Kapitel 14

Lucinda

Es fühlte sich an wie Schwerelosigkeit. Ich konnte meine Gliedmaßen kaum spüren, stattdessen wurde ich das Gefühl nicht los, in Wasser zu schweben. Auf Wasser. Durch Wasser. Dunkelheit umhüllte mich wie schwere Schleier. Ich fühlte mich frei, ungebunden. Weit wie der tiefe Ozean und trotzdem zart wie eine Feder. Ich konnte alles sein. Die Weite des Himmels und die Stetigkeit eines jahrhundertalten Baumes. Ein feiner Lufthauch und die ganze Gewalt eines Gewitters. Flüchtig wie ein besonderer Moment.

Es war unbeschreiblich, als wäre ich gleichzeitig weg und doch da.

Doch dieser paradiesische Zustand hielt nicht lange an. Erst verschwand die Schwerelosigkeit, dann spürte ich nach und nach meinen Körper wieder.

Mit der Zeit nahm ich meine Umwelt wieder wahr. Ich schien seitlich auf etwas Weichem zu liegen, vermutlich ein Bett. Auch wenn ich neugierig war, ließ ich meine Augen vorerst geschlossen und regte mich nicht. Der seidige Stoff der Decke schmiegte sich sanft um meine Beine bis hoch zu meinem Kinn und kitzelte mich an der Hand.

Mir war warm. Nicht zu warm, aber auch definitiv nicht zu kalt. Es war schön. Mit einem Mal fühlte ich mich geborgen.

Jäh näherten sich Schritte. Sie waren dumpf, derjenige trug keine Schuhe und wahrscheinlich auch keine Socken. Dennoch bewegte die Person sich fast lautlos. Vor dem Bett schien sie zu stoppen, kurz war Ruhe. Dann senkte sich das Bett, als derjenige sich nah bei mir auf die weiche Matratze setzte.

Ich wagte nicht, mich zu rühren. Denn bis jetzt wusste ich weder, wo ich war, noch, was passiert war. Und wie ich hier her kam.

Nur schwer konnte ich eine Reaktion unterdrücken, als warme Finger behutsam nach meinem rechten Unterarm griffen. Sanft hob die Person meine Hand an und schob die Decke ein Stück weg. Er jetzt bemerkte ich die Schmerzen in meinem Handgelenk und an meinem Hals. Verdammt, was hatte ich gemacht? Leise Panik kroch in mir hoch.

Als etwas Nasses, Warmes jedoch die Innenseite meines Handgelenkes berührte und vorsichtig über die schmerzende Stelle fuhr, rutschte mein Herz tief in meine Hose. Mein Puls flatterte.

Die Person legte meine Hand vorsichtig wieder auf das Bett und denkte sie zu. Kurz geschah wieder nichts, dann kitzelte mich etwas an der Wange, ich tippte auf eine Haarsträhne, dann glitt das Warme, Nasse auch über meinen Hals, genau da, wo es wehtat.

Der zarte Duft von verregneter Winternacht und etwas Thymian umwehte mich und mit einem Mal wusste ich wieder, was passiert war.

Álvaro war ein Vampir. Und er hatte mich gebissen.

Mein Herz schlug mir prompt bis zum Hals, ich wagte nicht, mich auch nur einen Zentimeter zu bewegen. Er erhob sich wieder von dem Bett und seine Schritte entfernten sich. Eine Weile war Ruhe, dann zerschnitt eine sanfte Melodie die Stille. Erst waren es nur wenige Töne, dann verschwammen sie zu einem Lied. Oder viel mehr einem Gefühl. Sehnsucht. Trauer. Unterschwängliche Wut und Frustration. Angst. Aber auch Hoffnung.

Ich brauchte ein paar Sekunden, bis ich begriff, dass Álvaro gerade Klavier spielte.

Die Schmetterlinge begannen in meinem Bauch zu tanzen und mein Puls beschleunigte. Verdammt, wieso hatte ich Álvaro Klavier spielen können lassen, wenn ich selbst doch eine verdammt große Schwäche dafür hatte? Manchmal trotzte ich wirklich nicht von sonderlich guten Ideen.

Obwohl mir Álvaro im Nachhinein betrachtet wirklich sehr gut gelungen war. Leider.

Vorsichtig illerte ich durch meine halb geschlossenen Augen, erst als ich sicher war, dass er nicht in dem Raum war, wagte ich, sie ganz zu öffnen. Möglichst lautlos setzte ich mich auf. Die dünne, weiße Decke rutschte von meinem Oberkörper und warf in meinem Schoß Falten.

Ich sah mich um. Der Raum war schlicht in neutralem Weiß gestrichen, das Bett stand in der linken, hinteren Ecke, von der Tür aus betrachtet. Das Fenster war in der Wand gegenüber von dem Kopfende des Bettes. Orangenes Morgenlicht flutete das Zimmer. Wenn man zur Tür rein kam, war links ein hoher schwarzer Schrank, rechts hatte nur eine Topfpflanze Platz. Gleich neben dem Bett stand ein kleiner Nachttisch, ich brauchte ein paar Sekunde, bis ich erkannte, dass sowohl mein Handy als auch meine schwarze Brille darauf lagen.

Geräuschlos griff ich danach. Mit Brille sah ich gleich viel besser und mein Handy war unversehrt und ging an.

Ich streckte die Beine aus dem Bett und stellte sie auf den weichen Bettvorleger. Meine Zehen gruben sich in den weißen Flausch, der einen scharfen Kontrast zu dem dunkelbraunen Boden bildete. Erst jetzt fiel mir auf, dass ich kaum etwas anhatte. Meine Beine waren nackt, ich trug nur noch meine weißen Söckchen. Auch der BH und die schwarze Unterhose gehörte mir.

Aber definitiv nicht der riesige, schwarze Pulli. Ich hing in dem Teil wie ein Schluck Wasser. Er war mir viel zu groß und reichte mir fast bis zu meinen Knien. Daher waren auch die Ärmel viel zu lang; links schauten gerade einmal meine Fingerspitzen raus. Rechts jedoch war der Stoff hochgekrempelt, sodass mein Handgelenk gut zu sehen war.

Ebenso wie die Bisswunde.

Allerdings war sie fast vollständig verheilt. Man konnte die Verletzung nur noch durch die hellroten Zahnabdrücke und einem leichten Hämatom erahnen.

Reflexartig zuckten die Finger meiner linken Hand zu meinem Hals. Aber auch hier konnte man die Wunde kaum spüren. Zwar verunstaltet noch etwas Schorf meine weiche Haut, doch wenn man einmal daran dachte, wie tief Álvaro seine Fänge in meiner Kehle gehabt hatte, war es nahezu harmlos.

Und ich war mir sicher, dass die Verletzungen beide spätestens heute Mittag verheilt waren. Denn genau deshalb hatte Álvaro mich wahrscheinlich abgeleckt, so widerlich das jetzt klingen mochte. Sein Speichel beschleunigte die Wundheilung ungemein.

Vorsichtig krempelte ich den rechten Ärmel runter. Anschließend hob ich beide Hände, verdeckt von dem Stoff, und vergrub meine Nase darin.

Am liebsten hätte ich mich seufzend nach hinten fallen lassen. Es war definitiv Álvaros Pullover. Nur er duftete so, nach kalter, klarer Winternacht, nach vergangenem Regen, nach einem Hauch von Thymian.

Schnell ließ ich meine Hände sinken, bevor meine Sinne mit mir durchgingen.

Allerdings wurde mir erst jetzt bewusst, wie ich in den Pulli gekommen war. Denn einfach so ging das nicht. Blut stieg mir in die Wangen, als mir klar wurde, dass Álvaro mich ausgezogen und mich dann in den Pullover gesteckt haben musste. Mein Gesicht glühte und ich war dankbar, dass ich wenigstens heute einheitlich schwarze Unterwäsche trug.

Ganz kurz schlich sich der Gedanke in meinen Kopf, dass der Vampir meine Situation ausgenutzt haben könnte, so in Richtung sexueller Vergewaltigung, doch ich verwarf ihn wieder. Das würde Álvaro niemals machen, er war noch von der alten Schule.

Außerdem war ich dafür verantwortlich, dass er noch lebte und seine Leiche nicht in der Gasse vor sich hingammelte.

Ein Schauer lief mir über den Rücken hinunter.

Vorsichtig stand ich auf. Die Flauschen des Bettvorlegers kribbelten zart. Möglichst ohne ein Ton zu machen, tapste ich zur Tür. Sie war nur angelehnt. Ich zog sie ein paar Zentimeter auf.

Álvaro spielte noch immer Klavier. Seine dunklen Strähnen fielen im sanft gelockt über seine Schultern, links hatte er sie sich hinter Ohr gestrichen. Ganz leicht war sein Oberkörper nach vorn gebeugt, das weiße Hemd spannte etwas, und die schlanken Finger tanzten bestimmt über die Tasten. Es faszinierte mich immer wieder auf's Neue, wie sehr manche Menschen in Musik verschwinden können, sie fühlen, sie leben.

»Du bist wach.«

Ich zuckte zusammen. Álvaro hatte sich weder bewegt, noch sich sonst irgendwie etwas anmerken lassen. Ja, nicht einmal aus dem Takt war er gekommen.

»Ja«, antwortete ich unsicher und auf einmal schämte ich mich, dass ich hier ohne Hose stand. Ich meine, sein Pulli war lang genug, um alles zu verdecken, aber trotzdem.

Langsam ließ er die Melodie ausklingen, die Töne wurde leiser, bis das Lied vollständig verklungen war. Einen Moment blickte er mich an, musterte mich gerade zu. Seine dunkelbraunen Augen glühten auf eine Art und Weise, wie ich es noch nie gesehen hatte.

Dann stand er geradezu lautlos auf. »Hast du Hunger?«

Unsicher nickte ich. »Hm.«

Álvaro ging durch das Wohnzimmer und bedeutete mir, ihm zu folgen. Zaghaft tapste ich ihm hinterher, am Sessel aus dunklem, fast schwarzem Leder vorbei in die offene Küche.

»Setz dich.« Er deutete auf die beiden Stühle an der Kochinsel. Seine Stimme war gelassener und leiser, als in der letzten Woche. Irgendwie komplett befriedigt und innerlich ruhig. Der Vampir gefiel mir so ehrlich gesagt sogar noch besser.

Schüchtern rutschte ich auf einen der weißen Stühle und legte meine Arme auf die Platte. Das dunkle, nahezu schwarze Holz war glatt. Ich konnte nicht sagen wieso, aber auch wenn ich in dieser Wohnung das allererste Mal war, fühlte ich mich hier verdammt geborgen. Sicher.

Zu Hause.

»Omlett?«

Mein Magen knurrte ungeduldig. »Ja, gern«, murmelte ich, während das Blut mir in die Wangen stieg.

Álvaro kramte in einem der Schränke und holte eine Pfanne heraus, welche er auf das Zeranfeld stellte. Anschließend nahm der Vampir sich ein paar Tomaten von Hinten aus der Schale neben dem Kühlschrank und kam ein Stück in meine Richtung, um sie abzuwaschen. Fasziniert starrte ich auf seine großen, gepflegten Hände, während er die roten Früchte gewissenhaft unter dem Wasser reinigte. Kurz darauf legte er die Tomaten links neben dem Herd auf die Anrichte, holte sich ein Brettchen und ein scharfes Messer und begann, das Gemüse in kleine Stückchen zu schnippeln.

»Soll ich dir etwas helfen?«, erkundigte ich mich zaghaft.

»Nein, alles gut. Bleib ruhig sitzen.« Álvaro war mir den Tomaten fertig, legte das Messer nieder und ging zum Kühlschrank, um eine Packung Eier zu holen. Auf dem Rückweg schnappte er sich noch ein paar Kräuter aus dem kleinen Töpfchen neben der Obstschale. Das Grünzeug schnitt der Vampir säuberlich klein und suchte dann nach Öl. Bedacht tropfte er etwas davon in die Pfanne und machte den Herd an.

Keiner sagte auch nur ein Wort. Ich für meinen Teil war einfach nur verdammt unsicher und hatte keine Ahnung, womit ich ein Gespräch beginnen sollte. Warum allerdings Álvaro so ruhig war, wusste ich nicht.

Als das Öl heiß vor sich hin brutzelte, schlug der Mann drei Eier nacheinander in die glühende Pfanne, gab die Tomaten und Kräuter dazu und suchte rasch eine Kochlöffel zum Umrühren. Während Álvaro dafür sorgte, dass mein Rühreiomlett nicht anbrannte, musterte ich ihn von hinten. Gewissenhaft würzte er das Ei mit Salz und Pfeffer.

Es war erstaunlich, was so ein bisschen Blut alles bewirken konnte. Der Vampir wirkte im Gegensatz zu vorgestern viel, viel besser. Er stand aufrechter und fester, irgendwie viel aufmerksamer und reaktionsbereiter. Das weiße Hemd und die dunkle, zerrissene Hose standen ihn ausgezeichnet, Socken trug er nicht. Seine Haare locken sich sanft bis ungefähr zu seinen Schulterblättern, ich konnte die zart definierten Muskeln unter seinem Hemd durchschimmern sehen.

So richtige Locken hatte Álvaro eigentlich nicht, zumindest nicht solche Korkenzieherlöckchen. Es war eher eine Mischung aus Wellen und weichen Locken. Schwer zu beschreiben.

Ruckartig drehte der Vampir sich um und zog einen Teller aus einer Schublade. Anschließend drapierte er mein Rühreiomlett darauf, krümelte etwas Petersilie darüber, die noch von vorhin übrig war, und stellte mir den dampfenden Teller vor die Nase. In der gleichen Bewegung griff er in den Besteckkasten und schob mir eine Gabel hin.

»Guten Appetit, lass es dir schmecken.« Seine dunklen Augen ruhten auf mir. »Orangensaft?«

»Danke, ja gerne.« Ich spießte ein Stück Ei mit Tomate auf und schob es mir gierig in den Mund, nur um eine Sekunde später die Gabel halb fallen zu lassen, da das Ei natürlich noch kochend heiß war und ich mir den Mund nach allen Regeln der Kunst verbrannte.

Álvaro hatte das beobachtete und konnte ein Grinsen nicht unterdücken. »Vorsichtig, heiß.«

Ja, ach nee.

Aber allein für dieses halbe Lächeln hätte ich mir glatt den Mund noch einmal verbrannt. Gott, wieso hatte ich ihn nur so attraktiv gemacht? Innerlich schmolz ich dahin, sodass ich gar nicht bemerkte, wie Álvaro mir meinen Orangensaft machte. Erst als er mir das Glas hinstellte, nahm ich es wahr. Selbst füllte der Mann sich etwas Leitungswasser ins Glas und nippte daran, während er sich gegenüber von mir mit beiden Ellenbogen auf der Anrichte aufstützte.

Schweigend aß ich mein Omlett, auch wenn ich diesmal vorsichtiger war und immer brav pustete. Es schmeckte himmlisch. Dafür, dass die de Salvatores eine Köchin hatten, hatte Álvaro das ausgezeichnet hinbekommen.

Aber er war schon immer anders als seine Geschwister gewesen. Alejandro beispielsweise kostete seine Machtposition voll aus und wäre als Herrscher grausam gewesen. Er liebte es, sich bedienen zu lassen, stauchte die Angestellten jedes Mal zusammen, wenn etwas nicht exakt nach seinem Willen ging und hielt sich für etwas Besseres. Zwar war er nicht so mächtig, wie sein großer Bruder, doch er bekam seine vampirischen Gaben deutlich öfter als Álvaro. Das lag wie bei allen Vampiren aus der Welt meines Romanes an seinem Namen. Alejandro Dyane Elio de Salvatore. Dyane Elio bedeutete dunkle Sonne. Wo ein die Sonne hier auf alle Sterne bezogen war, da sie eben auch Sonnen für ein anderen Sonnensystem waren. Demzufolge färbten sich seine Augen in sternenlosen Nächten tintenschwarz und nur ein dünner weißer Ring trennte die Iris von der Pupille. Trank er in solchen Nächten, waren die Augen dunkelrot, der schneeweiße Ring blieb jedoch.

Und sternenlose Nächte kamen deutlich öfter vor als Vollmonde.

Alejandro war theoretisch mächtiger, weil er seine Gaben öfter nutzen konnte, aber praktisch war Álvaro der Erstgeborene und hatte mehr Runen.

Komplizierte Angelegenheit also.

Aber auch wenn die Brüder sich vom Aussehen her so gut wie glichen, einzig und allein die Haarlänge bildete den deutlichsten Unterschied, bei Alejandro reichten sie nur bis zur Schulter, waren die beiden in vielen Dingen komplett unterschiedlich.

»Du hast mir gestern das Leben gerettet«, riss Álvaros leise Stimme mich jäh aus meinen Gedanken. »Ist dir das bewusst?«

Überrumpelt starrte ich ihn an und ließ die Gabel sinken. Ich wollte etwas sagen, doch bekam kein Wort heraus.
Denn jetzt wurde es verdammt kompliziert. Natürlich wusste ich alles über den Vampir, allerdings war ich begründeterweise der Überzeugung, dass es besser war, dumm zu tun. Ich konnte es ihm nicht sagen. Er würde mich hassen. Zurecht.

»Wie meinst du das?«, würgte ich hervor und konzentrierte mich mit einem Mal mehr als nötig darauf, mein Omlettrührei zu essen.

Er hatte sich inzwischen mit den linken Unterarm aufgestützt, der rechte Ellenbogen stand ebenfalls auf der Anrichte in in seiner Hand schwenkte er vorsichtig sein Glas mit Wasser, als wäre es Whisky. Ich konnte die nicht vorhandenen Eiswürfel förmlich klimpern hören. »Nun ja, ich denke, du hast gestern mitbekommen, dass ich von dir getrunken habe und kein Mensch bin.«

Ich würgte das leckere Ei runter. »Also ... bist du ein Vampir?«

Álvaro nickte und nippte an seinem Wasser. »Das ist richtig.«

Ich schluckte und starrte auf meinen Teller. Stumm kaute ich auf meinem Essen. Eine Weile sagte keiner etwas.

Dann ergriff Álvaro das Wort. »Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie unglaublich leid mir mein Verhalten von gestern tut.« Seine Stimme brach.

Als ich aufsah wurde mir schlecht. Álvaros Blick triefte vor Reue. Ehrlicher Reue. Und Schuld. Sein Kiefer hatte sich vor Wut, wahrscheinlich auf sich selbst, verkrampft.

»Was meinst du?«, wollte ich verwirrt wissen.

Sein Kehlkopf hüpfte, als er schluckte. »Ich hätte dich gestern fast umgebracht.«

Entsetzt starrte ich ihn mit großen Augen an. »Was?«

Mit einem Schluck trank er das Glas leer, stellte es hart auf der Anrichte ab und fuhr sich mit beiden Händen durch die dunklen Haare. »Ich ... es tut mir leid. Ich habe die ganze Woche kein Blut gehabt, und eigentlich brauche ich es täglich. Ich war einfach komplett ausgehungert. Und ... Naja, die meisten Menschen bekommen Panik, wenn sie merken, wie viel wir trinken und blockieren uns dann. Somit kann es uns eigentlich gar nicht passieren,dass wir jemanden töten.« Er holte tief Luft. »Aber du hast du dich gar nicht gewehrt. Nicht einmal ein bisschen. Ich weiß nicht einmal, wie lange du schon bewusstlos warst, als ich bemerkt habe, dass du dich nicht mehr bewegst. Du kannst dir nicht vorstellen, wie leid mir das tut.« Er klang auf eine Art und Weise verzweifelt.

Wow. So viel hatte ich ihn glaube noch nie am Stück reden hören. Respekt an der Stelle.

»Warte, ich verstehe das nicht ganz. Wie meinst du das, dass eure Opfer euch blockieren? Und wieso euch? Gibt es etwa noch mehr von dir?«

Álvaro seufzte. »Heißt das, dass es hier gar keine Vampire gibt?«

»Natürlich, das Magischste an dieser Welt ist, wenn man Mathe versteht.« Ich biss mir auf die Zunge. Das war so ziemlich das Ehrlichste an diesem Gespräch.

»Ich habe es geahnt. Verdammte Scheiße.« Der Vampir erhob sich, allerdings nur, um eine Schritt nach hinten zu gehen, sich an der Arbeitsplatte abzulehnen und die Arme zu verschränken. »Aber ... Woher hast du gewusst, dass ich ein Vampir bin?« Seine Augenbrauen zogen sich zusammen und sein Blick wurde wachsam und durchdringend.

Ich schluckte. »Du hast meine Fragen nicht beantwortet.« Angriff war immer noch die beste Verteidigung.

Álvaro atmete tief durch. »Ja, da wo ich herkomme, gibt es Vampire. Und wir können nur freiwillig gegebenes Blut trinken. Frag jetzt aber bitte nicht, warum ich hier bin oder wie ich hier her gekommen bin.« Er machte eine kurze Pause. »Zu deiner anderen Frage. Weißt du noch, als du dich gestern erschrocken hast, als ich an deinem Handgelenk war?« Ich nickte zaghaft. »Ja, ich hab dich losgelassen, weil du dich innerlich geweigert hast, mir dein Blut zu geben und deshalb konnte ich es nicht schlucken. Und jetzt meine Frage. Woher wusstest du, was ich war?«

Ich legte meine Gabel auf den Teller. Inzwischen hatte ich aufgegessen. »Ich wusste es nicht. Aber ich habe deine Unterarme gesehen. Die Wunden konnten nicht von einem Tier stammen. Und da es dir die letzten Tage immer schlechter ging, habe ich Eins und Eins einfach zusammengezählt.« Unschuldig zuckte ich mit den Schultern.

Statt einer Antwort musterte er mich. Tief. Durchdringend. Wachsam. »Ich denke, dann habe ich es deiner Kreativität zu verdanken, dass ich noch lebe.«

Ein Kichern stieg meine Kehle hoch. »Ich bin nicht kreativ.«

Spöttisch hob er eine Augenbraue. »Wie du meinst.« Wieder etwas ruhiger stieß Álvaro sich von der Arbeitsplatte ab und nahm mir den Teller und die Gabel ab, um beides in die Spülmaschine zu stellen. »Hat es dir geschmeckt?«

Ich nickte. »Ja, du kannst gut kochen.«

Es entwischte ihm ein kleines, leises Lachen, welches mir prompt eine Gänsehaut bescherte. »Das war nur ein verunglücktes Omlett. Ich kann nicht kochen.«

Jetzt grinste ich. »Wie du meinst.«

»Ja«, sagte er und klappte die Spülmaschine wieder zu. Noch immer glänzte dieses Lächeln auf seinen Lippen. Ich konnte gar nicht beschreiben, wie attraktiv es an ihm aussah.

Es war erstaunlich. Als ich meinen Roman geschrieben hatte, hatte ich tausende Worte für ihn gefunden, doch als er hier so vor mir stand, war ich geradezu sprachlos.

»Warum erzählst du mir eigentlich das alles über dich?« Ich legte den Kopf schief. »Ich meine, ich könnte damit zur nächsten Presse rennen und du wärst schneller unter irgendeinem Skalpell in einem Versuchslabor, als du mit dem Finger schnipsen kannst.«

Álvaro hatte sich wieder mir gegenüber mit dem Hintern an die Arbeitsplatte gelehnt und musterte mich mit verschränkten Armen. »Wie ich bereits sagte. Du hast mir das Leben gerettet. Ich bin dir etwas schuldig.«

»Ist das der Grund, warum ich deinen Pulli anhabe und meine Verletzungen fast komplett verheilt sind?«

Er nickte. »Deine Sachen sind in der Wäsche, in der Hoffnung, dass das Blut rausgeht, und mein Speichel beschleunigt die Wundheilung. In ein paar Stunden dürfte nichts mehr zu sehen sein.«

Ich schluckte. »Ok. Danke. Darf ich was fragen?«

»Natürlich.«

»Hast du versucht, von Jean zu trinken?«

Überrascht blicke Álvaro mich an. »Was?«

»Du hast mich verstanden.«

Der Vampir schluckte und führt sich wieder nervös durch seine langen, dunklen Haare. »Okay, ich hab es ausgetestet. Aber er mag es nicht, wenn man an seinen Hals knabbert. Ich dachte zu dem Zeitpunkt noch, dass man hier an meinen Runen erkennen würde, dass ich kein Mensch bin.«

Oh mein Gott.

»Deshalb bist du also mit ihm nach Hause.«

»Ja.«

»Du hättest ihm doch einfach davon erzählen können, dass du ein Vampir bist und sein Blut brauchst.«

Mir war durchaus klar, dass ich mir so gut wie alle Fragen sparen konnte, weil ich die Antworten eh kannte. Aber er wusste nicht, dass ich es wusste. Deshalb musste ich zumindest so tun als ob.

Ja, ich war ein schrecklicher Mensch. Schande über mein Haupt.

»Ich kann niemanden sagen, dass ich ein Vampir bin, und nur wenn derjenige weiß, was ich bin und mir sein Blut freiwillig gibt, kann ich trinken.«

»Oh. Ach so.«

»Ja.«

Ich dachte kurz nach. »Also bin ich die Einzige, von der du Trinken kannst.«

Nach kurzem Zögern nickte Álvaro. »Leider ja. Das heißt natürlich nicht, dass du das musst. Hör zu. Ich hab gestern gemerkt, dass du ein Problem damit hattest, dass ich dich gebissen habe. Noch größer ist daher mein Respekt an dich, weil du mich trotzdem hast trinken lassen. Darf ich fragen, was mit dir ist?«

Eigentlich wollte ich es ihm nicht sagen, doch er beantwortete mir schließlich aus jede Frage. »Ich hasse es, wenn etwas durch meine Haut sticht oder so. Hab da panische Angst davor, weil ich das Gefühl nicht ausstehen kann.« Ich zuckte mit den Schultern.

»Trotzdem hast du mich an deine Vene gelassen.«

»Sieht so aus.«

Verführerisch strich er sich die Haare auf der linken Seite wieder hinters Ohr. »Ich brauche Blut. Es muss nicht viel sein. Ein paar Mal in der Woche ein paar Tropfen reichen vollkommen aus. Aber ich werde dich nicht dazu zwingen. Dazu habe ich nicht ansatzweise das Recht, nachdem, was du für mich getan hast.«

»Fragst du mich gerade ernsthaft, ob ich dein Blutbeutel sein will?« Fassungslos starrte ich ihn an. Aber ich meine, andererseits, was hatte ich erwartet?

Frustriert fuhr er sich durch die Haare. »Nein. Ja. Ach keine Ahnung. Ich weiß es nicht.«

„Angenommen, ich sage nein, stirbst ist du dann?«

Álvaro seufzte und blickte mich fest an. »Ja.«

Ich biss mir auf die Zunge. Schon bei dem Gedanken daran, dass er mich wieder beißen würde, zog sich alles in mir schmerzhaft zusammen. »Ich denke, da habe ich keine Wahl«, stellte ich bitter fest. »Wo ist dein Bad? Ich muss mal.«

Ohne ihn anzusehen rutschte ich von dem Stuhl. Allerdings gefiel das meinem Kreislauf überhaupt nicht. Mit einem Schlag war mir schwindelig und einen Augenblick später kam mir der Boden entgegen.

»Hey, pass auf. Nicht so stürmisch.« Es war Álvaro zu verdanken, dass mein Kopf nicht Kontakt mit dem Boden machte. Ich wusste nicht, wie er es schaffte, doch mit einem Mal packten seine Hände mich an der Taille und ließen mich vorsichtig auf den Boden sinken, sodass ich saß. Besorgt kniete er sich vor mich und strich mir meine offenen, grauen Haare links hinter's Ohr. Eine kleine Geste, die die Schmetterlinge in meinem Bauch gefährlich aufflatterte ließ.

„Alles okay bei dir? Wahrscheinlich hast du doch zu viel Blut verloren.« Gott, es war nahezu herzzerreißend, wie sehr er sich um mich sorgte.

»Ja, geht schon wieder«, beruhigte ich ihn.

»Bist du sicher? Verdammt, ich hätte mich gestern besser beherrschen sollen.« Reue schwang in seiner Stimme mit.

»Es ist alles gut, mach dir keine Vorwürfe. Mein Kreislauf ist eh nicht der beste.«

So richtig überzeugte das Álvaro allerdings nicht. Als ich aufstand, half er mir und seine Finger verweilten an meiner Taille. Meine Hände hatte ich jeweils auf seine warmen Unterarmen gelegt.

Dann fiel mir jedoch wieder ein, wie diese gestern Abend ausgesehen hatten. Hastig löste ich meine Hände. »Sorry, ich wollte dir nicht wehtun«, entschuldigte ich mich betroffen.

»Stütz dich ruhig ab, von gestern Nacht ist alles wieder komplett verheilt«, murmelte der Vampir.

Zaghaft legte ich meine Finger wieder auf seine angenehm kräftigen Unterarmen. Ich konnte die zart definierten Muskeln unter dem Stoff spüren.

Als ich aufsah, merkte ich, wie sein Blick auf mir lag. Schwer. Durchdringend. Sofort beschleunigte mein Herzschlag. Jäh wurde mir bewusst, wie nah wir uns waren, nur wenige Zentimeter trennten und und ich konnte die Runen auf seiner Brust, die unter dem hellen Hemd am Kragen durchschimmern, weil Álvaro die oberen Knöpfe will offen gelassen hatte, deutlich erkennen.

Verdammt, ich konnte sogar zart seinen Atem spüren.

Sein Griff an meiner Taille verstärkte sich fast unmerklich und der Vampir spannte den Kiefer an. »Das Bad ist den Flur entlang die erste Tür links vor der Garderobe«, flüsterte Álvaro und löste widerstrebend seine Hände von mir.

Ich schluckte hart und trat einen Schritt zurück. »Danke«, würgte ich hervor.

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