Kapitel 5
Lucinda
Deprimiert malte ich sinnlose Linien und Formen in das bisschen Mehl, welches die Anrichte benetzte. Tränen standen in meinen Augen und machten es so kaum möglich, mein Kunstwerk zu bewundern, aber tief drin ahnte ich, dass meine Finger unbewusst Álvaros Runen in den Weizenstaub zeichnete.
»Komm, Lucinda, keine Müdigkeit vortäuschen«, versuchte mich Shira aufzumuntern. »Die Brownies backen sich nicht von alleine.«
Ich brachte nicht einmal ein mattes Grinsen bei ihren lieb gemeinten Worten zustande. Dennoch war ich mehr als nur dankbar, dass Shira hier war. Sie war mir nachgelaufen, als ich aufgrund gewissen Umständen heulend aufs Klo gerannt war. Trotz, dass ich mich in einer Kabine eingeschlossen hatte, war sie da gewesen und hatte solange auf mich eingeredet, bis ich schniefend die Tür geöffnet hatte. Geduldig hatte sie mitgeholfen, mein Gesicht halbwegs wieder herzurichten und mir Mut zugesprochen.
Natürlich hatte auch Shira gesehen, was passiert war. Und sie war ganz und gar nicht begeistert gewesen, dass mein Freund einen fremden Typen küsste. Allerdings war ihr nicht das Ausmaß dieses Kusses nicht einmal in Ansätzen bewusst. Das Mädchen wusste nicht, um wen es sich dabei handelte. Ebenso hatte Shira keine Ahnung, dass die beiden ein halbes Jahr versteckt zusammen waren und nur durch Lorenzos tragischen Tod getrennt wurden, an welchem ich die volle Schuld trug.
Wie konnte das Ganze nur so eskalieren?
Ich war erstaunt gewesen, dass meine Freundin nur so wenige Fragen gestellt hatte. Stattdessen war sie einfach für mich da gewesen und hatte mich in ihre Arme geschlossen. Ebenso stand sie mir den restlichen Tag bei.
In Kunst würdigte ich Álvaro keines Blickes und setzte mich woanders hin - was schlussendlich unglücklicherweise damit endete, dass Lorenzo meinen alten Platz einnahm, neben dem anderen Vampir. Zwar sagte keiner meiner Jungs etwas, aber man konnte die klirrende Kälte in der Ecke hinten deutlich spüren. Die ganze Stunde über konnte ich mich kaum konzentrieren, starrte mehr auf mein Blatt und versuchte, die Tränen in den Augen zu behalten, als dass ich zeichnete.
Wie ich den restlichen Tag überstand, wusste ich nicht. Ich achtete weder darauf, wo Lorenzo war, noch auf Álvaro. Gerade Letzten mied ich wie die Pest. Zwar war mir durchaus bewusst, wie schrecklich die Situation für ihn sein musste, trotzdem war ich selbstsüchtig genug, um mich seiner vorzuziehen. Ich hatte keine Nerven für seine Lage.
Und ich brauchte ersteinmal meine Ruhe.
Irgendwann zwischen dem Unterricht hatte Shira beschlossen, dass sie heute Nachmittag mit zu mir kam. Ihre Begründung bestand darin, dass sie mich unmöglich in diesem Zustand alleine lassen konnte. Mehr als ein Nicken bekam ich nicht hin.
Allgemein hatte ich kaum gesprochen, seit ich die Mädchentoilette nach Physik mit knallroten Augen verlassen hatte. Und nachdem ich kurz mit Logan gesprochen hatte.
Wie es aussah, hatte er Álvaro seine Meinung zu dem Kuss mit Lorenzo mehr als deutlich gemacht. Das Blut an seiner Hand bewies das leider nur zu gut. Und wenn ich daran dachte, wie schrecklich der Vampir nach der Pause ab Kunst ausgesehen hatte, wurde mir immer noch schlecht. Er bekam ein Veilchen, seine Nase war komplett blau und blutverschmiert, die Unterlippe aufgeplatzt Auf der einen Seite fand ich natürlich, dass er es verdient hatte, aber andererseits wollte ich nicht, dass er verletzt wurde. Egal, was er mir angetan hatte.
So war ich einfach.
Dementsprechend sauer war ich auch auf meinen besten Freund. Ich meine, Ash hatte auch dabeigestanden und nicht zugeschlagen. Wobei man an der Stelle vielleicht auch noch erwähnen sollte, dass Logan tiefe Gefühle für mich hegte. Dass das Mädchen, welches er liebte, jetzt so verletzt wurde, war vermutlich auch nicht in seinem Sinne.
Trotzdem wollte ich ihn heute nicht mehr sehen.
Daher kam das mit Shira ganz passend.
»Wie funktioniert deine Waage?«, riss sie mich aus meinen Gedanken.
Schniefend blinzelte ich notdürftig die Tränen weg und trat neben das Mädchen, um ihr die Waage zu nullen.
Shira war vorhin auf die Idee gekommen, dass wir etwas backen könnten, weil ich die ganze Zeit nur weinend unter meiner Decke lag. Kurz hatte ich mir gewünscht, doch Logan mitgenommen zu haben, mich dann aber aufgerafft. Sie hatte ja recht. Nur rumheulen brauchte mir rein gar nichts. Da konnte ich auch etwas Leckeres backen und dann Frustessen. Und weil Shira der Meinung war, das Schokolade gegen Tränen und Trauer half, entschied sie sich rasch für besagte Brownies.
Und da standen wir nun. Missmutig sah ich auf das Rezept, welches Shira auf ihrem Handy rausgesucht hatte, und ging zum Kühlschrank, um die Eier zu holen. Anschließend nahm ich mir eine kleine Tasse aus dem Schrank. Ich hatte die schreckliche Angewohnheit, jedes Ei erst aufzuschlagen, daran zu riechen, ob es gut war, und erst dann in die Schüssel zu geben. Auslöser dafür war meine Mathelehrerin in der Unterstufe gewesen. Bei einer Stochastikaufgabe war die Rede von einem Koch, welcher fünf Eier oder so brauchte. Leider waren in dem Eierkarton auch drei schlechte Eier. Wir mussten damals ausrechnen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit war, dass im Kuchen eins, zwei oder drei schlechte Eier drin waren. Oder keins. Am Ende wurden wir gefragt, ob wir den Kuchen essen würden. Da die Wahrscheinlichkeit recht klein war, dass da drei schlechte Eier drin waren, haben wir uns so gut wie alle dafür entschieden, den Kuchen zu essen. Daraufhin war unsere Lehrerin kurz still, dann erklärte sie, dass sie den Kuchen nicht verspeisen würde, da die Wahrscheinlichkeit, dass kein Ei schlecht war, doch ziemlich gering war. Wir hatten einfach nicht daran gedacht, dass ja auch nur ein schlechtes Ei im Kuchen ungesund wäre.
Seitdem der Tick mit der Tasse.
Lächerlich, das war mir bewusst. Aber ich konnte es nicht ändern. Und vor einigen Monaten hatte meine Mutter ein schlechtes Ei in das Essen getan. Und weil sie das nicht mit der Tasse machte, konnten wir das gesamte Gericht in die Tonne kloppen. Ein Ereignis, welches mich in meinem Handeln bestärkte.
Mir fiel auf, wie ewig es her war, dass ich mit meiner Mutter etwas gekocht hatte. Sie hatte oft Nacht- oder Spätschichten und so sahen wir uns kaum. Meinen Vater hatte ich nie kennengelernt; er war kurz vor meiner Geburt einfach abgehauen und hatte meine Mutter alleine sitzen lassen. Vielleicht kamen daher auch ein wenig Aquilas Charakterzügen.
Denn ich lebte meine Gedanken und Gefühle in meinen Geschichten aus - nicht, dass ich schon viele geschrieben hatte. Álvaros Welt war die erste gewesen. Aber wie bereits erwähnt, kennt man das Buch, kennt man den Autor. Jedes Werk war ein Stück des Verfassers selbst.
Wohin das allerdings führen konnte, hatte ich nun inzwischen ja am lebendigen Leibe zu spüren bekommen.
Während ich also die Eier in die Tasse schlug, jeweils daran schnüffelte und sie dann in die große Schüssel gab, kümmerte sich Shira um die Butter und die Schokolade. Inzwischen war auch sie sehr schweigsam geworden, vermutlich, um mir nicht zu nahe zu treten und meine Ruhe zu lassen. Allerdings wusste ich nicht ganz so recht, ob die Stille wirklich das Beste in meinem Zustand war. Denn während ich die Schale des dritten Eis zerbrach, begannen meine Tränen wieder zu fließen. Es tat so weh. Schon die Tatsache, dass Álvaro Lorenzo präferieren würde, war schon wie ein Schlag ins Gesicht. Dass sie sich heute aber küssen mussten, war wirklich die Krönung gewesen.
»Ach, Lucinda.« Shira stellte die Zuckerdose zur Seite und nahm mich in den Arm. »Er ist ein Arschloch.«
»Ist er nicht«, schluchzte ich. Selbst jetzt, als mein Herz in tausend Splittern am Boden lag, verteidigte ich ihn.
Sie seufzte. »Tut mir leid, aber in einer Beziehung mit einem Mädchen sein und dann einen fremden Kerl abknutschen, ist unter aller Sau.«
Wahre Worte.
»Der Typ ist kein Fremder«, schniefte ich trotzdem. Zumindest teilweise konnte ich ihr ja sagen, was hier vor sich ging. Das hatte das Mädchen allemal verdient.
»Wie meinst du das?« Ihre Umarmung lockerte sich etwas.
Ich wischte mir unbeholfen über die Augen, doch die Tränen flossen ungehindert nach. War Salzwasser nicht gut für die Haut? Dann hätte das Ganze hier zumindest einen positiven Beigeschmack. »Er ist sein Ex«, flüsterte ich.
Shira löste sich schlagartig von mir und starrte mich mit großen Augen an. »Ernsthaft?«
Ich brachte nur ein klägliches Nicken zustande. Zu sehr schmerzte es.
»Oh mein Gott. Aber ... Warum? Sie müssen dann doch Schluss gemacht haben. Wieso also haben sie sich so geküsst?«, wollte sie irritiert wissen.
Weil ich Lorenzo habe sterben lassen und Álvaro damit das Herz aus der Brust gerissen habe. Eigentlich geschah mir das gerade recht. »Álvaro dachte, dass Lorenzo tot sei«, jammerte ich und hoffte inständig, dass mir meine Lüge nicht ansah. »Er dachte bis heute, ihn nie wieder zu sehen.«
»Oh Gott, oh Gott, oh Gott.« Shira strich sich durch ihre dunklen Strähnen. »Also ist er echt bi. Aber ... Ich dachte, er liebt dich. Das ändert sich doch nicht, wenn eine alte Flamme wieder auftaucht?«
»Vielleicht war ich nur die Ablenkung. Der Trostkeks.« Ich schluchzte auf. Kekse. Jetzt hatte ich verdammt nochmal Bock auf Kekse. Selbst wenn ich kaum Appetit hatte - wie immer, sobald ich weinte.
»Aber er liebt dich«, beharrte Shira stur. »Ich habe doch gesehen, wie er dich ansieht.«
»Tut er nicht.«
Am Ende des Tages war es doch sowieso nur mein Blut, welches für seine Gefühle verantwortlich war. Wieso musste ich auch einbauen, dass bei Sichtkontakt zum Opfer beim Trinken eine emotionale Bindung entstehen kann? Würde ich für jedes Mal, wo ich bereute, das Buch geschrieben und ein bestimmtes Detail eingebaut zu haben, einen Penny bekommen, wäre ich jetzt vermutlich schon stinkreich. Und könnte mir die Mengen Nutella leisten, die von Nöten wären, um mich in dieser Misere aufzuheitern. Außerdem musste ich dann mit dem Geld das Fitness Studio finanzieren, damit ich wieder abnahm, weil ich von dem ganzen Zucker fett geworden bin, um nicht in einen Teufelkreis zu gelangen, da ich deprimiert sein würde, wenn ich dick werden würde.
»Doch«, beharrte Shira stur.
Aber auch ich gab nicht nach. »Nein.«
Seufzend griff sie in ihre Hosentasche und zog ihr Handy hervor. Als sie es entsperrte, sah ich, dass sie das Bild von Ash und ihr, welches Jean damals nach ihren ersten Date am Strand gemacht hatte. Der Fotograf hatte damals nur von jeder Personenkombination ein Bild in die Gruppe geschickt, damit wir einen Überblick hatten; jeder einzeln bekam anschließend noch die schönsten Bilder aufgrund der höheren Qualität per E-Mail, wo er drauf war. Somit kannte ich nur ein Bild von Ash und Shira. Und schon dieses eine, welches irgendwo auf meinem Handy herumschwirrte, war atemberaubend gewesen. Zwar vermutete ich, dass Jean noch ein bisschen mit den Farben und Kontrasten gespielt hatte, aber selbst die Bildkomposition war unglaublich.
Shira hatte aber ein anderes Bild als Hintergrund genommen, als ich kannte. Zwar unterschied es sich nur wenig von jenem, welches ich mir vertraut war, doch es war auf seine Art sogar noch schöner. Während das Mädchen in die Kamera sah, den Kopf an Ashs Brust gelegt, blickte er sie leidenschaftlich an, ich konnte die Spannung und Emotionen zwischen den beiden deutlich spüren. Denn sie waren ein Kontrast. Während Ash in Grautöne gehalten war - natürlich nur bezogen auf seine Kleidung, die Augen und Haare - harmonieren die pinken Pfingstrosen auf ihrem kurzen, weißen Kleid farblich ausgezeichnet mit so manch einer himbeerfarbenen Wolle im Hintergrund. Ebenso das Gletscherblau ihres einen Auges schimmerte in den Wellen des Meeres und über ihnen zwischen Tag und Nacht. Hier und da blitzte in dem bunt gefärbten Himmel sogar ein goldener Fetzen auf, welcher sich in ihrem anderen, karamellbraunen Auge wiederfand.
Man konnte sagen, was man wollte, aber Jean hatte definitiv Talent. Denn sogar die Sonne, deren Licht die beiden umschmeichlte, war perfekt.
Doch es lag nicht in Shiras Intension, mir ihr Hintergrundbild vorzuführen. Nach kurzem hin- und hertippen auf dem Display war sie in ihrer Gallerie und hatte den Ordner mit den Bildern aus der Gruppe herausgesucht. Lange musste das Mädchen auch nicht scrollen, bis sie fündig wurde.
Das Bild von Álvaro und mir. Von dem gleichen Abend, wo auch die Bilder von ihr und Ash entstanden waren.
Vom Aufbau her unterschied sich das Bild kaum von dem Pärchenbild meiner Freundin mit meinem Ex. Auch ich blickte in die Kamera, während Álvaros Augen auf mir ruhten. Obwohl, nein, sie ruhten nicht nur auf mir. Sie durchbohrten mich, verschlangen mich förmlich. Es wirkte, als wäre ich das einzige, was er wahrnahm, der Vampir war völlig auf mich fixiert.
Ich schluckte. Da ich ein anderes Bild als Sperr- und Startbildschirm genommen hatte, das, wo ich ihn auch ansah, hatte ich dieses Bild, welches Shira mir gerade zeigte, komplett aus den Augen verloren. Da ich mein Bild auch auf den ersten Blick hübscher fand, hatte ich die anderen Fotos gar nicht mehr richtig angesehen.
Doch als Shira mir dieses Bild von Álvaro und mir zeigte, musste ich an etwas denken, das Logan mir einmal erzählt hatte. Kannst du dich an unserem Abend am Strand erinnern? Du bist auf meinem Schoß eingeschlafen. Du hättest den Blick sehen müssen, mit dem Álvaro dich angesehen hat. So richtig verstanden hatte seine Worte damals nicht. Das änderte sich allerdings, als ich den Blick sah, mit welchem er mich auf dem Bild musterte. Und auch, wenn er zum Zeitpunkt des Fotos schon von mir getrunken hatte; nie hatte ich so einen Blick bei ihm gemerkt, woraus ich schloss, dass Álvaro mich heimlich so ansah.
»Schau, wie er dich ansieht«, sagte Shira leise.
Und ich wusste nicht, was ich antworten sollte.
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