Kapitel 16
Álvaro
Sein Atem streifte meine Haut wie tanzender Nebel. »Du riechst so gut«, murmelte Lorenzo und vergrub das Gesicht in der Kuhle zwischen Hals und Schulter.
Zufrieden schlang ich meine Arme enger um ihn und legte meine Wange auf sein seidiges Haar. Die Farben des Abends mischten sich kunterbunt auf der Leinwand des Himmels und spiegelten sich in den seichten Wellen des Meeres. Wie eine glühende Orange trat die Sonne ihre Reise zum Horizont an und tauchte das Himmelszelt um sich in Zitronengelb, welches rasch in ein tiefes Rot abglitt, bis sie sich Farben über uns erst in ein zartes Violett wandelten, sodass sie dann zuerst ihren Platz einem zarten Blau abtraten und anschließend hinter uns das Tintenschwarz der Nacht alles Bunte vertrieben hatte. Hier und da Zucker ein Wolkenfetzen über den Himmel, mal dottergelb, mal scharlachrot, mal schweinchenpink.
»Du auch«, seufzte ich glücklich, meine Finger glitten sanft über seinen Rücken.
Wir waren nach der Schule erst zu mir nach Hause gegangen, hatten etwas gegessen, und später zum Strand geschlendert. Mit ein wenig Suchen hatten wir diesen wundervollen Platz inmitten der Dünen gefunden. Einsam schön und erstaunlich versteckt vor neugierigen Blicken.
Obwohl nicht sagen musste, dass wir relativ wenig davon geschenkt bekamen. Anfang war es mir noch sehr schwer gefallen, Lorenzos Hand in der Öffentlichkeit zu halten oder ihn gar zu küssen. Tatsächlich traute ich mich letztes immer noch kaum; das vergangene Woche auf dem Gang war eine Kurzschlussreaktion gewesen. Und in den Tagen danach bereute ich mein Handeln ein wenig. Denn den Moment, in dem ich Lorenzo wieder sah, hätte ich mir rückblickend etwas intimer vorgestellt, und ohne dass Logan mich danach blutig schlug.
Zwar konnte ich sein Handeln durchaus nachvollziehen, dennoch nur aus objektiver Sicht. Der Mann hatte nicht im geringsten eine Ahnung, wie es sich anfühlte, das Wichtigste in seinem Leben an den Tod zu verlieren - das Herz zersplittert und die Seele gebrochen. Und dann steht dieser Mensch plötzlich wie ein Engel wieder vor Einem. Man hat mit einem Schlag wieder genau das, wovon man dachte, es nie wieder zu bekommen.
Allein schon bei Lorenzos Duft könnte ich vor Freude weinen. In den Wochen seit seinem Tod hatte ich mich stets dagegen geweigert, zum Frühstück etwas der Delikatesse Honig zu essen. Zu sehr hatte es mich an meinen verstorbenen Freund erinnert.
Ich hatte ja noch nicht einmal die Chance bekommen, Abschied von ihm zu nehmen, denn eine Beerdigung hatte ich nicht gegeben. Wie auch? Sein toter Körper hatte auf den Grund dieser endlos tiefen Schlucht gelegen, welche mit Klüften und spitzen Felsen gespickt waren. Über den Zustand seiner Leiche hatte ich nicht einmal nachdenken wollen.
Noch schlimmer waren die Ausdrücke in den Gesichtern seiner Familie, als Aquila ihnen das Geschehene schilderte. Cayo hatte sofort angefangen zu weinen und die ganzen Wochen danach weder damit aufgehört, noch ein Wort gesprochen. Es war, als hätte Lorenzos kleiner Bruder die Sprache verloren, als hätte mein Freund sie mit ins Jenseits genommen. Seine Eltern waren mindestens genauso geschockt, wie meine. Seine Mutter hatte deutlich mehr geweint, als ihr Mann. Vermutlich bedauerte er den Verlust einer Chance auf politischen Aufstieg durch Lorenzos Heirat mit Solea.
Und doch war er jetzt hier. Bei mir. Lebendig und quietschfidel.
Einzig allein die Narbe genau in seiner Namensrune und ein Knubbel an seiner Wirbelsäule erinnerten noch immer an das Unglück. In den letzten Tagen war ich so oft über die Rune über seinem Herzen gefahren und immer wieder war ich doch von der Tatsache fasziniert gewesen, dass die vernarbte Haut sich farblich fast vollständig dem Tattoo anpasste. Leider leuchtete sie nur noch schwach, wie Lonrezo mir schmerzlich mitgeteilt hatte. Erst hatte ich ihn das nicht glauben wollen, doch dann war ich vorgestern Morgen Teil des Schauspiels gewesen. Denn die Konturen waren nicht mehr hundertprozentig so, wie sie von der Rune verlangt wurden.
Ich drückte meinem Freund einen Kuss auf den Scheitel. »Darf ich dich etwas fragen?«
»Natürlich.« Schläfrig hob er seinen Kopf.
Statt meine Frage zu formulieren, verlor ich mich in seinen wiesengrünen Augen sie waren so tief, so endlos. Als könnte ich bis auf seine Seele blicken.
Instinktiv beugte ich mich vor und kostete seine Lippen. Lorenzo erwiderte meinen Kuss ohne zu zögern. Da er zwischen meinen Beinen saß, die Schenkel nun meine Hüften gelegt, konnte ich den Mann ausgezeichnet enger an mich ziehen und meine nackte Brust an die seine schmiegen. Auch das ließ er widerstandslos geschehen und kam meinen Bewegungen entgegen.
In meinem Bauch begannen die eisblauen Schmetterlinge zu tanzen und der Staub ihrer Flügel mischte sich in mein Blut wie eine Droge. Wild stob er umher. Meine Finger groben sich hart in seinen Rücken und ich kratzte unbewusst mit meinem Fingernägel über seine Haut. Es waren nicht die ersten Schmauchspuren, die er meinetwegen hatte, am Abend unseres ersten Wiedersehen war sein Rücken blutig gewesen, von den Bissen auf seinem Körper einmal ganz zu schweigen. Meine weißen Laken sahen schlimmer aus als an dem Morgen, an welchem ich mit meine Unterarme aufgerissen hatte, um meine seelischen Schmerzen zu lindern.
Doch Lorenzos Hände hielten auch nicht still. Seine Finger folgten den Konturen meiner Brustmuskeln bis zu meinem Bauch. Dann glitten sie wieder nach oben, was ich nur mit einem Zwischen quittierte, und umschmiegten meinen Kiefer.
Es fühlte sich an wie eine endlose Ewigkeit, bis wir uns wieder voneinander lösten. Unser Atem ging unregelmäßig und viel zu schnell, unsere Wangen waren gerötet.
»Was wolltest du wissen?« brach Lorenzo die Stille und strich mir eine Strähne aus dem Gesicht.
Ich benetzte meine Lippen, an welchen noch die Wärme von ihm wie Honig klebte. »Seit wann bist du hier?«
»Exakt seit dem Tag, an dem ich in die Schlucht gefallen bin.« Seine Mundwinkel zuckten leicht. »Ich bin überrascht, dass du jetzt erst fragst.«
Hatten wir wirklich noch nie darüber gesprochen?
Ein Lachen entwich mir. »Wieso? Wir waren doch anderweitig beschäftigt gewesen«, grinste ich schelmisch. »Aber, wenn du schon so lange hier bist ... wieso sind wir uns seitdem noch nicht über den Weg gelaufen?«
»Ich weiß auch nicht, aufgewacht bin ich hier, am Fuße der Klippen, weich gebettet in den Sand des Meeres«, begann er zu erzählen. »Ich hatte noch Schmerzen; ich fühlte mich wie gerädert und meine Brust blutete. Doch anscheinend war die Wunde nur oberflächlich und die Blutung verebbte recht schnell. In meiner Hosentasche fand ich Schlüssel, als ich mich aufrappelte und instinktiv schien ich zu wissen, wo ich hin musste. Die Wohnung, in der ich jetzt auch wohne. Also bin ich dort hingelaufen.«
»Aber diese Wohnung ist nicht weit von meiner, wir hätten uns über den Weg laufen müssen«, unterbrach ich ihn.
Doch er zuckte nur mit den Schultern. »Ich bin aber gleich am nächsten Tag nach Spanien. Wusstest du, dass die Menschen hier kleine Kugeln haben, die gegen Schmerzen helfen? Ich glaube, sie nennen sie Tabletten.« Lorenzo seufzte. »Und ich vermisse Pferde. Ich musste mit einem Flugapperat nach Spanien fliegen und dort mit sogenannten Bussen und Zügen bis zu deinem Reich. Und was finde ich vor? Nichts. Felder, Plantagen oder Wildnis. Hier und da ein paar Hütten. Nichts von der prächtigen Stadt im Tal, wie wir sie kennen.«
Ich schluckte. »Áskaron ist weg?«, flüsterte ich.
Zu meinem Bedauern nickte Lorenzo. »Leider ja. Ich bin anschließend zu meinem Heimatort gelaufen, in der Hoffnung, zumindest dort unseresgleichen und insbesondere dich zu finden«, fuhr er fort. »Doch auch da war nur karges Gras und ein paar Bäume. So ging ich wieder hier her zurück. Vor cirka zwei Wochen bin ich wieder in diese kleinen Stadt abgekommen.«
Ich konnte es nicht fassen. Bis jetzt hatte ich nicht darüber nachgedacht, ob meine Heimatstadt in dieser Welt existieren könnte. Umso ernüchternder war die Erkenntnis, dass dies nicht der Fall war. Blaugraues Bedauern mischte sich zu den eisblauen Schmetterlingen, die sich in meinem Bauch niedergelassen hatten, und lähmte die armen Tiere.
Mein Zuhause.
Es war weg.
Beklemmung hielt zu dem Bedauern Einzug und auch die Trauer ließ nicht lange auf sich warten. Weg. Ich würde nie wieder durch unser Schloss laufen können. Die steinernen Gänge durchstreifen. Im Musiksaal Klavier spielen. Mich in die Küche stehen und etwas vom Mittagessen stibitzen, wie ich es ab und an getan hatte; in den letzten Jahren mit den Zwillingen zusammen. Nie wieder würde ich aus meinen Fenster die Länderreien und Dörfer um Áskaron beobachten können, während eine sanfte Briese durch meine Haare streifte.
Lorenzo sah mir meine Niedergeschlagenheit an. »Was ist los?«
»Áskaron. Ich werde es nie wieder sehen können.«
Mitfühlend strich er mir über die Wange. »Das tut mir leid«, murmelte er. »Aber du hast immer noch mich. Manchmal ist ein Zuhause auch kein Ort, sondern eine Person.« Lorenzo lächelte. »Du bist mein Zuhause.«
Ein warmes Kribbeln minderte die Trauer in meinem Herzen und ich wollte das Gleiche erwidern. Doch jäh schlich sich ein Bild von einem Mädchen mit ebenso grünen Augen und silbernen Haaren in meinen Kopf und brachte mich ins Stocken.
Lucinda.
Und mit einem Mal zweifelte ich die Person an, die mein Zuhause war.
Erst jetzt fiel mir auf, wie sehr ich sie im den letzten Tagen vergessen hatte. Ich hatte nur Lorenzo im Kopf gehabt und kaum einen Gedanken an sie verschwendet.
Das Mädchen, mit dem ich einige Wochen zusammen war und die mir ihre ganze Welt zu Füßen gelegt hatte. Im wahrsten Sinne des Wortes. Wir hatten nie wirklich Schluss gemacht, ich war einfach mit meinem toten Freund zusammen. Gott ...
»Ál?«, fragte Lorenzo und hinderte mich so an tiefgründigen Grübeleien.
Ich blinzelte. »Verzeih mir, ich war in Gedanken.«
»Du brauchst du nicht entschuldigen. Mal ein ganz anderes Thema. Darf ich etwas fragen?«
»Natürlich, jederzeit«, sagte ich und war froh, dass er nicht weiter nachhakte.
Seine Finger strichen sanft über mein Schlüsselbein. »Ist es bei dir auch so, dass du weniger als halbsoviel Blut brauchst als vor dem Tag, wo du hergekommen bist.«
Erstaunt fing ich seinen Blick ein. »Ja, das stimmt.«
»Aber trotzdem brauchst du noch häufiger Blut als ich.« Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Zaghaft nickte ich.
»Also hast du auch Blut von Tieren getrunken?« erkundigte Lorenzo sich.
Ich riss die Augen auf. »Du hast Tierblut getrunken?«, entfuhr es mir.
Sein Blick wurde schmal. »Natürlich. Es ist nicht halbso nahrhaft wie Menschenblut und es schmeckt einfach nur widerlich. Aber was sollte ich denn tun? Ich kann nicht trinken, wenn die Menschen mich nicht lassen. Und sie können mich nur lassen, wenn sie wissen, was ich bin. Doch da ich es ihnen nicht sagen kann, können diese primitiven Dinger es ja auch nicht wissen.«
Ich sagte nichts. Stattdessen hoffte ich inständig, dass man mir meinen Scham wenig ansah. Tierblut. Natürlich. Wie konnte ich nur so dumm sein? Die Idee war so simpel wie genial. Warum war ich selbst nicht darauf gekommen?
»Ich nehme an, du hast dich nicht von Raben und Ratten ernährt«, stellte Lorenzo bitter mit finsterner Miene fest.
Nur kurz spielte ich mit dem Gedanken, zu lügen. Doch dann besann ich mich eines Besseren. Er hatte die Wahrheit verdient. »Nein, das habe ich nicht. Ich habe Menschenblut getrunken.«
Er rückte von mir ab. »Mit verbundenen Augen?«
Hart schluckte ich. »Nein.«
»Wieso?« Schmerz schoss wie ein Pfeil in seine Augen.
Ich fuhr mir aufgewühlt durch die Haare.»Das war keine Absicht. Ich war fast tot, als sie mir ihr Blut angeboten und mich trinken lassen hat. Ich ...«
»SIE?!« unterbrach der Mann mich fassungslos. »Du hast von einer Hure getrunken?!«
Jetzt wurden sich meine Augen schmal. »Nenn sie nicht so.«
»Ach? Anscheinend hat der Herr mehrfach von ihr getrunken. Und Gefühle entwickelt.«
»Lorenzo, bitte ...« Gott, wieso? Es war doch alles gerade so schön. Hilflose Angst mischte sich wie Eis in meine Adern.
Er rutschte nun vollends von mir weg und griff nach seinem bunten Hemd. »Nein, nicht Lorenzo, bitte. Weißt du, warum ich Tiere als Nahrungsquelle genutzt habe? Ich wollte nicht riskieren, dass sich meine Gefühle ändern. Dass sich meine Gefühle für dich ändern. Was glaubst du, warum ich dich gesucht habe? Stundenlang saß ich in diesem Flugapperat und dachte, ich würde sterben. Ich bin durch die brennende Hitze in Spanien gelaufen. Um die halbe Welt bin ich für dich gereist, am Leben gehalten durch abscheulichen Viehblut. Und du Hurensohn trinkst einfach vom nächstbesten Weib ohne Vorkehrungen zu treffen.«
»Lor-...« Alles Blut war mir aus dem Gesicht gewichen.
Er raffte sein Zeug zusammen. »Vergiss es. Ich will dich nicht mehr sehen. Geh doch zu deiner Hure! Nie hätte ich sowas von dir erwartet.« Mit diesen Worten sprang der Mann wütend auf und stapfte davon.
Ich war zu schwach, um ihn nachzulaufen. Mit einem Mal wurde mir klar, wie sehr er doch Recht hatte: Ich hätte einen anderen Weg finden müssen. Egal, wie.
Das Problem war nur, dass ich es nicht im Ansatz bereute. Tief drin war ich dankbar, Lucinda kennengelernt zu haben und ihr Blut kosten zu können. Und irgendwie musste ich mir dich eingestehen, dass ich dieses Mädchen vermisste.
»Scheiße!«, fluchte ich und schlug auf den sandigen Boden.
Das tat ich eine Weile, bis sich die plötzlich aufgekeimte Wut wieder etwas legte. Dann starrte ich minutenlang einfach nur stumm vor mich hin.
Ein Wunsch drängte sich in mein Bewusstsein. Wie schön wäre es gewesen, Lucinda Áskaron zu zeigen? Seine seine ganzen Gassen und Schlupflöcher. Die Verstecke. Die Ländereinen und Dörfer. Den Wald und die Natur. All das hätte ich mit ihr erkunden können. Und ich war mir sicher, es hätte dem Mädchen gefallen.
Natürlich hätte es das. Schließlich hatte sie diese Welt geschrieben. Trotzdem war es ein schöner Gedanken.
Inzwischen war es finster. Schon seit einiger Zeit. Schnell hatten sich die Farben des Abends verabschiedet und dem dunkeln Gewand der Nacht platzgemacht. Der Wind frische auf, trotzdem war der Abend noch warm so warm, dass ich kurz mit dem Gedanken spielt, in die kühlen Fluten zu springen, um das schlechte Gewissen wegen Lorenzo zu ertränken. Tatsächlich schämte ich mich sehr dafür.
Allerdings klärte es auch meinen Kopf.
Doch bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, erblickte ich im Sternenlicht eine zarte Person, die durch den Sand huschte, wenige Meter vor dem Ufer stehen blieb und sich rasch bis auf die Unterwäsche auszog. Anschließend ging sie zaghafter als zuvor weiter und watete langsam in die Wellen.
Ihre silbernen Haare tanzten in der kühlen Briese.
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