Kapitel 21

Álvaro

»Schön«, antwortet Shira und strahlte heller als die Sonne noch vor ein paar Minuten.

»Was habt ihr gemacht?«, erkundigte sich Lucinda.

»Erst waren wir Eis essen und dann noch ein bisschen spazieren«, erzählte Shira.

»Oh, Ash, ich wusste gar nicht, dass du so romantisch sein kannst", setzte Gael grinsend an, doch dann traf sein Blick den von Lucinda. »Öhm, also ...«

Doch sie lachte nur. »Alles gut.«

»Wollt ihr trotzdem noch etwas Kartoffelsalat?«, fragte Logan.

»Ich bin mir nicht sicher, ob sich Eis und Kartoffelsalat so gut im Bauch vertragen«, gab ich leise zu bedenken.

»Vermutlich nicht«, stimmte Ash mir zu.

Shira zog einen Flutsch. »Schade, er sieht so lecker aus. Kann ich nicht vielleicht doch probieren?«

»Auf keinen Fall«, bestimmte Ash.

»Hey, wieso?« Sie schaute traurig drein.

Sein Blick hingegen wurde weich. »Weil ich nicht möchte, dass dir schlecht wird und du brechen musst.«

Shira strahlte. »Naw, das ist süß.« Damit beugte sie sich zu ihm hinüber und drückte ihm einen kleinen Kuss auf die Wange.

Ash wurde rot.

Ich wendete den Blick ab. Etwas in mir verkrampfte sich. Liebe. Unwillkürlich musste ich wieder an Lorenzo denken. An seine warme, feste Brust, seine Geborgenheit. Seinen zarten Geruch nach Honig. Seine weichen Hände.

Jäh verspürte ich wieder dieses brennende Verlangen, mich an ihn zu schmiegen. Seinen Hals zu küssen und seine Lippen zu schmecken. Und sein Blut.

Verdammt, ich vermisste ihn so sehr. Das drückende Gefühl schlich sich wieder in meine Brust. Trauer. Wut. Angst. Das Gefühl von Verlust. Hilflosigkeit.

Eifersucht.

Ich fuhr mir durch die Haare. Es war nicht so, dass ich es Shira und Ash nicht gönnte. Nein, ganz und gar nicht. Die beiden war unglaublich süß zusammen.

Das Problem war nur, dass es in mir ähnliche Erinnerungen hervorrief, die ich leider alle mit Lorenzo erlebt hatte.

Und so begann der Teufelskreis sich zu drehen.

Ich hob den Kopf und mein Blick strich Lucinda. Etwas in mir rührte sich. Es wurde warm. Golden. Glänzend. Mischte sich in mein Blut wie glitzernde Tinte und strömte durch meine Adern.

Dann meldete sich mein Hunger zu Wort. Nicht der nach Braten oder Eintopf. Sondern der nach Blut. Freitag Abend hatte ich zuletzt etwas getrunken. Jetzt war Mittwoch. Theoretisch benötigte ich jedoch täglich die rote Lebensessenz. Zwar hatte ich schon mitbekommen, dass meine Blutlust nicht ganz so extrem war, wie noch vor anderhalb Wochen. Zu Hause. Jetzt war ich mir fast sicher, das es reichen würde, wenn ich alle zwei, drei Tage etwas trank. Nicht viel, ein paar Schlucke würden reichen.

Am Samstag war es zu viel gewesen. Nie hätte ich so gierig sein sollen. Aber dafür hielt die Wirkung auch länger an, sonst wäre mir jetzt schon wieder zum sterben zumute.

Aber es trieb mir jedes mal aufs Neue die Schamesröte ins Gesicht, wenn ich nur daran dachte, Lucinda darum zu bitten. Dunkel konnte ich mich noch daran erinnern, wie sie gezittert hatte. Ihr kleines Herz hatte viel zu schnell geschlagen. Vage sah ich ihr angstverzerrtes Gesicht vor mir, als ich von ihrem Handgelenk abgelassen hatte, weil sie erschrocken war und mich so blockiert hatte.

Und trotz dieser Panik hatte das Mädchen mich an ihre Vene gelassen. Um mir das Leben zu retten. Obwohl es sie so viel gekostet hatte.

Das Bild von ihrem tränenverschmierten Gesicht würde ich nie wieder aus meinem Kopf bekommen.

Hartnäckig zwang ich mich zur Ruhe und erstickte die goldene Wärme in mir. Bilder schwirrten durch meinen Kopf und formten langsam aber sicher eine Erinnerung.

Mein Inneres ballte sich zu einem eiskalten Klumpen und verdrehte sich schmerzhaft. Starr lief ich neben meinem Bruder her. Meine Mutter redete auf mich ein, doch ich verstand kein Wort. Ich hörte sie einfach nicht. Stumm setzte ich einen Fuß vor den anderen. Tränen strömten lautlos über meine Wangen - sie waren das einzige Anzeichen dafür, dass ich weinte.

Wir gingen ins Schloss. Aquila schickte meine Mutter und Alejandro weg, als wir vor meinem Zimmer zum stehen kamen. Mein Bruder war genauso ruhig wie ich, was untypisch für ihn war. Unter normalen Umständen hätte er sich über mein Leid gefreut.

Heute war es anders. Wortlos folgte er meiner Mutter, die mich immer noch sehr besorgt ansah, den Gang hinunter.

Aquila und ich schwiegen uns eine Weile an. Dann schlug er mich. Nichts anderes hatte ich erwartet. Hart traf seine Hand mich am Wangenknochen. Ich stolperte nach hinten und stieß mit dem Rücken an die Wand.

»Ein wahrer Erbe weinet nicht«, fauchte er mich an. »Er zeigt Stärke. Du bist ein Nichts.« Wieder holte er aus.

Meine Nase knackte. Etwas Warmes rann über meinen Mund. Es tat weh. Aber das war gut. Es dämpfte die Kälte in mir. Ich schloss die Augen, noch immer lief das salzige Nass über meine Wangen. Meine Hände prickelten immer noch von den Platzwunden.

»Dann schlag zu«, provozierte ich meinen Vater. »Du wirst es nicht ändern können. Ich bin der Erbe. Ich werde dein Nachfolger. Um das zu verhindern, musst du mich schon umbringen.«

Wieder schlug er zu. Zweimal ins Gesicht und einmal in den Bauch zwischen die Rippen. Der letzte Schlag ging in meinen Unterleib. Unter normalen Umständen hätte das alles höllisch wehgetan. Doch jetzt tat es gut. Ich wollte es. Es lenkte von meinem inneren Schmerz ab.

Ich hoffte, Aquila würde weitermachen. Ich wünschte es mir.

Er tat mir den Gefallen nicht. »Du bist eine Schande.« Damit wandte er sich ab, lief den Gang hinter und verschwand um die Ecke.

Langsam drehte ich mich um. Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich meine Hand an die Türklinke legen konnte. Lautlos verschwand ich in meinem Zimmer. Noch immer war ich nicht dazu fähig, normal zu denken. Starr ging ich zum Fenster und blickte raus. Gewitterwolken zogen auf. In der Ferne zuckten violette Blitze über den grauen Himmel. Mein Blick fiel auf das Fensterbrett. Ein Hemd lag dort. Fast gleichzeitig konnte ich den süßen Duft riechen, die der Stoff ausströmte.

Es war sein Hemd.

Frustriert griff ich nach dem Oberteile und pfeffterte es in die Ecke. Schluchzend glitt ich neben dem Fenster mit dem Rücken an der Wand entlang zu Boden. Die Beine hatte ich angewinkelt, die Arme darauf abgelegt.

In mir wuchs Panik und Hilflosigkeit schneller denn je und nur Sekunden später bekam ich vor Trauer keine Luft mehr. Gequält rang ich nach Atem. Doch es ging nicht.

Verzweifelt grub ich meine Fänge in meine Unterarmen. Immer und immer wieder. Mit den Fingernägeln kratze ich brutal über die Bisswunden und riss an der Haut. Es tat weh. Doch es war nichts im Vergleich zu dem Pein in mir. Und ich konnte wieder atmen.

Erschreckend viel Blut quoll aus den Verletzungen hervor. Fasziniert verfolgte ich es mit den Augen, wie es auf den dunklen Stein tropfte und zwischen den Rissen versickerte.

Ich weinte. Schrie. Schlug auf den Steinboden. Biss mich. Riss mir meine Haut förmlich auf.

So lange, bis ich erschöpft an der Wand entlang zur Seite rutschte und endgültig völlig hinüber auf dem Boden lag. Komplett blutüberströmt.

Es war Decembre, die mich letztendlich so fand. Das erste und letzte Mal, dass mich jemand so sah.

»Álvaro?«, riss Jean mich aus den Gedanken.

Wie lange war ich weg gewesen? Verdammt, ich sollte bei den Gesprächen aufpassen, alle starrten mich an. »Ja?«

»Wir wollten so langsam nach Hause gehen«, erklärte Gael. »Morgen ist Schule. Und ich bin müde.«

Verständnisvoll nickte ich. »Ihr habt recht.«

Wann hatten sie das ganze Zeug zusammengepackt? Nur noch die Picknickdecke war da.

»Ist dir kalt?«, wandte sich Ash an Shira.

Schüchtern nickte die Kleine, eine feine Gänsehaut zog sich über ihre Arme. »Ein bisschen.«

Er lächelte. »Hier, nimm meinen Pulli, und dann bringe ich dich nach Hause.«

Dankend nahm das Mädchen den dunklen Stoff und streifte ihn sich über. Ash half ihr hoch und sie verabschiedeten sich von uns. Zusammen und Hand in Hand verschwanden die beiden.

Auch Gael erhob sich. »Jean, kommst du?«

Dieser blickte mich unsicher an. »Ich weiß nicht.«

»Ich würde gern noch mit Lucinda sprechen, du brauchst nicht auf mich zu warten.« Ich sah ihn durchdringend an.

»Okay.« Jean zuckte nur mit den Schultern und packte seine Kamera zusammen. »Könnt ihr aufstehen? Wegen der Decke.«

Wir erfüllten ihm diesen Wunsch und halfen ihm, das Ding zusammenzulegen. Gael und Jean verabschiedeten sich ebenfalls und machten Anstalten zu gehen, Logan hingegen blieb, wo er war, den Rucksack mit dem restlichen Kartoffelsalat auf der einen Schulter.

»Worauf wartest du?«, wollte ich wissen.

Er musterte mich. »Auf Lucinda.«

»Brauchst du nicht, ich bringe sie sicher nach Hause, mach dir keine Sorgen. Geh ruhig.«

Doch er zögerte und Falten legten sich über seine makellose Stirn.

»Ist schon okay«, meinte Lucinda sanft und umarmte ihn. »Wir sehen uns morgen.«

»Bis morgen.« Nur sehr widerstrebend folgte er den anderen Jungs. Luca sprang ihm um die Beine.

Dann waren wir beide allein. Ich setzte mich wieder in den noch warmen Sand und klopfte links neben mich. »Komm her.«

Zögerlich ließ das Mädchen sich neben mir nieder. »Was ist los? Ist alles okay bei dir?«

Ich schaffte es nicht, sie anzusehen. »Ja. Nein.« Frustriert fuhr ich mir durch meine dunklen Strähnen. „»Ich weiß, ich dürfte dich nicht darum bitten. Dazu habe ich kein Recht, aber ...« Händeringend suchte ich nach den passenden Worten. Ich war froh, dass es dunkel war und nur die Sterne über uns funkelten. So konnte Lucinda nicht die Röte meiner Wangen sehen.

Sie seufzte. »Aber du hast Hunger.«

Ich schluckte hart. »Es tut mir leid. Ich weiß, dass du es nicht magst und ich werde dich weiß Gott nicht dazu zwingen, ich ...«

»Ich mache es«, unterbrach die Kleine mich. »Die Alternative ist dein Tod. Und das will ich auf keinen Fall.«

Unsicher holte ich Luft. »Du musst nicht.«

»Ich weiß, aber ich will, dass du lebst.« Zitternd hielt Lucinda mir ihre rechte Hand hin. »Es ist gut, dass du mir sagst, wenn du es brauchst.»

Ich malte mit gesenktem Kopf kleine Muster in den Sand. Die Körnchen kitzelten unter meiner Fingerkuppe. Dann hob ich den Blick und heftete ihn auf ihren. Eine Weile starrten wir uns nur an. Ihre grünen Augen glitzerende wie Glas.

Dann seufzte ich. »Wenn es für dich okay wäre, würde ich lieber am Hals trinken, so kann ich dich besser festhalten, falls dir irgendwie schlecht wird. Ich möchte nicht, dass du umkippst und dir dabei wehtust.«

Das Mädchen atmete tief durch. »Okay, wie du meinst. Wo soll ich hin?«

Ich streckte meine Beine aus und spreizte sie. »Komm her.« Auffordernd klopfte ich mit den Händen auf den Sand zwischen meinen Beinen.

Unsicher krabbelte sie zu mir und setzte sich zwischen meine Schenkel. Ihre schlanken Beine schlangen sich schüchtern um meine Hüfte. »So?«

Ich nickte und strich ihr die silbernen Haare links nach hinten. »Das ist perfekt«, murmelte ich.

Mein Herz schlug aufgrund ihrer Nähe mit einem Mal viel zu schnell. Und ihr zarter Duft nach Blumen und dem Fruchtigen ließ jäh den dringenden Wunsch in mir aufkeimen, sie an mich zu reißen und ihre weichen Lippen zu kosten.

Doch ich widerstand. Stattdessen zog ich ihre beiden Hände auf meine Brust. »Versprich mir, dass du mich blockierst, wenn ich zu viel nehme. Ich brauche nicht mehr als ein paar Schlucke.« Noch immer schämte ich mich dafür, das zu tun. Auf der anderen Seite erregte es mich ungemein.

Lucinda nickte. Einen Moment sah sie mich noch an, dann schloss sie zitternd ihre Augen und legte ihre Stirn an meine linke Schulter. »Tue mir nur nicht weh«, flüsterte die Kleine. Ihre Stimme brach fast, ich konnte spüren, wie sie zitterte und ihr kleines Herz viel zu schnell pochte.

Ich sollte das hier nicht tun.

Aber ich hatte Hunger. Und das Mädchen roch so gut.

Ich strich ein paar letzte Haare von ihrem seitlichen Hals, dann legte ich meine Arme um sie. Mit der linken stabilisierte ich zart ihren Kopf, die andere nutze ich, um das Mädchen vorsichtig enger an mich zu ziehen.

Es war paradox. Ich kannte Lucinda kaum zwei Wochen und schon verdrehte sie mir den Kopf. Es schien fast wie in einem Buch.

Und ich wurde das Gefühl nicht los, dass irgendetwas nicht stimmte.

Fast gleichzeitig mischte sich auch noch der Gedanke an Lorenzo in meinen Kopf. Das schlechte Gewissen fuhr mir brennend durch die Adern, jedoch unterdrückte ich es erbarmungslos.

Meine Zunge glitt gierig über meine Lippen. Ich senkte den Kopf und strich hauchzart mit meinem Mund über die weiche Haut ihres Halses. Lucinda seufzte und augenblicklich bekam das Mädchen eine feine Gänsehaut. Göttlich.

»Jamás«, hauchte ich. »Niemals.«

Dann biss ich zärtlich zu.

Ein kleiner Laut entwich ihr, als ich den ersten Schluck tat. Es war irgendetwas zwischen einem Stöhnen und einem Wimmern. Ihre Hände krallten sich in mein Hemd.

Das Blut war so süß. Sie schmeckte so unglaublich gut. Ich versuchte sie näher an mich zu ziehen. Ich wollte sie. Jetzt.

Dennoch zwang ich mich, nach einigen Schlucken von ihr zu lassen. Vorsichtig zog ich meine Fänge aus ihrer dünnen Haut und leckte einige Male über die Wunden. Sie waren nicht annähernd so schlimm wie die von Freitag.

Als die Blutung gestillt war, hob ich den Kopf. »Danke«, flüsterte ich.

Lucinda drückte sich immer noch an mich. Das Zittern hatte nachgelassen, doch noch immer umklammerten ihre Finger verkrampft mein Hemd.

Beruhigend strich ich ihr mit der rechten Hand über den Rücken. »Alles ist gut.«

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top