Kapitel 9

Álvaro

»Warte auf mich!« Lachend rannte ich Lorenzo nach. »Wo willst du hin?«

Meine Augen klebten förmlich an ihm. Wieso auch nicht? Dieser Mann war einfach perfekt, wer konnte schon diesem Lächeln widerstehen? Eins war sicher, ich jedenfalls nicht. Innerhalb weniger Tage war ich ihm verfallen. Eigentlich war ich nie der Mensch für, jemanden schamlos anzugaffen und es nicht einmal zu merken. Dachte ich - bis Lorenzo vorgestern genau aus dem Grund angefangen hatte, in schallendes Gelächter auszubrechen. Rot wie frisches Eberblut war ich geworden und nur sehr langsam hatte diese Farbe sich aus meinem Gesicht verflüchtigt, obwohl der hübsche Mann mir aufrichtig versichert hatte, dass mein Starren süß gewesen wäre.

Unachtsam, wie ich in solch einem Moment war, wenn ich im goldenden Erinnerungen schwelgte, sah ich die Wurzel selbstverständlich nicht kommen. Im ersten Augenblick schmerzte mein Fuß, in der nächsten Sekunde landete ich nach kurzem Stolpern unsanft in einem der Brombeersträucher, welche den Wegesrand säumten. Ihre spitzen Dornen verteidigten die süßen Beeren wie stramme Krieger ihr heiliges Land; ebenso unangenehm zerstachen sie mir jetzt die helle Haut.

Lorenzo hatte meinen tollpatschige Sturz gemerkt; er stoppte und drehte sich zu mir um. »Ach du meine Güte, Álvaro, was machst du denn?« Mit wenigen Schritten war der Mann bei mir und kniete sich besorgt neben mich. »Hast du dir wehgetan?«

Unbeholfen versuchte ich mich aufzurappeln. Allerdings gestaltete sich das schwierig, da die Dornen des Strauches sich bei jeder noch so kleinen Bewegung in meine Haut bohrten. Aber mir war bewusst, dass ich nur so aus dem Geäst rauskommen würde, deshalb ignorierte ich die Stacheln der Pflanzen. In diesem Moment verfluchte ich mich für meine armselige Hilflosigkeit. Gott verdammt, ich war der Erbe, ein Mann; das Wörter wie Schwäche, Schmerz oder Gefühl sollte in meiner Welt nicht einmal existieren.

Zumindest wenn man meinen Vater Glauben schenken sollte. Ich konnte nicht sagen, wie oft er mir dies wie ein Geistlicher gepredigt hatte. Allerdings war bei seinen Worten nichts Heiliges bei gewesen. Viel mehr entsprachen sie einer kalten, dystopischen Dimension, die jede Menschlichkeit verloren hatte. Jede Lebendigkeit. Kälte, Schwärze und Trostlosigkeit klebten an dieser Welt wie Honig.

Nach einigen Minuten hatte ich mich und meine Kleidung weitestgehend aus den Dornen befreit und Lorenzo half mir auf. »Hast du dir wehgetan?«

Bis jetzt hatte ich noch kein einziges Wort verloren, seit er begonnen hatte, vor mir wegzulaufen wie ein lebensmüdes Reh vor dem Wolf. »Ja, es geht mir gut, sorge dich nicht«, murmelte ich beschämt. Meine Unachtsamkeit war wirklich zutiefst demütigend für einen Prinzen.

Lorenzo stand jetzt ganz nah vor mir, kaum passte ein Blatt Pergament zwischen unsere Körper passte, ich konnte seinen fantastischen Duft nach Wiesen und Honig deutlich riechen. Unsicher strich er mir eine meiner dunkelbraunen Locken hinter das Ohr, welche mir störrisch ins Gesicht gefallen war. Seine federleichte Berührung ließ die Schmetterlinge in mir wild aufflattern und drehten Chaos stiftend und tanzend meine Innereien um. Dass seine Finger anschließend weiter nach unten wanderten und der feine Definition meiner Oberarmmuskeln folgten, führte nicht gerade zur Beruhigung unter meinem Herzen.

Bei meinen Unterarm hielten seine weichen Fingerspitzen mitten in der Bewegung inne und zogen mit einem Ruck die Dorne aus meinen Fleisch, die sich an der Stelle weil ein Kätzchen festgekrallt hatte. Ein bebenden Gänsehaut breitete wie eine Welle auf meiner Haut aus, beginnend in meinen Nacken, als Lorenzo einige Male über die Einstichstelle der Dorne strich. Jäh löste er seine Hand, jedoch nur, um sie anzuheben und die mit meinem blutverschmierten Finger zu seinem Mund zu führen.

Ich keuchte, als er die rote Flüssigkeit genüsslich von den Fingerspitzen leckte. Erregung schoss mir augenblicklich wie ein Pfeil durch die Adern und ließ ein Kribbeln in meinen Lenden keimen, wie ich es noch nie gespürt hatte. Mein Atem ging unregelmäßig und benetzte wie die feinen Welle des Windes im Sommer seine scheinbar weichen Lippen.

Nur schwer schaffte ich es, meinen Blick von seinen befleckten Fingern zu lösen, welche er noch immer ableckte, und aufzusehen. Lorenzos sonst so wiesengrüne Augen waren selbst durch die wenigen Tropfen meines Blutes schon jetzt puterrot und ließen den sonst so quirligen Mann mit einem Mal dominant und gefährlich wirken. Vor allem, da er genau in mein Moment die feinen, blutverschmierten Lippen zu einem Grinsen verzog und seine nadelspitzen Eckzähne entblößte.

»Lorenzo«, knurrte ich rau, unwissend, was ich sagen wollte.

Etwas Diebisches mischte sich in seine roten Augen, deren Farbe sich durch den Blutmangel in seinem Mund wieder zu jenem faszinierenden Grün wandelten, das mich so sehr an saftiges Gras denken ließ. »Ja, MyLord?«

Ruckartig trat er erst einen Schritt zurück und ließ mich dann völlig verwirrt stehen. Ich brauchte einen Moment, um wieder einen klaren Gedanken fassen und mich rühren zu können. Einige Male blinzelte ich und folgte ihm dann rasch durch den Wald. »So warte doch, wo willst du hin?«

Es ging auf den Abend zu. Die Sonnenstrahlen, die sich durch das Blattwerk der hohen Bäume zwängte wie Wasser durch ein undichtes Dach, begannen langsam farblich in eine gewisse Röte abzudriften. Lang waren die Schatten der mächtigen Stämme nun schon und begruben sämtliche Pflanzen erbarmungslos unter sich, kleine Vielchen ebenso wie gemeine Stachelbeerbüsche. Zärtlich reckten kleine Vergissmeinnicht ihre blauvioletten Köpfchen dem letzten Strahlen entgegen, während die Gänseblümchen unter der ein oder anderen mächtigen Eiche ihre Knöpfchen bereits geschlossen hatte.

Doch meine Augen fanden keine Zeit, den Blumen beim Einschlafen zuzusehen. Viel mehr war ich damit beschäftigt, dem schönen Mann zu folgen, der geschickt zwischen den Stämmen und Ästen hindurchhuschte. Nicht den blassesten Schimmer hatte ich, wohin er wollte.

Vor einigen Stunden hatte er mich im Stall abgefangen, als ich gerade mein Pferd zurückgebracht hatte, weil ich unterwegs gewesen war, um Besorgungen nachzugehen, wie ich Aquila gesagt hatte. Dass mein Vater mir nicht einmal im Ansatz diese Lüge glaubte, war deutlich in seinem Blick zu sehen gewesen. Manchmal fragte ich mich, ob Großvater seinem Sohn aufgrund dieser Augen seinen Namen gegeben hatte. Denn Aquila bedeutete Adler. Und das passte nun wohl wahrhaftig ausgezeichnet.

Ob Lorenzo geahnt hatte, dass ich in solchen Momenten alleine war, weil ich den Knappen immer sagte, dass ich mich selbst um mein Pferd kümmerte, um ihnen nicht allzuviel Arbeit zu machen, wusste ich nicht. Jedenfalls hatte der Mann mit seinem unwiderstehlichen Grinsen gefragt, ob ich den Abend frei hätte, da er mir etwas zeigen wollte.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten wir beide kaum ein Wort gewechselt. Wenn, dann waren unsere Gespräche kurz und flüchtig. Einzig alleine mit meinen Blicken hatte ich Gott wer weiß was für Sachen mit ihm angestellt. Ich für meinen Teil ging ihm aus dem Weg, da ich fest damit rechnete, dass meine Gefühle für ihn nicht einmal im Ansatz erwidert werden würden. Außerdem wusste ich um die Reaktion meines Vaters, würde er etwas von meiner Vorliebe für Männer erfahren. Folter und Tod wären ein gnädiges Urteil.

Dennoch weigerte ich mich noch immer strikt, etwas mit Rosana anzufangen. Sie würde noch nicht einmal meinem Geschmack gerecht werden, würde ich gerade das weiblichen Geschlecht bevorzugen. Ich mochte lieber einen ruhigen, weniger dominanten Partner.

Wieso mir also Lorenzos Verhalten von gerade eben nicht im Geringsten gegen den Strich ging, sondern mich im Gegenteil sogar noch erregte, war mir weiß Gott ein Rätsel.

Im nächsten Moment lichtete sich schlagartig das dichte Gestrüpp und ein See tat sich nur wenige Fuß vor mir auf. Ich konnte noch gerade so abbremsen und kam halb schmitternd, halb stolpernd vor den kühlen Fluten zum Stehen. Wachsam sah ich mich um. Der See war reaktiv groß, das Ufer gesäumt mich kleinen Buchten und Zungen, jedoch nicht allzu breit. Hier und da reckte eine Trauerweide ihre langen Äste träge über das glitzernde Nass, während an einigen Stellen kleine Rohrfinken fröhlich zwischen einigen Schilfstellen zwitscherten. Ein kleines Rehkitz gegenüber am anderen Ufer des Sees, welches gerade ruhig trank, hob plötzlich den Kopf und stelzte erschrocken davon, als es mich sah.

Von Lorenzo allerdings fehlte jede Spur.

Erneut ließ ich meinen Blick über das über des Sees gleiten, die Sinne geschärft auf jedes noch so kleine Detail. Das Jagen hatte mir diese Fähigkeit beschert, ebenso wie die haben, mich nahezu lautlos zu bewegen und jedes Geräusch sofort zu deuten.

So auch das Knacken hinter mir.

Ich wirbelte instinktiv herum, war trotzdem nicht schnell genug. Noch in der Drehung schaffte Lorenzo es, mich zu packen und von dem kleinen Vorsprung aus, auf welchem ich stand, ins Wasser zu stoßen. Wieso musste es sich ausgerechnet hier wenige Meter steil nach unten gehen und nicht flach wie am restlichen Ufer des Sees?

Ein überraschter Laut entwich mir, bevor ich die Wasseroberfläche durchschlug. Das kalte Nass umwirbelte mich rasch und einen Moment starrte ich regungslos zur Wasseroberfläche, an welcher sich das Abendlicht brach und schillernde Farben um mich herum tanzten.

Ich riss mich aus meiner Starre und stieß mich vom steinernen Boden ab, auf welchen ich langsam aber sicher zu trudelte. Mit einigen kräftigen Zügen war ich wieder an der Oberfläche und schnappte nach Luft.

Lorenzo hockte am Rande des kleinen Vorsprung und lachte sich kringelig. »Vorsicht, nicht Stolpern, da geht's ins Wasser«, kicherte er.

»Das habe ich gemerkt«, knurrte ich und tauchte kurz unter, um mir meine langen Strähne aus dem Gesicht zu streichen.

Dennoch schlich sich auch bei mir ein diebishes Grinsen langsam auf mein Gesicht. Bedacht schwamm ich Stück für Stück weiter in Richtung des flachen Ufers, Lorenzo würde so von seinem Lachen geschüttelt, dass er das gar nicht richtig wahr nahm. Kein Nachteil für mich, ganz im Gegenteil. Nur Augenblicke später spürte ich wieder festen Boden unter den Füßen und mit wenigen Schritten stand ich am Ufer, die kühlen Fluten zu meinem Rücken. Langsam triefte das Wasser aus meiner getränkten Kleidung und die Tropfen rollten meinen Körper hinab. Doch trotz der mich beschleichenden Kälte fror ich nicht, dafür hatte die Sonne den erstaunlich warmen Frühlingsabend zu sehr aufgewärmt.

Lorenzo schien langsam zu merken, dass ich weg war. »Álvaro?« Irritiert sah er sich um.

Ich hingegen pirschte mich langsam von hinten an ihn heran. Wieso er das nicht einmal merkte war selbst mir ein wahrhaftiges Rätsel. Zumindest ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit sollte er doch wohl besitzen. Jedoch würde ich mich nicht über diesen Vorteil beschweren, sondern ihn mir zu Nutze machen. Dennoch war es erstaunlich, dass der Mann zwar verwirrte seinem grünen Blick über die dunklen, seichten Wellen gleiten ließ, trotzdem nicht einmal auf die Idee kam, hinter sich zu sehen. Ein sehr kindliches und naives Verhalten in meinen Augen, der Feind griff fast immer auf dem Hinterhalt an.

Ich auch, selbst wenn ich mich nicht als seinen Feind betrachtete.

Genau in jenem Moment, als ich genau hinter Lorenzo stand und auf ihn hinab grinste, schien ihm aufzugehen, in der falschen Richtung gesucht zu.

Überrascht zuckte er zusammen.

»Ich habe dich«, lächelte ich spitzbübisch.

Verlegen lachte er, seine grünen Augen blitzten. »Vielleicht bist du im Recht. Doch nur vielleicht.« Mit diesen Worten sprang er ins Wasser.

Dieser kleine Wicht. Ohne zu zögern tat ich es ihm gleich. Nur wenige Augenblicke nach ihm kam ich prustend an die Wasseroberfläche. Allerdings nur, um gleich danach wieder von ihm spielerisch unter Wasser gedrückt zu werden. Frustriert ruderte ich mit den Armen, kam aber nicht zu Luft. Die Beine wegziehen konnte ich ihn auch nicht, da wie beide ein ganzes Stück über den Stein paddelten. So blieb mir kaum etwas anderes übrig, als meine Kreativität spielen zu lassen; in der Hoffnung, dass meine Idee Wurzeln fasste.

Mit diesem Gedanken begann ich ihn, an seinen Flanken zu kitzeln. Schlagartig ließ er von mir ab und ermöglichte mir so, aufzutauchen und keuchend nach Luft zu ringen. Kichernd wand er sich unter meinen Neckerrein und schnappte ebenso nach Luft, wie ich. Doch ich hatte nicht vor, ihn einfach so mit seinem Verhalten durchkommen zu lassen. Grinsend packte ich ihn an den kräftigen Schultern und drückte jetzt seinen blonden Schopf unter Wasser.

So balgten wir uns, während die Sonne nach und nach zum Horizont strebte. Unser Lachen hallte zwischen den Bäumen wieder und ich hoffte inständig, dass wir alleine waren. Es wäre eine Schande, sollte jemand jetzt diesem wunderschönen Moment das zarte Genick brechen. Ich genoss das Gefühl, seine Haut zu berühren und seine fein definierten Muskeln darunter flüchtig zu ertasten und wünschte, dass der Augenblick niemals endete.

Ich weiß nicht, wie lange wir uns durch die lauen Fluten jagten, doch irgendwann - die Sonne küsste gerade sanft den Horizont, die Lichtstrahlen spielten zwischen dem Blattwerk des mächtigen Waldes - schwammen wir relativ mittig im See, der Steingrund unter uns Meter entfernt. Beide keuchten wir außer atmen, mein Bauch tat vom ganzen Lachen weh.

»Was wolltest du mir eigentlich zeigen?«, fragte ihn nach einigen Minuten wasserklarer Stille.

Lorenzo zuckte nur mit den Schultern. »Ich wollte einfach Zeit mit dir verbringen, dich kennenlernen. Und dies, ohne dass Solea und Rosana uns dabei ständig über die Schulter schauen.«

Etwas Warmes erblühte in meiner Brust und ich konnte es nicht verhindern, dass ich strahlte. »Hat das einen bestimmten Grund?«, hakte ich nach.

»Ja.« Zaghaft hob er seine Hand aus dem Wasser und strich mir erneute eine meiner dunklen Strähnen aus dem Gesicht.

Das war der Moment, in dem ich mir sicher war. Sicher, dass meine Gefühle nicht einseitiger Natur waren. Mit glitzerndem Herzen schwamm ich etwas näher, bis ich seinen warmen Atem auf meinen Mund spüren konnte. Ein Schauer tanzte durch meine ganzen Körper, getrieben von der Lust, Lorenzos Lippen zu erobern.

Als seine Finger langsam meinen Kiefer entlang strichen, auf sicherem Weg zu meinem Nacken, packte ich auf einmal unvermittelt sein Handgelenk. Es war der Punkt, als sich das Blatt wendete. Mit einem Schlag gierte es mir nach Kontrolle und Dominanz. Lorenzo beugte sich ein Stück zu mir, um mich zu küssen, doch flugs lag meine andere freie Hand um seinen Hals. Ich verletzte ihn nicht, trotzdem konnte er sich nicht weiter nähern. Lorenzo deute die Geste unterbewusst ebenso devot, wie ich es erwartet hatte.

»Álvaro ...« Unsicherheit schwang in Lorenzos Stimme mit, vermutlich, weil er eine andere Reaktion erwartet hätte.

Doch ich unterbrach den Mann. »Scht«, machte ich, wohl wissend, dass das Verlangen meine dunkelbraunen Augen zerriss.

Wenige Augenblicke noch fixierte ich ihn in dieser Position, bis ich meinen Gefühlen freien Lauf ließ. Abrupt überwand ich den hauchfeinen Abstand zwischen uns und küsste ihn gierig. Meine Augen schlossen sich halb.

Die Sonnenstrahlen streichelten ein letztes Mal durch den Wald, bevor der Himmelskörper die Welt dem feinen Gewand der Nacht überließen. Nur Wimpernschläge später hatte sich Lorenzo aus meinem Griff befreit und klammerte sich so verzweifelt an mich, sodass ich ahnte, nicht der einzige mit unterdrückten Gefühlen gewesen war.

Alles in mir prickelte, ausgelöst durch die unglaublichen Lippen, welche ich kosten durfte. Ich übernahm die Führung und zog und beide unter die Wasserüberfläche.

Der Vollmond trat seine Reise über das Himmelszelt an und meine Runen begannen Stück für Stück den ganzen See und blau-kaltes Licht zu tunken. In kleinen Kringel unspülten uns Wasser und Farbe und keiner sah, dass sich meine Tränen der fassungslosen Freunde dem kühlen Nass angeschlossen, während ich mir wünschte, dass dieser besondere Augenblick niemals enden würde.

Ich wurde unsanft angerempelt und stolperte. »Pass doch auf, wo du hintrittst, du Spast«, riss mich ein Mitschüler aus der besonderen Erinnerungen.

Mehr als eine undeutliche Entschuldigung brache ich nicht zustande. Kopf und Bauch schmerzten mir und die Welt wollte einfach nicht aufhören, sich zu drehen. Ich hatte Hunger. Was würde ich jetzt nicht alles für einen Tropfen Blut tun?

Selbstverständlich sprachen wir hier ein menschlichem Blut. Jenes vampirarischer Natur hatte ich gerade vergangenes Wochenende zur genüge bekommen. Ich konnte noch immer nicht fassen, dass ich Lorenzo wieder hatte. Es grenzte an ein Wunder. Und es war mir sogar egal, was der Grund für sein schlagendes Herz war.

Noch immer durchflutete mich ein Gefühl von tiefer Dankbarkeit und Freude, dennoch gestand ich, dass der Hunger im Moment doch Überhand gewann. Seit sechs Tagen hatte ich nun schon kein Menschenblut bekommen und war dem Zusammenbruch nahe. Lorenzo ging es blendend, jedoch benötigte er auch deutlich seltener Blut als ich.

Meine Feigheit stand mir im Weg; unter normalen Umständen hätte ich schon lange Lucinda danach gefragt und sie hätte bestimmt nicht nein gesagt. Doch das Gewissen quälte mich. Mir war bewusst, dass es ihr wehtat, wenn ich mit Lorenzo zusammen war, dennoch war auch auch der Meinung, dass daran nichts verwerflich war, zumal sie selbst meine Gefühle für ihn geschrieben hatte.

Dennoch fühlte ich mich jedes Mal ein wenig schlecht, wenn ich Lorenzos Lippen küsste.

Eine Hand packte mich grob am Oberarm und zerrte mich mit sich. »Komm.«

Völlig verwirrt und willenlos stolperte ich Ash nach. Alles drehte sich um mich und mein Frühstück versuchte sich den Weg an die Oberfläche zu Bahnen. Es brauchte meine gesamte Willenskraft, um diese demütigende Katastrophe zu verhindern.

Gegen meine Schwindel war ich allerdings völlig machtlos, selbst wenn ich den Blick stur nach unten gerichtet hielt.

Der zerdellte Spind zu meiner linken drehte sich.

Der verstaubte Handschuh in der Ecke neben der Tür des Hausmeisterbüros drehte sich.

Der Spickzettel für Physik vor Spind siebenhundertzwölf drehte sich.

Gerade, als ich dachte, ich könnte keinen einzigen Schritt mehr gehen, hielt Ash an. Allerdings nur so lange, bis er die Tür zur Abstellkammer aufgerissen, mich unsanft hineingestoßen und besagte Tür hinter sich wieder geschlossen hatte. Ich konnte hören, wie der Kerl den Schlüssel im Schloss umdrehte.

Blind tastete ich mich durch den kleinen Raum. Das Licht war schummerig, dass meine müden Augen kaum etwas erkennen können. Mit dem Schienbein stieß ich derb gegen die Kante einer vermeintlichen Kommode, aber mein Körper war selbst für so eine Reaktion zu schwach.

An einer Wand wollte ich mich hinuntergleiten lassen, doch Ash kam mir zuvor. Unsanft riss er mich aus meiner Abwärtsbewegung und drückte mich hart mit dem Rücken gegen die Wand. »Das ist dafür, dass du Lucinda das Herz gebrochen hast«, sagte er mit seiner gefährlich leisen Stimme.

Mein Herz stockte eine Sekunde und mit Dornen gespickte Ranken wanden sich fest und meinen Lebensgeber.

Nur einen Flügelschlag eines Sperlings später landete seine Faust in meinem Gesicht und ich konnte spüren, wie meine sowieso schon gebrochene Nase - Logan sei Dank - wieder verrutschte. Augenblicklich strömte das Blut wieder hervor und lief über meine Lippen.

Doch gegen meine Erwartungen blieb es bei dem einen Schlag.

»Was ist? Bist du schon fertig?«, provozierte ich matt. Mit jedem Tropfen meiner Lebensessenz, den ich jetzt vorlor, wankte ich näher auf die Grenze zwischen Sein und Nichtsein zu.

Ash seufzte. »Ja. Denn auch wenn du noch weitaus mehr verdient hättest, mit jedem Schlag treffe ich Lucinda härter, als du es spürst.«

Ein fetter Kloß verklebte meine Kehle und schlechtes Gewissen biss sich in meiner Seele fest wie eine Zecke. Ich musste schlucken und spürte, wie das Blut in mein Gesicht stieg, was, nebenbei gesagt, nicht gerade den Blutfluss aus meiner Nase milderte.

Tat ich ihr wirklich so sehr weh?

Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Alles drehte sich, selbst wenn ich in der dunklen Kammer kaum etwas sah. Nur vage konnte ich Ashs Gesicht ausmachen, welches nur wenige Zentimeter von meinem entfernt war, und sich durch den Schwindel in eine Strudel der Unendlichkeit formte.

»Aber noch mehr weh tust du ihr, wenn du stirbst«, gestand er leise. »Und wir wissen beide, dass du das nicht ohne Blut kannst, ich meine, schau dich doch einmal an.«

Mit aufgerissenen Augen starrte ich ihn an, mein Körper hatte für einen Moment den Schwindel vergessen und die Welt stand still. »Wa-was?«, stotterte ich überrumpelt.

»Du brauchst Blut. Von jemandem, der um deinen Natur weiß«, fuhr Asher ruhig fort. »Und Lucinda darum zu bitten, wäre gerade in der Situation mehr als unanständig.« Er trat einen Schritt näher, sodass wie fast auf einer Augenhöhe waren. »Sie liebt dich wirklich. Und sie will, dass du lebst. Ich tue das hier also nur für sie.«

Ich schluckte und langsam nahm mein Karussell wieder fährt auf, was mich nur daran erinnerte, wie sehr ich sein Angebot nötig hatte. »Ist das dein Ernst?« Meine Stimme war kaum mehr als der Hauch eines Windes.

»Ja. Schulter«, befahl der Mann und schob den Ärmel runter. »Und sieh zu, dass die Wunde bis heute Abend wieder weg ist. Ich hab wieder ein Date mit Shira.«

Völlig perplex starrte ich auf das Fleisch seiner Schulter, fasziniert von den Muskeln, die unter der Haut spielten. Ein wenig erinnerte es mich an meinen Freund. An unserem ersten gemeinsamen Abend.

Ich legte meine Hand auf seinen Arm. »Bist du sicher?«

»Ja, aber ich habe eine Bedingung.«

Diese stand ihm wahrhaftig zu. »Sprich.«

»Keiner erfährt hiervon je etwas. Besonders nicht Lucinda. Sonst prügle ich dir deine Seele aus dem Leibe, wenn sie nicht hinschaut.«

Mit diesen Worten packte er meinen Kopf und drückte meine Lippen auf seine Schulter. Mein Mund öffnete sich durch den Hunger ganz von selbst und rasch hatten sich meine Nadelspitzen Fänge in seinem Fleisch vergraben.

Er schmeckte nicht annhähernd so herb wie das beißend schlechte Gewissen, welches mich in diesem Moment bezüglich der kleinen, süßen Silberhaarigen durchflutete.

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