht einfach von Tessie loszureißen und ihr brav zu der Treppe mit den vergoldeten Stufen zu folgen. Die Treppe ragt wie ein Ungeheuer bis in die Unendlichkeit empor und wirft gruselige, verzerrte Schatten über mein Gesicht.
„Du musst keine Angst haben, Islay", wispert mir Tessie leise zu und schenkt mir ein aufmunterndes Lächeln. „Ich freue mich auf das Jenseits!"
Meine Beine nehmen die Konsistenz von Wackelpudding an, während ich die vielen Stufen erklimme. Sie scheinen gar kein Ende mehr nehmen zu wollen und führen bis in die Ewigkeit hinauf.
Was zum Teufel mache ich hier überhaupt? Sollte ich nicht lieber mit einem Cocktail am Bartresen sitzen und an meinem Fluchtplan weiterarbeiten?
Ein Seitenblick auf Tessie genügt und schon weiß ich, dass ich sie nicht allein lassen kann. Wenn es ihr Wunsch ist, dass ich sie begleite – wohin auch immer – dann werde ich das tun.
Mit jedem Schritt, den ich mache, verschwimmt der Lärmpegel aus der Bar ein bisschen mehr. Ich werde in eine Wolke der Stille gehüllt und genieße die Einsamkeit und Ruhe, die mich hier oben empfangen.
Das zweite Obergeschoss sieht genauso wie die erste Etage aus. Ein endlos langer Gang erstreckt sich vor mir, von dem jeweils rechts und links mehrere Türen abzweigen. Auf den vergoldeten Oberflächen sind verschiedene Namen zu finden, die sich aus kunstvollen Schnörkeln zusammensetzen.
Wie in Zeitlupengeschwindigkeit schreiten Tessie, Nox und ich durch den Flur. So lange, bis mich plötzlich ein gleißend heller Lichtstrahl blendet.
Auf der rechten Seite erscheint nun eine leuchtende Tür. Auf dem Holz ist in fein säuberlichen Buchstaben der Schriftzug Tessie Yark eingeritzt.
Ich merke, wie ich mich bei diesem Anblick am ganzen Körper verkrampfe und am liebsten auf dem Absatz kehrt machen würde. Mir wird speiübel und schwarze Sterne tanzen vor meinen Augen durch die Luft.
„Was ... Was ist das?", hauche ich überfordert in die Stille hinein.
Während sich Tessie vorsichtig aus meinem Griff löst, um sich danach der schimmernden Tür zu nähern, tritt Nox vorsichtig an meine Seite. Sein Atem kitzelt meine Haut, als er mir erklärt: „Das ist die Tür, die Tessie ins Jenseits führen wird."
Ein Tornado der Verwirrung peitscht über meine Seele. Da tummeln sich gerade so viele Fragen und Emotionen, dass ich drohe, in den Fluten meiner eigenen Hilflosigkeit unterzugehen.
Mit rasendem Herzen und wachsamen Augen beobachte ich Tessie. Sie hat beinahe die leuchtende Tür erreicht, da dreht sie sich nochmal um und kommt schnellen Schrittes in meine Richtung gestürmt.
Erst schließt sie Nox in ihre Arme und murmelt leise Worte in sein Ohr, die ich leider nicht verstehe. Dann werde auch ich in eine Umarmung verwickelt, die mein Herz zum Beben bringt.
„Hoffentlich sehen wir uns bald wieder, Islay", lächelt mich Tessie mit Tränen in den Augen an. „Ich bin mir sicher, dass du das schaffst!"
Mir bleibt keine Zeit mehr, nachzuhaken, was sie mit ihrer Aussage meint, denn auf einmal drückt sie mir ihren Teddybären Zuckernase in die Hand. „Versprich mir, dass du gut auf ihn aufpasst, ja?", fleht mich Tessie an. „Wenn du ihn ganz doll liebhast, bringt er dir bestimmt Glück!"
Ihre Worte schnüren mir die Kehle zu und verwandeln mich in ein zitterndes Wrack. Wie in Trance nehme ich wahr, dass Nox seinen Arm um meinen Oberkörper legt und mich behutsam an seine Brust drückt.
In diesem Moment spendet mir seine Nähe so viel Kraft, Halt, Energie und Trost, dass ich es nicht wage, Abstand zwischen uns zu schaffen.
„Bis in einem anderen Leben!", murmelt Tessie leise. Dann wird sie von der hell leuchtenden Tür verschluckt.
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