Kapitel 8

Lucinda

»Nein, lass das«, jammerte ich und klammerte mich deprimiert fester an meine Bettdecke.

Doch Logan hatte anderes im Sinne. »Nichts da, du kommst mit.« Beherzt erhöhte er die Kraft auf die Bettdecke und schliff mich mitsammt dem Stoff ein Stück in Richtung Bettkante.

Nach meiner Schulschwänzerei gestern waren meine Freunde auf die glorreiche Idee gekommen, heute Abend ein Aufmunterungspicknick am Strand zu veranstalten. Logan war der Überbringer dieser in meinen Augen weniger erfreulichen Nachricht gewesen und versuchte nun schon seit bestimmt einer Dreiviertelstunde, mich aus dem Bett zu bekommen. Allerdings dachte ich nicht einmal im Traum daran, seinem Wunsch nachzukommen. Mein Plan bestand darin, mich bis zu meinem Lebensende heulend in diesem Bett zu kriechen und keinen einzigen Schritt vor die Türe zu setzen. Und vielleicht einige Tonnen Nutella zu mummeln.

Denn alleine schon der Gedanken, dass Lorenzo da war und Álvaro geküsst hatte, schmerzte unerträglich. Vor allem, wenn man sich vor Augen hielt, wie vertraut der Vampir und ich uns geworden waren.

Es war so dumm von mir, dass ich Hoffnung darin gesehen hatte. Hoffnung, dass ich glücklich werden konnte.

Und die Ironie bei der Sache war, dass ich all das allein nur mir zuzuschreiben hatte.

Mit einem Ruck war die Bettdecke plötzlich komplett weg. »Komm schon, etwas Abwechslung tut dir gut. Außerdem lasse ich dich hier drinnen nicht verkümmern.«

Ich begann zu weinen. Wieso genau, konnte ich nicht einmal sagen. Vermutlich war mir die ganze Situation gerade zu viel. Wimmernd robbte ich zum Kopfende und versuchte kläglich, mich unter meinen Kissen zu verstecken. Schlagartig wurde mir kalt, obwohl draußen seit heute morgen schon sommerliche Temperaturen herrschten, regelrechtes Badewetter. Aber wahrscheinlich war innerliche Kälte für mein Frieren verantwortlich.

So sehr hatte ich es mir gewünscht. Álvaro war alles, was ich je gewollt hatte. Und dann mit ihm tatsächlich zusammen zu sein, was war ein Traum gewesen. Seine Lippen zu schmecken, seinen festen, warmen Körper unter meinen Fingern und seine unregelmäßigen Atem in meinem Nacken zu spüren, seiner warmen, rauen Stimme zu lauschen und in seine endlos tiefen Augen zu blicken. So oft hatte ich mich das gewünscht und noch öfter quälte mich jetzt die Gewissheit, eben dieses Glück verloren zu haben.

»Hey, nicht weinen.« Seufzend krabbelte Logan auf mein Bett und rutschte neben mich. Seine Hand legte sich hilflos auf meinen Rücken, fuhr höher und zog mir sanft das Kissen von meinem Gesicht.

»Er ... ich hab ihn verloren«, flüsterte ich erstickt. »Und es ist meine eigene Schuld.«

Logan hob mich hoch und verfrachtete mich vorsichtig auf seinem Schoß. Liebevoll strich er mir über die Wirbelsäule, während ich sein schlichtes T-Shirt mit Rotz und Tränen vollsaute. In keinster Weise war es fair, was ich hier tat: mich über den Kerl ausheulen, den ich liebte, vor dem Jungen, der mich liebte, ohne dass ich dessen Gefühle erwiderte. Tief drin war mir klar, wie sehr es Logan verletzte, wenn ich über den Vampir sprach - und über das Verlangen, welches ich ihn bezüglich verspürte. Oder darüber, wie sehr er mir fehlte.

Vage konnte ich ahnen, in welch einem Zweispalt mein bester Freund sich befinden musste. Auf einer Seite war er wahrscheinlich froh, dass Álvaro zu seinem Ex zurückgekehrt und mich verlassen hatte, denn so war ich drei, was Logan in der Theorie wieder alle Tore öffnete. Aber andererseits liebte mein bester Freund mich vermutlich genug, dass er unter keinen Umständen ertragen konnte, mich unglücklich zu sehen. Glücklich war ich allerdings mit einem anderen Menschen.

»Álvaro ist ein Arsch«, murmelte mein Logan in mein graues Haar. »Und er ist keine einzige deiner Tränen wert, die du seinetwegen vergießt.«

»Ich weiß«, schniefte ich und kuschelte mich an ihn. Seine Wärme tat gut. »Aber es tut trotzdem weh.«

Er drückte mich an sich. »Das glaube ich dir. Aber mit der Zeit wird es leichter, das verspreche ich dir, und ich bin immer da für dich.«

Stumm nickte ich. Ich bezweifelte, dass es so leicht werden würde. Denn ohne Álvaro nur zu kennen, hatte ich mich in ihn verliebt. Da ich jetzt wusste, was ich verpasste, glaubte ich mich je wieder einen anderen Jungen so ansehen zu können wie ihn.

Doch ich wischte die Gedanken weg. »Habt ihr Schokolade?«, nuschelte ich und wischte mir über das nasses Gesicht.

Logans Brust vibrierte unter meinem Ohr, als er leise lachte. »Ich denke, wenn Shira nicht schon daran gedacht hat, hat auf jeden Fall Jean welche mit.«

»Okay, dann lass uns gehen.« Unbeholfen rappelte ich mich auf.

Denn selbst wenn ich aus meiner Kuschelecke nie wieder aufstehen wollte, hatte Logan recht. Hier verkümmern konnte ich ja wirklich schlecht.

Meine Flauschesöckchen gruben sich in den Teppich vor meinem Bett; als ich Pflanziskas traurigen Zustand erblickte, seufzte ich. Ich hatte wirklich nicht einmal im Ansatz einen grünen Daumen. Ohne auf Logans verwirrte Frage zu antworten, was ich denn tun würde, stand ich auf und tapste ins Badezimmer, um eine kleine, fliederfarbende Gießkanne zu holen. Geduldig befüllte ich sie mit Wasser und trottete anschließend zurück in mein Zimmer. Natürlich hatte ich beim Einlassen des Wassers geschludert und dementsprechend tropfte bei jedem Schritt etwas von dem flüssigen Nass auf den Boden, was mich dazu anspornte, schneller zu gehen. Meine Mutter würde sich sonst nur wieder über die Flecken auf dem Boden beschweren.

Mein bester Freund beobachtete mich ruhig, während ich Pflanziska etwas zu Trinken gab. Die Yucca Palme hatte dies aber sich mehr als nötig: sie wandelte blind und verloren auf der feinen Grenze zwischen Leben und Tod.

Daher bekam sie auch etwas mehr Wasser als sonst und ich betete stumm, dass sie nicht daran ertrank, als ich die Gießkanne neben meinen Schreibtisch stellte, um vielleicht das nächste Mal eher an die arme Pflanze zu denken.

»Zieh dir etwas Luftiges an, und nimm vielleicht auch Badesachen mit, das Wetter draußen ist herrlich«, empfahl mein bester Freund mir. »Aber vielleicht packst du auch noch etwas Kuscheliges für den Abend ein, wenn es frischer wird.«

Ich nickte und öffnete meine Kleiderschrank. Wahllos griff ich nach einem hellen Top und meiner kurzen, schwarzen Hose. Diesmal sah Logan demonstrativ weg, als ich mich umzog und letztendlich sogar meine Kuschelsocken durch kurze Söckchen ersetzte. Mit ein paar Handgriffen hatte ich meine Badesachen und ein Handtuch in meinen Rucksack gequetscht und suchte jetzt nach etwas Wärmeren für den Abend.

Meine und Logans Augen blieben zeitgleich an einem übergroßen Hoddie hängen, der zusammengeknüllt unter meinen Schreibtisch lag.

Zaghaft ging ich in die Knie und zog behutsam das Kleidungsstück hervor.

»Ist das ...«, setzte mein bester Freund unsicher an und trat schützend hinter mich, als ich mich wieder auftichtete.

Der Duft nach einen Hauch Thymian und einer bitterkalten Vollmondnacht, in welcher der Geruch von gerade erst vergangenem Regen noch wie ein zarte Schleier zwischen den wollen hing, stieg mir in die Nase und ich wusste sofort, dass das definitiv nicht mein Pulli war. Instinktiv vergrub ich das Gesicht in dem Kleidungsstück und drückte es panisch an mich. Zeitgleich spürte ich, wie mir erneut die Tränen in die Augen stiegen.

Es war der Hoddie von Álvaro. Der Vampir hatte ihn mir an nach der Nacht geschenkt, in welcher ich ihn das erste Mal von meinem Blut trinken lassen und ihm somit das Leben gerettet hatte. Fieberhaft unterdrückte ich jeglicher Erinnerungen daran, um einen erneuten Heulkrampf zu vermeiden. Das war das Letzte, was ich jetzt noch gebrauchen konnte, in den letzten drei Tagen hatte ich nun weiß Gott genug Tränen vergossen.

Logan entzog mir sanft das Kleidungsstück und legte es hinter sich auf das Bett. Anschließend nahm er mich erneut in den Arm. »Ich weiß. Alles gut. Lass uns losgehen.«

Wortlos atmete ich seinen herben Duft ein und nickte. Ein Kloß saß brennend in meiner Kehle und machte es nahezu unmöglich, ihm zu antworten, weswegen ich nicht mehr als ein Nicken zustande brachte.

Logan drückte mir eine Kuss auf den Scheitel. »Dann komm.«

Wir lösten uns. Nachdem ich einen anderen Hoddie aus dem Schrank gefuddelt und eingepackt hatte - der schwarze mit der großen, blauvioletten Irisblüten, schnappte sich auch Logan noch sein Zeug, während ich Schlüssel und Handy einpackte. Zusammen zogen wir uns an und verließen wir die Wohnung und traten nach einigen Treppen abwärts auf die Straße. Die ganze Zeit hielt ich meinen Blick auf den Fußweg gesenkt. Abwesend vermied ich, auf die Risse zwischen den Platten zu treten und Unkraut zu umgehen. Logan neben mir sagte ebenfalls kein Wort und lotste mich stumm in Richtung Strand. Vermutlich schien er zu ahnen, das jedes Wort falsch gewählt sein und damit enden könnte, dass ich wieder begann zu weinen.

Und ich war mir sicher, dass das das Letzte war, das er wollte.

Nach einer Weile erreichten wir schlussendlich auch das Meer. Rasch waren Schuhe und Socken ausgezogen und ich konnte die Zehen indem warmen Sand vergraben. Ich war froh, dass mein bester Freund mich dazu überredet hatte, luftige Sachen anzuziehen. Andernfalls hätte wäre ich jetzt zerschmolzen.

»Komm her, ich nehme dir das ab«, meinte Logan und griff nach meinen Schuhen.

Ich ließ es wortlos gesehen und konzentrierte mich lieber darauf, meine Tränen vollständig zu verdrängen und grinste die ganze Zeit gezwungen vor mich hin. Vielleicht konnte ich mir so einreden, dass ich tatsächlich glücklich war und das erzwungen Grinsen blieb auf meinem Gesicht.

Als wir nach ein paar Metern allerdings bei unseren Freunden ankamen, konnte ich das Lächeln nicht mehr halten.

»Hey, du hast es geschafft, Logan«, freute sich Shira und sprang auf, um mir um den Hals zu fallen.

Ash tat es ihr gleich und schloss mich ebenfalls in seine kräftigen Arme. »Du hast sie tatsächlich überreden können, mit herzukommen.«

Während die beiden jetzt meinen besten Freund begrüßten, sah ich Jean aufspringen und nur wenige Sekunden später erdrückte er mich fast. »Ach Gottchen, Lucinda. Logan hat mir alles erzählt. Im Ernst, Álvaro ist schon ganz schön ein Arschloch.« Kurz löste er sich von mir, um meinem besten Freund Hallo zu sagen. Dann zog er mich zu den anderen auf die Picknickdecke. »Ganz ehrlich, ihr beide ward so süß zusammen, und dann küsst er einfach einen anderen Kerl?! Ich meine, ich kann verstehen, dass Typen geil sind, aber hallo? Er hat doch dich? Und außerdem ...«

»Jean, ich glaube, das reicht«, unterbrach Ash ihn und ließ sich neben seiner Freundin mit Logan neben dem Nudelsalat nieder. Seine Stimme war leise und trotzdem verfehlte sie seine Wirkung nicht. Das tat sie nie. Schließlich war es Ash.

Und so hatte er auch gemerkt, wie mir meine Gesichtszüge entglitten waren und sich eine Träne ihren Weg über mein Wange bahnte. Zu Glück hatte ich mich nicht geschminkt, sonst wäre all das jetzt zerlaufen.

»Manchmal bist du taktlos«, nuschelte Gael mit vollem Mund. Natürlich war er nur am Essen. Was auch sonst.

Jean kratzte sich verlegen am Kopf, seine teils lilanen Strähnen waren zerzaust. Es stand ihm. »Tut mir leid«, murmelte er. »Käse?« Unsicher hielt er mir ein Stück Gouda hin.

Tatsächlich war es diese kleine Geste, die mich zum Lächeln brachte. Ich konnte Jean nicht böse sein, dafür war er zu lieb. Und halt zu sehr Jean. »Schon okay, aber ich habe keinen Appetit auf Käse.«

»Na gut, dann bleibt mehr für mich«, freute sich Jean und schob sich das Goudastück in den Mund.

Shira hielt mir ein Stück Schokolade hin. »Magst du? Sie ist zwar schon ganz schön weich, aber Schoki ist und bleibt Schoki.«

Schniefend wischte ich mir über's Gesicht und griff nach der Leckerei. »Danke.«

Die Schokolade schmolz förmlich auf meiner Zunge. Wieso, wusste ich nicht, aber irgendwie beruhte mich dieser Geschmack immer. Zwar klappte es mit Nutella deutlich besser, aber Schoki ging zur Not auch. Vor allem, wenn es sich um Zartbitterschokolade handelte.

»Was haltet ihr vom ins Wasser gehen?«, wechselte Jean das Thema, scheinbar versucht, alle möglichen Fettnäpfchen zu umschiffen.

»Ja, das klingt super«, freute sich Shira und zog ihr dünnes Top aus. Darunter trug sie bereits ihre Badesachen.

Nach und nach taten es ihr zustimmend murmelnd meine Freunde gleich. Auch sie mussten sich nicht groß umziehen. Ich hingegen mopste währenddessen eim Stück Schokolade nach dem anderen. Denn tatsächlich besserte das fast schwarze Zeug meine Laune erheblich.

Gerade, als ich mir ein besonders großes Stück nahm, da ich mich gerade unbeobachtet fühlte, und es mir in den Mund steckte, merkte ich plötzlich, dass alle mich ansahen.

»Willst du etwas nicht mitkommen?«, fragte Logan besorgte.

Ich kaufte die Schokolade. »Ich kann ja mit den Füßen reingehen«, murmelte ich mit vollem Mund und rappelte mich auf.

Ich folgte meine Freunden durch den Sand in Richtung Wasser. Jean erzählte irgendetwas von einem Typen, den er Anfang der Woche kennengelernt hatte, doch ich hörte nicht zu. Die Lust auf Planschen war mir vergangen. Schokolade zu essen war viel besser. Aber ich musste meine Freunden zumindest das Gefühl geben, dass es mir besser ging. Frustessen konnte ich nachher immer noch.

Während die anderen also in die Fluten rannten und sich gegenseitig nass spritzten, tapste ich ein paar Meter ins Wasser, bis das kühle Nass mir ungefähr bis zu den Knien ging. Eine kleine Qualle wabbelte einige Fuß von mir entfernt zwischen einigen Algen und langsam driften meine Gedanke ab, bis ich bei einem Kapitel aus meinem Buch angekommen war. So vertraut war mir die Szene, wie sie Álvaro an seinem ersten Tag hier aus zu Papier gebracht hatte.

Das Kapitel, wo Lorenzo und Álvaro sich am Ufer des Sees erst gejagt und gebalgt hatten, bis sie tiefer in den See vorgedrungen waren. Herumgerollt hatten sie, lachend, bis der Bauch wehgetan hatte.

Und dann halten sie sich zum ersten Mal geküsst.

Eine Träne löste sich aus meinem Augen winke und tropfte auf die spiegelglatte Wasseroberfläche. Die dadurch ausgelösten Wellen ließen die kleine Qualle unscharf werden. Nur Sekunden später verschwamm mein ganzer Blick und immer und immer wieder fielen Salzwassertränen ins Meere, während ich stumm weinte.

Für die kleine Qualle schien es vermutlich so, als würde es regnen.

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