Kapitel 20

Álvaro

Zart wie das Gewand des Windes tanzten die Töne durch den Musiksaal. Meine Fingerspitzen glitten über die Tasten des tintenschwarzen, polierten Flügels, vor dem ich saß - die Augen glasig und fern ab der Realität. Jeder Anschlag zitterte durch meinen Körper - kribbelte in meinen gestrafften Schultern; welche Saiten die Musik Klang für Klang in mir anschlugen, konnte kaum jemand erahnen. Die Noten waren so verschwommen in meinem Sichtfeld, dass ich sie kaum wahrnahm. Allerdings war dies auch nicht einmal ansatzweise von Nöten: ich konnte dieses Stück im Schlaf, wie es bei vielen der Fall war. Schon immer war mir die Melodie eines Liedes beinahe nach dem ersten Mal Hören ins Blut übergegangen. Noten brauchte ich inzwischen nur, wenn ich die Töne des Stückes noch nie vernommen hatte und die Aneinanderreihung der Tastenklänge mir gänzlich fremd war.

Dumpf drang Ainas verzweifelte Stimme in mein Bewusstsein und die Noten vor mir auf dem vergilbten Papier wurden langsam scharf. Sie war es, welche stets darauf bestand, dass ich mit diesen dummen Vorgaben spielte; und das, obwohl ich an einer Hand abzählen konnte, wie oft ich mich verspielt hatte, wenn ich das Stück einige Male geübt hatte und mir dessen sicher war.

Vor einigen Monden, letztens erst, war es mir nach einer Ewigkeit wieder passiert. Ich konnte mich nur allzu gut daran erinnern.

Und alleine schon bei dem Gedanken keimte forderndes Verlangen in meiner Leistengegend.

Es war später Nachmittag gewesen. Das dunkle Grollen des Unwetters, welches die Stadt unter sich begrub, hatte den Takt der freien Melodie vorgegeben, den ich mir von der Seele gespielt hatte. Nein, von der Seele spielen traf es nicht. Viel mehr war es ein Tanz gewesen, mit der Musik, ein gegenseitiges Drängen und ziehen. Eine Harmonie der ganz besonderen Art. Mit jedem Donnerschlag hatte es mich gnadenlos in den nächsten Takt gedrängt. Wie ein zerrendes Verlagen. Mein Herz schlug für jeden Ton.

Bis ich durch vier banale Worte unsanft aus diesem Sog gerissen und zurück auf den Boden der Tatsachen gedrückt wurden war.

Das klingt so wunderschön.

Bis dato hatte ich es noch nicht einmal für möglich gehalten, dass Einem die Hände so weit von den Tasten abrutschen konnten: der Schreck ließ meine Fingerspitzen Töne anschlagen, die normalerweise in diesem Stück nichts zu suchen hatten. Aus dem C wurde kein Cis sondern ein hässliches B. Ebenso holprig kam der Tanz der Töne zum Stehen; dem B folgten nur wenige Katastrophen. Zumal sich sämtliche Nackenhaare aufgrund der grausig schiefen Klänge in Sekundenschnelle aufgestellt und meine Finger prompt die Arbeit verweigert hatten.

Dazu war das pulsierende Prickeln gekommen, dass die Stimme in mir erblühen ließ wie die ersten Winterlinge nach unzähligen Schneenächten. Vor noch einem Jahr hätte ich es nicht einmal für möglich gehalten, dass so etwas Raues auch gleichzeitig weich wie Seide sein könnte. So verlockend. So betörend.

Nervosität war meinen Rücken empor gekrochen, mit jeder Bewegung gewachsen und binnen weniger Sekunden hatte es mich fest im Griff. Ich hatte deutlich gespürt, wie ein feiner Film kalter Schweiß meine Hände benetzt hatte, sodass ich es nur noch vermocht hatte, die Finger kraftlos auf die Tasten sinken zu lassen - das erbärmliche Geräusch der angeschlagenen Saiten hatte jede königliche Eleganz meinerseits gründlich zunichte gemacht. Dennoch schien der Person nicht im Geringsten ein Dorn im Auge gewesen zu sein, wenngleich mich Vater für so ein Auftreten nicht nur verbal gescholten hätte.

Langsam und mit leisen Schritten war Lorenzo näher gekommen. »Verzeiht, ich wollte Euch nicht unterbrechen, Prinz.«

Unfähig, mich auch nur einen Millimeter zu rühren, starrte ich auf die Tasten des Flügels. »Das habt Ihr nicht«, hatte ich widersprochen, ohne nachzudenken. Erst einige Wimpernschläge später waren mir meine Worte klar geworden, und hätte mich ohrfeigen können: natürlich hatte Lorenzo mich unterbrochen.

»Nun, tatsächlich hatte es für mich den Anschein.« Lorenzo war stehengeblieben, sein Leib kaum eine Hand breit von mir entfernt, sodass ich seine Wärme durch mein dünnes Hemd hatte spüren können.

Eisern hatte ich die unsichtbare Kreatur von meinem Rücken gezwungen, seine Klauen von meiner Kehle gerissen. Noch nie hatte mich die Fassung zu erringen so viel Kraft gekostet. Doch ich war erfolgreich. »Was wünscht Ihr zu dieser späten Stunde? Solltet Ihr nicht das Bett mit meiner werten Schwester teilen?« Kaum waren die Worte über meine Lippen gehuscht, bereute ich sie. Zumal mein Ton deutlich von neutraler Neugier abgewichen war.

Kein Verhalten, wie es sich für einen Erben gehörte.

Frustriert von dem Wirrwarr in meinem Inneren und der Unfähigkeit, mit diesem Mann eine normale und anständige Konversation zu führen, hatte ich mir auf die Zunge gebissen. Und erst, als ich mein eigenes Blut geschmeckt hatte, hatte ich den Druck meines Kiefers gemindert, um ein Abtrennen des Sinnesorgans zu verhindern. Nicht immer erwiesen sich meine Fänge als vorteilhaft.

Doch anscheinend war Lorenzo mit deutlich mehr Gelassenheit gesegnet, als ich bis jetzt vermutet hatte. »Solea nimmt gerade ein Bad. Ich hörte diese wundervolle Melodie und wollte ihr ein wenig länger in vollem Klang lauschen.«

Noch immer waren meine dunklen Augen auf die konträren Tasten gerichtet. Ich hatte nicht gewagt, auch nur aufzublicken. Zu groß war die Gefahr, in die Spirale des Gaffens zu geraten. Und da auch meine dummen Mundwerk im Moment nicht mehr über den Weg zu trauen war, hatte ich still geschwiegen. Meine Gedanken jedoch hatte sich nahezu überschlagen. Zu gern wäre ich einfach aufgesprungen und hätte den zukünftigen Mann meiner Schwester gierig an mich gezogen, nur um zu kosten, ob seine Lippen ebenso köstlich waren, wie sie verhießen. Ebenso hatte sich mir zeitgleich das Bild aufgedrängt, wie wir beide unter dem endlos weiten Sternenzelt auf den Dächern des Schlosses saßen und den Sinn des Lebens diskutierten. Die Ferne des Mondes ebenso wie die Tiefen des Meeres. Ich konnte seine glasgrünen Auge förmlich im hellen Mondlicht funkeln sehen wie geschliffene Edelsteine.

Gleichzeitig hatte ich nicht sagen können, ob es mir lieber gewesen wäre, der hübsche Mann hätte den Musiksaal verlassen. Denn die Angst in meiner Brust war mit jeder Sekunde gewachsen, in der Lorenzo hinter mir stand. Seine Wärme hatte sich wie Feuer durch das helle Hemd gefressen und gedroht, meine Haut zu versengen.

Ein sanfter Lufthauch war nur Wimpernschläge später an meinem Arm vorbeigestrichen, als der junge Mann seine schlanken Finger ausgestreckt einen dunklen Ton aus dem Flügel angeschlagen hatte. Sekunden hatte das D durch den hohen Raum gehallt, den nur ein paar Kerzen spärlich ausgeleuchtet hatten. »Bitte.«

Schluckend hatte ich meine eiskalten Hände von den Tasten genommen. »Seid Ihr sicher, MyLord?«, hatte ich nachgehakt - noch immer in der stummen Hoffnung, er würde sich dagegen enscheiden und mich mit meinem inneren Durcheinander allein lassen.

»Selbstverständlich, Prinz.« Langsam war der zukünftige Mann meiner Schwester neben mich getreten. »Darf ich mich zu Euch setzten? Ich selbst verfüge nicht über die Kunst, Klavier zu spielen, doch schon mein ganzes Leben lang bin ich von der Fähigkeit fasziniert, welch wunderschönen Töne die Finger anzuschlagen vermögen. Gern würde ich Euch dabei zusehen.«

Ungelenk war ich auf dem schmalen Höckerchen, welches mit schwarzem Samt überzogen war, beiseite gerutscht - sichtlich bemüht, in meiner Ungeschicklichkeit nicht von dem unbequemen Polster zu rutschen. Eigentlich war es eine Schande, dass der Hintern schon nach wenigen Minuten auf dem vierbeinigen Holzstück fürchterlich zu schmerzen begann. Ein Klavierhocker sollte seiner Aufgabe entsprechend angenehm und auch bei langem Üben weich sein. Nicht selten war es das Stechen in meinem Allerwertesten gewesen, welches mich unsanft zwischen den wilden Linien hervorgezerrt und gezwungen hatten, mit dem Spielen aufzuhören. Weshalb bis heute nie eine neuer Klavierhocker dahergekommen war, konnte ich mir weiß Gott nicht erklären.

Unverschämt elegant hatte sich Lorenzo neben mir niedergelassen. Noch immer stierte ich auf die elfenbeinfarbenen Tasten vor mich; seinen erwartenden Blick konnte ich nur spüren. »Ich danke Euch, Prinz.«

Dann hatte ich den fatalen Fehler gemacht und meine Augen dem jungen Mann zugewandt. Mit einem Schlag hatte ich all die unzähligen Stücke vergessen, die ich seit Jahren völlig ohne Noten spielen konnte, ohne auch nur einen Ton zu verfehlen. Vermutlich hätte ich in dem Moment noch nicht einmal eine passable Tonleiter auf die Reihe bekommen. Seine Agen strahlten mich an wie im Sonnelicht glitzernde Tsavorite, welche ebenso filigran geschliffen waren wie Gletschereis. Die typische Musterung seiner Iris in dunklem Grün spannten ein Netz zwischen der Realität und seiner Seele auf.

Und hatte mich darin verfangen wie eine dumme Fliege. Hing zappelnd und hilflos darin.

Ein Entkommen hatte außer Frage gestanden.

Tatsächlich war es erst Lorenzos feines, etwas schiefes Lächeln gewesen, welches mich dazu gebracht hatt, meinen penetrant gaffenden Blick abzuwenden. Meine Wangen hatten ein leichtes Glühen verläuten lassen. »Was wünscht Ihr zu hören?«, hatte ich mich also erkundigt, um meine Verlegenheit zu überspielen.

»Leider kenne ich mich nicht allzu sehr aus«, hatte er gestanden. »Etwas Ruhiges wäre schön, Prinz. Überrascht mich.«

Doch noch immer hatte das Problem bestanden, dass seine Nähe sämtliche Stücke aus meinem Gedächtnis vertrieben hatte. Dass ich die Wärme seines Körpers nun auch an meinem Bein hatte spüren können, war wenig begünstigend. Fieberhaft hatte ich versucht, aus dem hintersten Teil meines Gehirn vielleicht doch noch ein Lied zu erhaschen, aber das Ergebnis war ernüchternd. Es hatte mir partout nicht einfallen wollen.

Gerade hatte ich zu einer Entschuldigung ansetzen gewollt, als ein heftiger Donnerschlag ernut die Nacht zerriss in den Kronleuchter, dessen Lichter zu dieser späten Stunde nicht mehr geleuchtet hatten, bitterlich zittern gelassen hatte. Das Zusammenspiel des hellen Klirren mit den dumpfen Hieb des Wetters erweckte eine lange vergessene Melodie in meinem Kopf.

Rasch hatte sich meine Nervosität verflüchtigt und das Beben meiner Finger gelegt. Ich hatte meine Finger gefasst auf die Tasten gelegt und den ersten Ton angeschlagen. Ton um Ton war gefolgt. Und mit jedem weiteren hatte mich der Klang in seinem Bann gerissen und die Ruhe mich an das Spielen gefesselt. Die Tastenanschläge waren von alleine geflossen, Lorenzos Nähe hatte meine Trance begünstigt.

Klavierspielen glich dem Abgeben der Kontrolle. Zwar war es noch immer ich, der die Töne klingen ließ, doch es dauerte nur wenige Augenblicke, bis ich nicht mehr darüber nachdenken musste, was ich tat. Ich tat es einfach. Meine Finger taten es einfach. Als wüssten sie besser als ich, was sie zu tun hatten.

Und dieses - ja, Aufgeben der Kontrolle entspannte mich ungemein. Es war, als könnte ich wieder frei atmen.

Es fühlte sich ein wenig so an, wie in der Früh an einer Klippe zu stehe. Die Sonne leckte zögerlich am Horizont und die ersten warmen Strahlen streichelten die bunten Blüten der Natur wach. Der Neben in der Schlucht unter mir wabberte fremd wie nahe zwischen den spitzen Felsen der Schlucht unter mir umher, als wollte er die tödliche Gefahr, die ein Sturz darstellte, beschönigend verschleiern.

Und der Wind, der mich frisch umschwebte und die Ruhe in all meine Glieder schickte.

So fühlte sich Klavierspielen an.

Vage hatte ich aus dem Blickfeldrand wahrgenommen, wie fasziniert der Blondschopf auf meine flinken Finger gestarrt und jede Bewegung wie ein Schwamm aufgesogen hatte. Sein süßer Duft nach Honig hatte mich wie eine geborgene Blase umhüllt. Der Moment war unbegreiflich schön gewesen und hatte .einen ganzen Körper kribbeln gelassen.

Das Knallen einer Tür hatte jedoch jäg eben jene Blase unsanft Platzen gelassen, als Solea in den Musiksaal gestürmt war.

»Decembre, wirst du wohl hier bleiben?«, riss mich Aina aus der Erinnerung. »Der Unterricht ist noch nicht beendet.«

Doch meine kleine Schwester kümmerten ihre Worte herzlich wenig. Binnen weniger Sekunden war sie bei mir und kletterte auf meinen Schoß. »Nein, ich möchte lieber Ál beim Spielen zusehen.« Keuchend lehnte die Kleine sich mit dem Rücken an meine feste Brust.

»Eine Prinzessin sollte aber ebenso wissen, wie sie auf einem Ball zu tanzen hat«, hielt Aina gegen, ihr schwarzes Haar war zersaust. Tatsächlich schien es schwieriger zu sein, die Zwillinge zu unterrichten, als sie vermutet hatte. »Deine Schwester übt ganz hervorragend.«

Aleli bewegte sich in der Tat hervorragend zur Melodie meiner Musik. Zuckersüß sah das kleine Mädchen mit den lange, dunklen Locken aus, als sie sich wild drehte und der blaue Rock sich bauschte. Sie drehte sich kichernd schneller.

Decenbre jedoch rutschte jedoch jetzt von meinem Schoß, allerdings nur, um sich neben mich auf den Klavierhocker zu qeutschen. »Ich möchte aber lieber mit Ál Klavier spielen.«

Mit diesen Worlten legte das Mädche ihre kleinen Finger auf die Tasten und stimmte verblüffend perfekt in die Melodie ein. Rasch war ich in die höheren Oktaven gerutscht und meine Schwester übernahm den tieferen Akkord.

Und es klang so gut, dass Aina der Mund nur offen stehen blieb und sie noch nicht einmal ein valides Gegenargument vorbringen konnte.

Eine Bewegung am Eingang zum Musiksaal zog meine Aufmerksamkeit auf sich. Alejandro war latlos in den Raum geglitten und lehnte nun mit verschränkten Armen im Türrahmen.

Decembre schiehn ihren Brunder nun auch bemerkt zuhaben. »Leo! Schau nur, wie schön wie spielen, das hat Ál mir beigebracht«, freute sie sich, was mir ein zartes Lächeln entlockte. Ja, in der Tat hatten wir einige Monde dafür geübt. Aber die Kleine hatte unbedingt so schön spielen wollen wie ich.

Alejandros dunklen Augen blitzten mich an. Ich glaubte, giftgrüne Eifersucht darin zu erkennen. »Doch noch immer gehört dies nicht zu den erforderlichen Qualitäten eines Erben«, knurrte er. »Denk immer daran, Gör.«

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