Kapitel 4
Logan
Bis jetzt hatte ich einfach angenommen, dass die männliche Gattung einfach nicht schön schreiben konnte. Doch Álvaro bewies eindeutig mehr als nur das Gegenteil. Ich meine, Lucinda hatte schon eine hübsche Schrift, aber er toppte alles. Geschwungen und sauber liefen die Zahlen und Zeichen über das kleinkarrierte Papier und ließen mich an alte Bücher denken. Von früher, wo jeder Buchstabe mit Hand geschrieben war und so filigran wirkte, als wäre er mit einer Feder notiert worden. Ich konnte den Duft von alten, vergilbten Seiten förmlich riechen.
Nun ja, ich hingegen hatte keine besonders schöne Schrift; Sauklaue wäre zu hart, aber zwischen Álvaros und meiner lagen Welten. Irgendwo war ich neidisch und mein Temperament weigerte sich dagegen, es von ihm abzuschreiben. Denn irgendwie wirkte es zu perfekt, dass er das alles konnte und verstanden hatte.
Aber ich war nicht gut in Mathe. Außer den Genies raffte keiner, was Ms Edwards laberte. Selbst Lucinda kam nur schwer mit, und sie war wirklich nicht dumm. Ich war eher so ein mittelmäßig guter Schüler, bewegte mich etwa auf dem Niveau von Ash. Gael war etwas schlauer, aber verstanden auch wenig von dem, was unsere Mathelehrerin uns erklärte.
Obwohl, halt, nein, Ms Edwards erklärte nicht. Das konnte die einfach nicht. Stattdessen schmiss sie uns die Formeln an den Kopf und wir mussten sehen, wie wir das schafften.
Ich verstand, wie gesagt, kaum etwas, daher war ich jetzt auch dazu gezwungen, die Hausaufgaben abzuschreiben. Wobei ich die Richtigkeit nicht anzweifelte.
Lucinda war heute besonders ruhig. Ich wusste nicht warum. Normalerweise war sie zwar auch nicht so eine Person, die redete wie ein Wasserfall, aber die Kleine beteiligte sich gern an unseren Gesprächen und brachte nicht selten ein Thema ein, über das man tatsächlich eine ganze Weile diskutieren konnte. Doch heute starrte das Mädchen seit der Mittagspause so komisch vor sich hin und es hatte den Anschein, dass sie mit den Gedanken ganz wo anders war.
Nur konnte ich nicht sagen, wo.
Wir kannten uns eigentlich schon unser ganzes Leben. Unsere Mütter waren schon seit der ersten Klasse befreundet gewesen; dass ihre Kinder ungefähr im gleichen Zeitraum geboren wurden, schweißte die beiden wenn möglich nur noch mehr zusammen. Lucinda und ich sahen uns fast jeden Tag und waren beste Freunde. Oder eigentlich schon fast Geschwister. Ich war für Lucinda wie der große Bruder, den sie nie hatte; ich passte auf sie auf, schlug sämtliche Typen, die ihr das Herz brachen oder sie verletzten und sie konnte immer über alles mit mir reden. Umgedreht galt das gleiche. Nur, dass sie ihrerseits meine Ex' nicht schlug. Wie jedes Mädchen hatte meine beste Freundin diese gruseligen Psychospiele drauf, beispielsweise solch tötliche Blicke oder winzige Details aus der Vergangenheit, die zerstörten.
Ash und Gael waren vor einigen Jahren in unseren Freundeskreis gekommen. Wir waren eine coole Gruppe und Lucinda hatte erstaunlicherweise kein Problem damit, dass sie das einzige Mädchen war. Sie erklärte immer, dass Mädchen zu anstrengend waren. Viel zu viele Zickenkriege und Hinter-dem-Rücken-Gerede. Jungs waren ihrer Meinung nach einfacher gestrickt. Sie sagten, was sie wollten, auch wenn sie etwas störte.
Als Ash angefangen hatte, sich für Lucinda zu interessieren, war das Verhältnis zwischen ihm und mir anfangs etwas gekippt. Er war eher so ein kalter, ruhiger Typ, sehr in sich gekehrt. Ich hatte Angst gehabt, dass er sie damit verletzte. Aber als sie sich dann dateten und einige Wochen später zusammen waren, besserte es sich, trotzdem war es anders gewesen.
Irgendetwas hatte mich daran gestört, besonders wenn Lucinda mir von ihm erzählt hatte.
Allerdings hatte es dann bei den beiden auch nicht lange gehalten. Ich war froh, dass sie im Guten auseinander gegangen waren, ehrlich gesagt hätte ich nicht gewusst, auf wessen Seite ich sonst gewesen wäre.
»Seid ihr mit der Seite durch?« Ashs silbernen Augen fixierten Lucinda. Verdammt, ich konnte immer noch nicht verstehen, wie der Kerl so schnell schreiben konnte.
Ich bemühte mich, die letzten paar Zeilen zu übernehmen. »Jetzt mach mal halblang.«
Aus dem Augenwinkel sah ich, dass Lucinda ertappt den Kopf senkte und hastig weiterschrieb. Wovon sie abgelenkt war, konnte ich leider nicht sagen.
Als sowohl Gael und ich als auch Lucinda fertig waren, blätterten wir um und setzten das Kopieren fort. War ja klar, dass die Hausaufgaben von Ms Edwards nicht auf eine Seite passten, selbst wenn man so fein und winzig schrieb wie Álvaro.
Diesmal versuchte ich, meine beste Freundin unauffällig zu beobachten - ich wollte einfach wissen, ob es etwas mit ihrem heutigen Verhalten zu tun hatte. Während ich also die vorletzte Aufgabe abschrieb, schielte ich unauffällig hoch.
Und tatsächlich. Lucinda war nervös. Immer wieder blickte sie zu Jean und Álvaro, ihre Handschrift war zittriger als sonst.
Ich legte den Kopf schief. »Alles okay bei dir?«, fragte ich meine beste Freundin leise.
Ruckartig blickte sie zu mir. »Ja, wieso?«, antwortete sie, viel zu schnell.
Gleichgültig zuckte ich mit den Schultern. »Nur so, du bist heute so ruhig.«
»Ich bin etwas müde, hab nicht viel geschlafen.« Lucinda fuhr mit dem Übernehmen der Hausaufgabe fort. Doch sie schaute nicht noch einmal zu Álvaro und Jean.
Ich tat es ihr gleich.
Als wir vier endlich fertig waren, wollte ich Álvaros Block zuklappen und ihn ihm zurückgeben. Allerdings schlug ich dabei versehentlich eine andere Seite auf.
»Holy fuck, hast du das gezeichnet?«, entfuhr es Gael.
Das Blatt war für quer genommen. Hauchdünn zogen sich Bleistiftlinien über das karrierte Papier und formten die Konturen. Man sah unten, wie der Stand ins Meer überging, von links und rechts säumten dunkle, spitze Berge und Felsen wie ein Rahmen das Bild. Leuchtend orange berührte die Sonne den Horizont und tauchte den Himmel in warme Farben, zarte Wolkenfetzen flimmerten violett im Abendlicht. Der Himmel spiegelte sich im ruhigen Wasser. Perfekt im linken, untere Goldenen Schnitt stand eine Person. Sie wirkte klein neben dem dominanten Gestein, auch wenn ich ihr eine gewisse Größe zutraute. Beim genaueren Hinsehen konnte ich erkennen, dass es sich um einen jungen Mann handelte, der bis zur Hüfte um Wasser stand. Durch die untergehende Sonne konnte man nur seine Silhouette und das Schattenspiel der Muskel seines schlanken Rückens ausmachen. Seine Haare wellten sich etwa bis zu seiner Schulter. Da der Typ leicht nach rechts unten blickte, konnte man einen Teil seines Gesichtes sehen, unter Anderem sein linkes Auge.
Es war leuchtend gelborange.
Lucindas Augen wurden groß und das Blut wich aus ihrem schönen Gesicht. Álvaro drehte den Kopf langsam zu mir. Als er sah, welche Seite ich aufgeschlagen hatte, wurden seine dunklen Augen schmal und sein Blick unglaublich wachsam und stechend kalt. »Ja.«
Ruhig nahm er mir das fast fertig colouriert Bild aus der Hand und schlug den Block langsam zu.
Gael, taktlos wie er war, schien nichts von der angespannten Atmosphäre zu merken. »Das sieht mega nice aus. Wer ist das?«
»Ein Freund.« Álvaros Stimme war fest und gleichgültig, aber die Kälte konnte jetzt sogar Gael spüren.
»Ach so, okay.«
Es herrscht kurz Stille. Lucinda starrte auf ihre Hände, während Ash Álvaro so durchdringend musterte, dass ich schon den Blick abgewendet hätte. Doch er hielt ihm stand.
Dann passierte etwas, dass ich noch nie gesehen hatte: Ash sah weg.
Ich hatte noch nie erlebt, dass er in solchen Situationen den Blickkontakt abbrach. Immer waren es die Anderen.
Jean schien die Totenstille anscheinend unangenehm zu werden. »Wo kommst du eigentlich her?«
Wir anderen packten unsere abgeschriebenen Hausaufgaben weg.
Álvaros Blick blieb noch einige Sekunden so klirrend kalt, dann erwärmte sich seine Miene wieder. »Aus Spanien.«
»Echt? Cool, und was führt dich hier her?«
Er zuckte mit den Schultern. »Ich wollte mal raus. Und bevor ihr fragt, wieso ich so gut Englisch kann, mein Vater hat mich der Sprache gelehrt, seit ich zwei war.«
»Das erklärt, warum du keinen Akzent hast«, mischte sich Gael ein.
»Hast du Geschwister?« Lucinda blickte ihn an.
»Und wenn ja, wie heißen sie«, ergänzte Jean mit leuchtenden Augen. »Erzähl mal ein bisschen von dir.«
»Also gut.« Álvaro seufzte. »Ich habe drei Schwestern und einen Bruder. Die Zwillinge, Aleli und Decembre, sind die Jüngsten, in ein paar Monaten werden sie Zehn. Meine andere Schwester heißt Solea, sie ist Sechzehn. Alejandro ist zwei Jahre älter als sie und ein Jahr jünger als ich.«
»Klingt nach einer großen Familie«, meinte ich. »Ich habe auch einen kleinen Bruder, Aden, er ist fünf.«
Ein Lächeln stahl sich auf Álvaros Lippen. »In dem Alter sind sie am süßesten. Aleli und Decembre sind jeden Tag durchs Anwesen gerannt und haben Verstecken gespielt oder die Angestellten erschreckt. Die Anderen konnten die beiden kaum auseinanderhalten.«
»Anwesen?« Ash hatte sich von seinem Schreck erholt, als Erster weggesehen zu haben.
»Ja, Anwesen, Schloss, großes Haus, ist doch alles das Gleiche.«
»Bist du adlig oder so?« Jean strahlte.
Gleichgültig fuhr er Luca durch weiche Fell. »Ja«, sagte Álvaro schlicht.
»Ich auch, entfernt«, freute Jean sich. »Wie heißt du mit Nachnamen?«
»De Pregonas.«
Lucinda zuckte zusammen. Was zum Teufel war mit ihr los?
Gael lachte. »Dann nimm dich mal in Acht vor Claire Shirley McEvans. Die steht auf Typen mit Adelstitel. Sie hat sich doch schon an dich rangemacht, oder Jean?«
Dieser schnaubte. »Oh ja, pass bloß auf dich auf, diese Bitch schreckt vor Nichts zurück, ich meine, die wollte sogar mit mir zusammen sein. Dabei weiß jeder, dass ich schwul bin. Armselig, dieses Ding.«
Álvaro hob erstaunt eine Augenbraue. »Du bist schwul?«
»Korrekt.«
»Und das sagst du jetzt, weil ...?«
Jean zuckte mit den Schultern. »Jeder weiß es, und ich hab kein Problem damit. Außerdem bist du süß.«
Lucinda, die gerade etwas Wasser trank, verschluckte sich. Wir mussten alle lachen.
Außer Álvaro, er schien sich aus irgendeinem Grund plötzlich unwohl zu fühlen.
Ash wechselte das Thema und begann über Schule zu reden. Die Sonne ging nach und nach unter, erst tauchte sie den Himmel in knallbunte Farben, die mich an die Zeichnung von Álvaro denken ließ, dann verschwand sie und es wurde dunkel. Anscheinend war Lucinda wirklich müde, nach einiger Zeit kuschelte sie sich an mich und legte ihren Kopf auf meinen Schoß. Sanft fuhr ich ihr mit den Fingern durch ihre silbernen Haare. Wenn wir in einer Gruppe zusammensaßen und sie müde wurde, machte meine beste Freundin das oft. Schon früher hatten wir uns das angewöhnt. Es war normal. Erstaunlicherweise hatte es Ash nicht einmal gestört, wenn sie das bei mir gemacht hatte, als die beiden zusammen gewesen waren. Weil er wusste, dass Lucinda das nur machte, weil wir beste Freunde waren.
Jean hingegen flirtete schamlos mit Álvaro. Diesem war es anfangs immer noch ziemlich unangenehm, doch nach und nach entspannte er sich.
Lucinda kuschelte sich enger an mich. Sie war eingeschlafen. Zart strich ich ihr eine ihrer silbernen Strähnen aus dem Gesicht.
Als Jean plötzlich verstummte, sah ich auf.
Álvaro starrte uns an.
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