1 - Wenn das Jenseits ruft
Nox' POV
Der Großteil der Menschheit fragt sich, was nach ihrem Tod mit ihnen passiert. Kommen sie an einen anderen Ort? In den Himmel? In die Hölle? Oder werden sie vielleicht wiedergeboren?
Die Antwort ist viel einfacher: Sie werden zu mir gebracht. In meine Bar. Ins Seelenschwank.
Mittlerweile arbeite ich seit 823 Jahren in dem Ruhepunkt, der sich zwischen Leben und Tod befindet. Ich habe nicht nur ein offenes Ohr für die verstorbenen Seelen, sondern helfe ihnen dabei, ins Jenseits überzugehen.
Manchmal gibt es Menschen, die das Seelenschwank schon nach wenigen Minuten wieder verlassen. Sie haben sich bereits zu Lebzeiten mit dem Tod auseinandergesetzt und fürchten ihn nicht mehr.
Andere Menschen bleiben länger bei mir. Wochenlang. Gelegentlich auch mehrere Monate. Warum es ihnen so schwerfällt, ins Jenseits überzugehen? Weil sie noch nicht mit ihrem Leben auf der Erde abgeschlossen haben. Meine Aufgabe ist es, sie auf ihrem Weg zu unterstützen.
Obwohl ich schon seit einer halben Ewigkeit im Seelenschwank arbeite, liebe ich meinen Job. Natürlich gibt es auch anstrengende Tage oder Gespräche, die mich emotional belasten, aber im Großen und Ganzen erfüllt es mich mit innerer Zufriedenheit, die verstorbenen Seelen aufzufangen und ihnen zu einem Neuanfang zu verhelfen.
Es mag kitschig klingen, doch die Verbindung zwischen Leben und Tod ist genau das, was mich glücklich macht.
Und wenn ich die Reaktionen der Verstorbenen richtig deute, dann sind sie auch sehr froh und dankbar, dass ich derjenige bin, der sie auf ihrer Reise ins Jenseits begleitet.
„Hey Nox!", reißt mich eine tiefe Männerstimme aus meinen Gedanken in die Realität zurück. „Machst du mir einen Totequila Sunrise?"
Es dauert ein paar Sekunden, bis ich in der Gegenwart ankomme und sich meine Sicht schärft.
Wie immer befinde ich mich in meiner Bar; dem Seelenschwank. Ich stehe hinter dem Tresen, umgeben von Flaschen, Gläsern und Cocktailschirmchen. Im Hintergrund läuft Musik, die aus mehreren Lautsprecherboxen flattert.
Das Seelenschwank ist gut besucht. Fast 200 Verstorbene tummeln sich hier und bereiten sich auf das Jenseits vor. Einige tanzen, andere trinken Cocktails und wiederum andere halten sich im Obergeschoss auf, um die Dämonen ihrer Vergangenheit abzuschütteln.
Es ist beeindruckend, wie unterschiedlich die Seelen sind, aber dennoch haben sie eine Sache gemeinsam: Sie alle sind gestorben und müssen nun den letzten Schritt wagen, um im Jenseits ihre Ruhe zu finden.
„Nox?" Bei dem Klang meines Namens zucke ich zusammen und fokussiere die Person, die gegenüber von mir am Bartresen sitzt.
Gus Millington.
Erst vor drei Tagen hat er den Weg zu mir ins Seelenschwank gefunden. Da er bereits das beachtliche Alter von 92 Jahren erreicht hat, war es nur eine Frage der Zeit, bis er an Organversagen sterben würde.
Gus zählt zu der Sorte von Menschen, die sich bereits mit dem Tod auseinandergesetzt haben und sich nicht vor ihm fürchten. Das ist auch der Grund, weshalb er mich spätestens heute Abend wieder verlassen wird.
„Einen Totequila Sunrise? Kommt sofort, mein Freund!" Ich mache mich an die Arbeit und mixe Gus sein Getränk.
Bei seiner Ankunft im Seelenschwank hat er mir verraten, dass er als Teenager für sein Leben gern Cocktails getrunken hat. Irgendwann musste er dann allerdings zu Bier wechseln, weil sich seine Kumpels über die vermeintliche Frauenplörre lustig gemacht haben.
Jetzt, kurz bevor er ins Jenseits übergehen wird, möchte er alle Cocktails von der Getränkekarte probieren und sich in seine Jugend zurückversetzt fühlen. Nach dem Totequila Sunrise fehlt nur noch der Mojito Mortis.
Auch wenn ich Gus in meiner Bar vermissen werde, freue ich mich, dass er schon bald seinen Seelenfrieden finden wird. Er ist ein guter Mann und hat es verdient, sich in der ewigen Ruhe niederzulassen.
„Hier, mein Freund!" Ich schiebe Gus sein Glas zu. Da er die kleinen Cocktailschirmchen albern findet, habe ich stattdessen eine Orange in der Form eines tanzenden Skeletts an dem Rand befestigt. „Lass es dir schmecken! Dein vorletzter Cocktail ..."
Gus nickt mir dankbar zu, ehe er sich den Strohhalm zwischen die Zähne klemmt und den ersten Schluck probiert. Ich kann genau beobachten, wie er zufrieden seine Augen schließt und das Prickeln des Alkohols auf seiner Zunge genießt.
Wie gut, dass er den Tequila nur schmecken kann, er aber keinerlei Auswirkungen auf seinen Körper hat. Ich möchte nämlich nur ungern miterleben, wie ein 92-jähriger Mann betrunken auf den Tischen tanzt.
„Deine Cocktails hätten wirklich eine Auszeichnung verdient, Nox!", lobt mich Gus, nachdem er sein Glas in nur wenigen Schlucken geleert hat. Er wischt sich mit dem Handrücken über die Lippen, rülpst einmal und fügt dann verschwörerisch hinzu: „Die ewige Schluckmedaille, die selbst den Toten das Wasser im Mund zusammenlaufen lässt! Klingt gut, oder?"
Oh man. Gus ist ein richtiger Scherzkeks. Einen Charmeur wie ihn wünscht sich wahrscheinlich jede Frau. Da hat Giselle, die mich bereits vor viereinhalb Jahren im Seelenschwank besucht hat, auf jeden Fall den Hauptgewinn gezogen.
„Nun grins doch nicht so bescheiden, mein Guter!" Gus lehnt sich über den Bartresen und boxt mir freundschaftlich gegen den Oberarm. „Wie lange arbeitest du schon hier? 800 Jahre? So langsam solltest du doch mal gelernt haben, mit Komplimenten umzugehen."
Darauf weiß ich nichts zu erwidern. Ich verteile nun mal lieber Komplimente, als welche zu bekommen. Daran ist doch nichts verwerflich, oder?
Um von mir und meinen Schwächen abzulenken, erkundige ich mich neugierig bei Gus: „Wann möchtest du denn deinen letzten Cocktail bei mir trinken? Das soll ja etwas Besonderes werden."
Kaum habe ich meine Frage laut ausgesprochen, lodert ein sehnsuchtsvolles Funkeln in seinen wasserblauen Augen auf. Ich weiß, dass sich Gus in einem Zwiespalt befindet. Einerseits kann er es kaum erwarten, ins Jenseits überzugehen, aber andererseits genießt er es, sich im Seelenschwank ein letztes Mal jung und lebendig zu fühlen.
„Hm ... Was hältst du von Mitternacht?", schlägt Gus nach kurzer Bedenkzeit vor. „Die Geisterstunde würde sich doch perfekt für einen filmreifen Abgang eignen, oder?"
Ich muss lachen. Es kommt selten vor, dass ich auf so humorvolle und herzensgute Menschen wie Gus treffe. Deshalb tut es mir auch ein klitzekleines bisschen weh, ihn heute verabschieden zu müssen.
Aber so ist das halt mit meinem Job: Seelen kommen und Seelen gehen.
„Gut", stimme ich seinem Vorschlag zu, „dann erwarte ich dich pünktlich zur Geisterstunde an der Bar."
Gus nickt und klopft mir auf die Schulter. „Bis später, Nox." Mit einem leisen Ächzen erhebt er sich von seinem Barhocker. Ein freches Blitzen durchzuckt seine Augen, als er mir zuraunt: „Bis zur Geisterstunde werde ich noch ein paar Frauen aufreißen. Mal gucken, ob ich es noch draufhabe. Wünsch mir Glück, ja?" Gus zwinkert mir ein letztes Mal zu, ehe er in der Masse aus tanzenden Seelen untertaucht.
„Viel Glück, Kumpel!"
***
Es ist ein besonderer Moment, als Gus den letzten Schluck von seinem Mojito Mortis trinkt. Seine Lippen formen sich währenddessen zu einem Lächeln und in seinen Augen spiegelt sich ein Ausdruck der Freiheit wider.
Er hat es geschafft. Gus ist bereit, um ins Jenseits überzugehen.
„Oh man", murmelt er ungläubig und betrachtet dabei seine Hände, die immer mehr verblassen, von allen Seiten, „zum Glück bin ich hier nicht auf meine Brille angewiesen, sonst könnte ich mich selbst wahrscheinlich gar nicht mehr sehen." Er lacht und schüttelt den Kopf. Dann möchte er mit verstellter Sing-Sang-Stimme von mir wissen: „Sei ehrlich, Nox: Bin ich ein sexy Geist?"
Wie bitte? Gus' Frage trifft mich unvorbereitet.
„Schau doch nicht so entsetzt!", macht er sich über mich lustig. „Das war nur ein Scherz." Wie so oft boxt er mir gegen den Oberarm und entlockt mir damit ein Grinsen.
Kaum zu glauben, dass er so viel Kraft hat, obwohl er fast nicht mehr sichtbar ist. Gus' Körper wird lediglich von einem dünnen Schleier umhüllt, der in einem hellblauen, fast schon durchsichtigen Farbton schimmert. Es ist, als würde sich seine Existenz langsam in Luft auflösen.
Je schwächer eine Seele leuchtet, umso mehr nähert sie sich dem Jenseits an.
Im Umkehrschluss bedeutet das, dass diejenigen Seelen, die von einem kräftigen Farbschleier umgeben werden, noch nicht mit ihrem Leben auf der Erde abgeschlossen haben und lernen müssen, ihre Vergangenheit loszulassen.
Da ich merke, wie ich sentimental werde, zwicke ich mir kurz in die Handinnenfläche. Auch wenn ich diesen Job schon sehr lange ausführe, fällt es mir immer noch schwer, liebgewonnene Seelen ins Jenseits zu schicken. Am liebsten würde ich sie bei mir im Seelenschwank behalten, doch damit würde ich das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod gefährden. Und das möchte ich natürlich nicht!
Es kostet mich extrem viel Selbstbeherrschung, den Kloß in meinem Hals herunterzuschlucken und mit starker Stimme zu sagen: „Es ist so weit, Gus."
Seine wasserblauen Augen richten sich wie Pfeilspitzen auf mich und er nickt. „Hoffentlich wird mich Christina nicht zu sehr vermissen."
„Wer ist Christina?", hake ich verwirrt nach.
„Die süße Blondine, die vor sechs Wochen an einem Herzinfarkt gestorben ist." Ah, ich erinnere mich. „Ich habe sie wie ein JoJo um den Finger gewickelt. Ich hab's also noch drauf, Alter!" Gus' stolzes Grinsen bröckelt nach wenigen Sekunden und er fügt fast schon schuldbewusst hinzu: „Aber nichts Giselle verraten, okay? Sie soll nichts von meinen Seelentrophäen wissen."
„Keine Sorge", beschwichtige ich ihn, „was im Seelenschwank passiert, bleibt auch im Seelenschwank." Außerdem habe ich sowieso keine Möglichkeit mit Verstorbenen in Kontakt zu treten, die bereits ins Jenseits übergegangen sind.
Meine Bar ist die Schwelle zwischen Leben und Tod. Ich kann also weder auf das Leben noch auf den Tod zugreifen. Hier findet einzig und allein der Übergang statt.
„Lass uns gehen, Gus." Ich strecke dem Mann meine Hand entgegen, die er auch sofort ergreift. Obwohl er sich schon häufiger mit dem Tod auseinandergesetzt hat, spüre ich die Angst und Ungewissheit, die in dieser Sekunde Besitz von seinem Körper ergreifen. „Alles wird gut", versuche ich, ihm Mut zuzusprechen. „Du kannst mir vertrauen."
„Okay."
Ich führe Gus zwischen den vielen tanzenden Seelen her. Der Bass bringt den Boden zum Vibrieren, die bunten Scheinwerferlichter ziehen Kreise und es riecht nach Alkohol und Schweiß. Die perfekte Party! Wie jeden Tag.
Es dauert ein paar Minuten, bis wir die Tanzfläche überquert haben und vor einer Treppe zum Stehen kommen, die ins zweite Obergeschoss hinaufführt. Mehrere vergoldete Stufen ragen nun vor uns in die Höhe und leiten den Weg in die Ewigkeit ein.
„Bist du bereit?", vergewissere ich mich ein letztes Mal bei Gus.
Seine Hand, die noch immer in meiner liegt, zittert. Trotzdem bemüht er sich, tapfer zu sein, und nickt. „J-Ja."
Ganz langsam erklimmen wir die vielen Treppenstufen. Mit jedem Schritt, den wir machen, wird die Musik um uns herum leiser. Ich spüre, dass Gus' Unsicherheit an Größe gewinnt, aber leider kann ich ihm nicht helfen, seine Zweifel abzuschütteln.
Er ist ein starker Mann. Er wird es aus eigener Kraft schaffen, ins Jenseits überzugehen.
Im zweiten Obergeschoss angekommen, erstreckt sich ein riesiger Flur vor uns. Rechts und links zweigen jeweils mehrere Türen ab, die mit Namen beschriftet sind. Namen von den Verstorbenen, die sich aktuell im Seelenschwank aufhalten.
Wie in Zeitlupengeschwindigkeit schreiten wir durch den endlos langen Gang. Gus drückt währenddessen meine Hand. Verzweifelt und hilfesuchend.
Als wir etwa die Hälfte des Flures hinter uns gelassen haben, offenbart sich uns auf der linken Seite eine Tür, die von einem gleißend hellen Lichtschimmer umspielt wird. Auf der goldenen Oberfläche steht in schnörkeligen Buchstaben Gus Millington geschrieben.
„So, da wären wir ...", murmele ich leise in die Stille hinein. „Das ist dein Weg ins Jenseits."
Gus löst sich vorsichtig von mir. Tränen schwimmen in seinen Augen und sein Körper zittert, als er flüstert: „Danke, Nox! Für alles!" Keine Sekunde später schließt er mich in seine Arme und drückt mich fest an seine Brust.
Verdammt! Ich hasse diese emotionalen Abschiede. Daran hat auch meine jahrelange Joberfahrung nichts geändert.
Da ich es nicht mag, von meinen Gefühlen übermannt zu werden, löse ich mich von Gus und sage mit einem ehrlichen Lächeln: „Du hast es verdient, deinen Seelenfrieden zu finden!"
„Du auch, Nox! Du auch ..."
Kaum hat Gus diese Worte ausgesprochen, die sich wie eine Messerklinge in mein Herz bohren, kehrt er mir den Rücken zu und tritt verunsichert vor die leuchtende Tür. Ich kann sehen, wie sich sein Brustkorb viel zu schnell hebt und senkt, als er seine rechte Hand auf die Klinke legt und sie langsam hinunterdrückt.
„Mach's gut, Gus!"
Obwohl meine Stimme nicht lauter als ein Wispern ist, dreht sich Gus ein letztes Mal zu mir um. Mit dem frechen Grinsen, das ich in den letzten Tagen so häufig gesehen habe, säuselt er: „Mach's besser, Nox!"
Dann öffnet er die Tür und wird von dem hellen Lichtstrahl verschluckt. Für immer!
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